Die da unten sieht man nicht
19.09.2006 um 00:56
BOHREN IN EINER ANDEREN WELT
Kirsten Falk (38), Berlin, Zahnärztin:
Einmal wollte jemand dringend die Frau Doktor sprechen. Sie kam durch den vollenWarteraum, nahm den Telefonhörer ans Ohr, stützte sich auf den Stapel Patientenkarten.Der Mann stellte sich vor. Er war aus dem Team von Johannes B. Kerner. Er sprach, alshätte sie das große Los gezogen.
„Kerner, Kerner … Ist das so eine bunteMittagsshow?“, fragte Kirsten Falk. „Dann komme ich nicht.“ Der Mann muss nach Wortengesucht haben, die der Frau, die scheinbar völlig woanders unterwegs war, unsereTalkshowwelt erklärten. Er fand keine. Er sagte: „Kerner, das ist doch der Biolek desZDF.“ Sie fuhr dann nach Hamburg in die Sendung. Sie hatte Lampenfieber, obwohl fast alleLeute ihr eigentlich immer dieselben Fragen stellen: Warum machen Sie das? Was sind dieObdachlosen für Menschen? Was für Krankheiten haben die? Ekeln Sie sich nicht vor denen?
Ekel, das ist auch irgendwie kein passendes Wort. Kirsten Falk soll vonSchicksalen berichten. Niemand will trockene Zahlen. Die Berliner Ämter zählen neun- biszehntausend Menschen ohne Wohnadresse. Bei der MUT Gesellschaft für Gesundheit, einemgemeinnützigen Unternehmen der Berliner Ärztekammer, das in der Stadt zwei Arztpraxen fürdiese Menschen betreibt, meint man, dass es mehr Obdachlose gibt. Hinter den trockenenZahlen verbirgt sich modriges Gelände. Berlin, Deutschland müsste Obdachlosigkeitverhindern, anstatt sie zu registrieren. Anstatt bestenfalls an ihr herumzudoktern.
Im Flur vor den Arztpraxen gegenüber dem Berliner Ostbahnhof hat jemand einAdventsgesteck aufgestellt. Bald ist Weihnachten. Man zündet Lichter an, überall dort, woes Sinn hat, weil der Wind die Lichter nicht gleich wieder ausweht. Viele Obdachlose, diedas Haus am Stralauer Platz betreten, kommen gar nicht bis in den weihnachtlichen Flur.Sie biegen am Eingang nach links zur Küche ab, um Essen zu holen. Sie frieren, habenHunger, wollen sich waschen. Sie sind gewiss nicht ohne Beschwerden. Aber um eineKrankheit zu spüren, müsste ihr Leben sich insgesamt gesünder anfühlen.
Manchmalkommen der Doktor und eine Schwester zur Küche und reden auf die Obdachlosen ein. Dieschlurfen dann grummelnd mit nach hinten zur Arztpraxis, lassen sich überreden,wenigstens mal den Blutdruck zu messen. Der Doktor findet noch mehr, was nicht in Ordnungist. Er schickt sie nach nebenan zur Zahnärztin.
In jedem Mund, in den sie nunschaut, gibt es für Kirsten Falk eine Menge zu tun. Sie kann nur helfen, wenn diePatienten, aus deren Leben sich Datum und Uhrzeit verflüchtigt haben, nach dem ersten Malwiederkommen. Wenn sie dann nicht allzu sehr wanken vom Alkohol. Wenn ihr Kreislauf beider Anästhesie nicht zusammenbricht. Die Zahnärztin ist kleiner als die meistenObdachlosen, überwiegend Männer, die sie per Knopfdruck auf dem Behandlungsstuhl in dieWaagerechte befördert. Sie berlinert wie das Mädchen von nebenan, wirft mit burschikosenFloskeln, rafft ihre Haare zu einem schaukelnden Zöpfchen. Sie holt den Doktor zu Hilfe,weil ein Riese mit Vollbart und Ohrring unter ihren Fingern abzuklappen droht. „Was istdenn los?“, fragt der Doktor. „Haben Sie Angst?“ Frau Doktor Falk ist das ganze Gegenteildes rauen Daseins unter freiem Himmel. Sie ist ein heilsamer Moment. Sie ist demjenigenunheimlich, der heilsame Momente im Grunde nicht kennt. „Nur vor solchen Frauen mitsolchen Spritzen“, antwortet der vollbärtige Mann.
Jeden Dienstagvormittagversucht sie in der Praxis am Ostbahnhof, Zähne mit der Zange zu greifen, die nicht mehrwie Zähne aussehen. Sie bohrt gegen starke Schmerzen an. Sie telefoniert nachZahntechnikern und Kieferchirurgen, die kostenlos weiterhelfen. Verteilt Zahnbürsten undCreme. Arbeitet mit gespendeten Medikamenten und Materialien. Der Zahnersatz ist ein ganzeinfacher, doch er lässt seinen Besitzer wie jemanden aussehen, der ein normales Lebenführt. Wann immer sie eine Packung Antibiotika rausgibt, setzt sie einen strengen Blickauf. Die Tabletten müssen regelmäßig eingenommen werden. In der Welt, der ihre Patientennicht angehören, ist das Zeug teuer. In dieser Welt gibt es die Praxisgebühr. Wer beimArzt vorbeischaut, muss seit Januar 2004 zehn Euro hinlegen. In den zwei BerlinerZahnarztpraxen der MUT machten deshalb zunächst selbst die Schmerzpatienten wieder kehrt.In dieser Welt gibt es Hartz IV. Laut Zeitungsberichten sollen eine halbe MillionDeutsche, seit das Gesetz Anfang 2005 in Kraft trat, ihre Krankenversicherung verlorenhaben. In dieser Welt gibt es immer mehr Menschen, die sich etwas nicht leisten können.
