Angst
13.06.2007 um 15:03
Normalerweise verfügt jeder Mensch über die Bereitschaft, Angst zu erleben. Ob und wanndiese Bereitschaft zu richtiger Angst wird, ist dagegen von Person zu Personunterschiedlich. Einige Menschen verkraften auch Extremsituationen (wie lebensgefährlicheUnfälle, Entführungen, Vergewaltigungen, Misshandlungen), ohne anschließend untervermehrter Angst zu leiden; andere wiederum trauen sich nicht mehr unter Menschen,nachdem sie sich durch eine für andere banal wirkende Bemerkung tödlich gekränkt fühlten.Vermutlich liegt das persönliche Ausmaß an "Angstbereitschaft" teilweise schon bei derGeburt fest ("Temperament"). Dabei ist unter "Angstbereitschaft" die Art und Weise zuverstehen, wie ein Mensch auf neue, ihm unbekannte Reize reagiert (z.B. durch eineAlarmreaktion im Sinne von Angst oder durch neugieriges, vielleicht sogar lustvollesUntersuchen des neuen Reizes).
Ob sich die Angstbereitschaft vergrößert, gleichbleibt oder abnimmt, hängt wesentlich davon ab, wie die wichtigsten Bezugspersonen desKindes mit eigenen und fremden Ängsten umgehen. Wenn es den Bezugspersonen gelingt, demKind Vertrauen in sein eigenes gutes Funktionieren und das Funktionieren der Welt zuvermitteln, wird es möglicherweise zu einem überwiegend mutigen (gelasseneren) Menschenheranwachsen. Handelt es sich dagegen um Bezugspersonen, die selbst mit großerUnsicherheit und Angst auf Neues reagieren, wird dies auch das Kind prägen. Nach heutigerAnsicht erlernen Kinder schon in den ersten Tagen und Monaten ihres Lebens "Kompetenz imUmgang mit Gefühlsregungen". Gelingt es den Bezugspersonen, ein erregtes (ängstliches)Kind zu beruhigen, spürt das Kind, dass sich Erregungszustände regulieren lassen. Ohneeine solche (wiederholte) Erfahrung bleibt es körperlichen Erregungen (Symptomen)möglicherweise lebenslang hilfloser ausgeliefert. Später reichen oft geringfügigeAnlässe, um das ohnehin schon hohe Erregungsniveau so weit zu steigern, dass es inmassive Angst umschlägt. Dann müssen Ärzte und Therapeuten durch "beruhigendes Einwirken"die Betroffenen gleichsam "nachschulen". In den Familien Angstkranker findet man oft eineregelrechte Angst-Tradition, die sich über mehrere Generationen hinwegerstreckt.
Wenn Menschen mit hoher Angst- bzw. Erregungsbereitschaft nicht gelernthaben, sich selbst zu beruhigen, können auch schon leichtere Reize (Schwindel, Herzrasen,Atemnot, Muskelschwäche, Kribbeln, Missempfinden, "Kloß im Hals", Schweißausbrüche,schmerzhafte Muskelverspannungen) Angst und Unsicherheit auslösen. Dafür genügen mitunterbereits Hungergefühle (!), kleinere Infekte, innere Anspannung oder schlichtwegBewegungsmangel, die vom Betreffenden als eigentliche Ursachen nicht erkannt werden.Schnell stellt sich die katastrophisierende Vorstellung ein, schwer erkrankt zu sein,möglicherweise sogar sterben zu müssen oder verrückt zu werden. An dieser Stelle könntengelassene und Vertrauen spendende Bezugspersonen mitunter den beginnenden Teufelskreis (=Link, bitte anklicken!) noch durchbrechen. Statt dessen werden aber oft Notärzte oderKrankenhäuser bemüht, die der Situation einen noch dramatischeren Anstrich verleihen unddie Gefährlichkeit des Geschehens scheinbar unterstreichen. Da die medizinischenAutoritäten in aller Regel die Angst nehmen können (notfalls mit Hilfe einerBeruhigungsspritze), schnappt die Falle zu. Bei erneuten Ängsten werden sich dieBetreffenden noch rascher in ärztliche Behandlung geben, zugleich werden sie aber auchimmer abhängiger von anderen.
Neben dieser für "psychosomatische" Ängste typischenEntwicklungsgeschichte gibt es auch Ängste, die durch ein Ereignis ausgelöst werden, dasbei den meisten Menschen Angst erzeugen würde (Naturkatastrophen, schwereVerkehrsunfälle, Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen). Ängste diesen Ursprungssind meist Teil einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung.
DerUrsprung mancher Ängste bleibt mitunter auch verborgen, etwa wenn der auslösende Reizdurch Zufall mit einem anderen Angstereignis gekoppelt wurde, ohne dass man sich imNachhinein daran erinnert. Wer Zeuge eines furchtbaren Unfalls war, kann beispielsweiseim weiteren Verlauf seines Lebens auf das Läuten von Kirchenglocken mit starker Angstreagieren, wenn im Augenblick des Unfalls solche zu hören waren. Ähnlich kann sich Angstmit der Farbe rot verknüpfen, wenn ein Unfallauto eine solche Farbe hatte.
BeiMenschen mit hoher Angstbereitschaft tendieren Ängste dazu, sich zu verstärken. Denndiese Personen suchen regelrecht nach Bestätigung ihrer Sorgen. Fast alles war passiert,passt dann in das Angstschema und bestätigt die (scheinbare) Richtigkeit derAngsterwartung. Auch Vermeidung fördert Ängste, da die hilfreiche Erfahrung, Ängstebewältigen zu können, immer seltener wird.
Einige Ängste haben vermutlich einekörperliche Grundlage, beispielsweise die "Blut- oder Spritzenphobie". In solchenSituationen verlieren die Betroffenen oft das Bewusstsein, weil ihr autonomesNervensystem auf den Anblick mit einer "Notfallreaktion" antwortet (wie sie demTotstellreflex im Tierreich entspricht). Man vermutet, dass die in diesem Zusammenhangentstehende Phobie weniger mit dem Anblick von Blut- oder Spritzen zu tun hat alsvielmehr mit der Angst, das Bewusstsein zu verlieren, im Extremfall zu sterben.
Auch bei Tierphobien (Spinnen, Schlangen, Ratten, Mäuse, Hunde), der Höhenangst(Akrophobie) und der Angst vor engen Räumen (Klaustrophobie) kann man sich vorstellen,dass sie teilweise körperlich (genetisch) verankert sind. Denn in entsprechendenSituationen (Wildnis) können sie durchaus sinnvoll sein und das Überleben fördern. In deroft sterilen modernen Zivilisation, in der viele Kinder Spinnen, Schlangen und Ratten nurnoch aus dem Fernsehen oder dem Zoo kennen, lösen solche Ängste oft Unverständnis aus.
Ängste können nicht zuletzt Begleiterscheinungen körperlicher Erkrankungen sein.Manchmal ist der Zusammenhang eindeutig und verständlich (etwa in Form der"Vernichtungsangst" beim Herzinfarkt), manchmal muss man erst sehr gezielt und mitmedizin-technischen Hilfsmitteln danach fanden (etwa bei einer Überfunktion derSchilddrüse oder einer zu Unterzuckerung neigenden Stoffwechsellage). Einige Ängstewollen Betroffene auch nicht wahrhaben (etwa bei einem Drogen- bzw. Alkoholentzug oderdem Absetzen von Beruhigungsmitteln). Schließlich können auch Medikamente Ängste auslösen(etwa Schilddrüsenhormone).
Dr. Herbert (nicht Hein) Mück, Köln (nichtBremerhaven)