Hin und wieder sitzt am Eingang des Hauses am Ostbahnhof eine Schwester undbeobachtet die Hereinkommenden. Wer versichert ist und nur die zehn Euro sparen will,gehört eigentlich nicht hierher. Für Kinder und Asylbewerber gibt es andereAnlaufstellen. Eigentlich dürfte die Schwester gar niemanden einlassen, der nicht auf derStraße lebt. Aber sie sitzt seit über zehn Jahren hier, hat ein Näschen dafür, wer Hilfebraucht, kennt Namen und Geschichten. Sie schaut der Not ins Gesicht. Spricht mit ihr.Einst hat sie ihre Pappenheimer schon von Weitem gerochen. Sie schwatzten drauflos,anstatt zwischen zwei Satzzeichen zu sagen, wo sie Schmerzen haben. Sie drucksten herum,wenn sie ihre Namen nennen sollten. Die Schwester ahnte, dass vielleicht die Polizei nachihnen suchte, weil sie geklaut hatten. Dass sie sich schämten. Viele von ihnen warennicht einmal beim Sozialamt registriert. Den Weg dorthin zu gehen, einen Termineinzuhalten, Formulare auszufüllen, das war nichts für jemanden, der mit der Hand in eineRichtung fuchtelte, wenn man von ihm wissen wollte, woher er kam. Der unter hektischenBewegungen seine Schritte nur ungefähr dorthin lenkte, wo er gerade eben noch hinwollte.
Vor allem in den letzten zwei Jahren kommen mehr und mehr andere Menschen amOstbahnhof zur Tür herein. Sie sagen Sätze wie: „Ich hab meine Zähne totalvernachlässigt. Hier ist ein Loch und da, das werden Sie ja selber sehen.“ Die Schwesterlässt sie durch, wenn sie starke Schmerzen haben. Ihr Posten am Eingang nennt sich:Sozialberaterin. Sie weiß: Solche Schmerzen fangen jeden ein, der andere Sorgen hat alsdie eigene Gesundheit. Sie winkt Selbstständige durch, die ein paar Monate keine Aufträgehatten, kein Geld verdient haben und schwupp aus der Krankenversicherung geflogen sind.Ein Mann hat vor Monaten in der Zeitung gelesen, dass es hier eine Zahnarztpraxis gibt.Er ist aus dem Westen der Stadt mehrere Stunden hierher gelaufen. Als gehörte er noch zurGemeinschaft der Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs, trägt er die Zeitung von heuteunterm Arm. Ein anderer Mann hat die Ärztin im Fernsehen gesehen. Die Schwester lässtbeide zu ihr ins Behandlungszimmer. „Wer mich wirklich übers Ohr hauen will, der kenntseine Rechte“, sagt sie. „Und wer seine Rechte kennt, kann sich irgendwie festhalten. Dersinkt nicht so tief.“
Als die Zahnärztin Kirsten Falk Ende der 90er Jahre damitbegann, einmal in der Woche Obdachlose zu behandeln, hat sie sich gefragt, wie ihrPatient, ein Kapitän der Handelsmarine, unter die Brücke geraten war. Was den pfiffigenSportlehrer aus der Bahn geworfen hatte, den Psychologen. Die Antwort zu kennen, machtedie Sache nicht besser. „Ehe kaputt, Suff, Schulden, Mahnbescheide, Räumungsklage, rausaus dem Geschehen“, sagt sie. „Es ist immer dasselbe.“ Wenn in ihrer eigenen Praxis inLichtenberg ein Patient Alkohol getrunken hat, schickt sie ihn weg. Die Männer amOstbahnhof wagen nicht, die Flasche noch einmal anzusetzen, kurz bevor sie insBehandlungszimmer gehen. Kirsten Falk hofft lediglich, dass zwischen dem letzten Schluckund dem nächsten nicht so viel Zeit vergeht, dass die Männer zu zittern beginnen. Sie istZahnärztin, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Ihr Ehemann ist Rechtsanwalt.Wenn sie am Abendbrottisch sitzen und über den Tag reden, der hinter ihnen liegt, redensie über Dinge, die in einer gewissen Ordnung sind. Kirsten Falk weiß von ihrem Mann,dass es nicht so leicht ist, jemanden aus der Wohnung zu schmeißen. Nicht nur amOstbahnhof, auch in ihrer eigenen Zahnarztpraxis wissen die Menschen nicht viel überGesetze und Regeln. Auch nicht über solche, die sie schützen. Briefe von Anwälten jagenihnen einen unheimlichen Schrecken ein, auch wenn die Anwälte auf ihrer Seite stehen.
Auf dem Flur vor den Arztpraxen am Ostbahnhof geht es darum, dass jeder, derduscht, das Bad rasch für den Nächsten frei macht. Darum, dass die Hunde nicht in dieKüche laufen. Es geht um das Zeug in den Kisten, das die Firma Globetrotter zuWeihnachten gespendet hat. Manch einem sind die gefütterten Schuhe und gesteppten Jackenim Frost von Nutzen. Manch einer verscherbelt sie. Es herrscht ein weithin vernehmlicherTon.
Es geht um das tägliche Dasein, nicht um das, was nicht sein kann. Undschon gar nicht um Hartz IV. Politik ist so weit entfernt wie der warme Sommer.Scheinbar. In Wahrheit ist Politik an allem hier schuld. In aller Regelmäßigkeit meldetdie MUT dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, wie viele Menschen in Not am Ostbahnhof überden Flur und in die Küche gekommen sind. Von 200 auf den Ämtern gemeldeten Obdachlosen,sagt man bei der MUT, waren 400 schon hier.