Syndrom schrieb: Ich finde, das Problem ist anerzogen. Von Kleinauf geht's nur ums Abi, alles Andere ist proll.
Jain, ich bin nun seit über 20 Jahren Lehrerin und arbeite mittlerweile an einer Brennpunktschule. Als ich anfing, waren wir eine reine Realschule und sehr solide. Es gab überwiegend nette, motivierte Schüler(innen) und wir hatten ein Übertrittsquote von 1/3 aufs berufliche Gymnasium. Es gab viele Arbeitsgemeinschaften und die Schule war ein Ort, an dem man sich wohl fühlte. Wir hatten damals ca. 20% - 30% Schüler mit Gymnasialempfehlung dementsprechendes Unterrichtsniveau. Da wir im ländlichen Bereich sind, sind viele der Schüler(innen), obwohl fürs Abi geeignet oder sogar noch Abi gemacht, in die elterlichen Kleinbetriebe eingestiegen und teilweise sehr erfolgreich.
Was hat sich geändert? Die Anforderungen des Schulsystems sind durch die Bank gesunken. Ergo bekomme ich nun auch ein Abitur hin, wenn ich früher ein guter Realschüler war. Wir schätzen immer, dass die Verschiebung 1/3 war: 1/3 der ehemaligen Realschüler sind bei uns nun auf dem Gymnasium, 1/3 der ehemaligen Hauptschüler auf der Realschule und 1/3 der Hauptschulklassen sind voll mit Sonderschülern. Integration ist toll. Das Schulsystem wurde aber so totgespart, dass es Integration oft gar nicht mehr leisten kann.
Früher war ich von 45 Minuten vielleicht 40 mit Unterricht beschäftigt. Die anderen habe ich 5 Minuten Zettel eingesammelt, Streit geschlichtet, ... das hat sich heute potentiert. Ich unterrichte an manchen Tagen 10/45 Minuten. Weil die Anforderungen auch an die Lehrenden gestiegen sind, ist die Krankheitsquote beim Lehrpersonal deutlich höher. Da möglichst wenig ausfallen soll, hast du mitunter zwei Klassen gleichzeitig zu betreuen = 60 Schülerinnen und Schüler. Ergo: Die Unterrichtsqualität ist miserabel und es witschen jedes Jahr Leute mit Noten durch, die eigentlich früher sitzengeblieben wären.
Dann gibt es Eltern, die sich zunehmend um nichts mehr kümmern können oder wollen. Kinder, die daheim gebraucht werden, z.B. wenn die Eltern keinen kinderfrei Tag nehmen können oder wollen, dann wird das ältere Geschwisterkind entschuldigt und passt eine Woche auf. Der Stoff wird nie aufgeholt. Die, die es "blicken", schreiben trotzdem gute Noten. D.h., es findet auch eine Noteninflation statt. Hatte früher alle 10 Jahre einer ein Abi mit 1,0, sind es heute z.T. mehrere an einem Gymnasium, weil die Anforderungen nicht mehr die sind, die es mal gab.
Dann gab es früher halt gefühlt 20 Berufe. Heute gibt es 100te. Oft sind die Schüler überfordert und machen halt "weiter Schule". Auch ist es so, dass du, wenn du wirklich für Mindestlohn arbeitest, immer am Boden kratzt und dir einfach wünscht, deine Kinder sollen es besser haben.
Wir hatten einen Vater mit Migrationshintergrund, der hat sich totgearbeitet, war selbstständig mit 16-18 Stunden Tagen. Der hat fünf Kindern vermittelt "ich lasse mein Leben für euch, macht was draus!". Der gibt sich nicht zufrieden, wenn dann einer Einzelhandelskaufmann ist, er möchte dann der Vater von fünf Ärzten sein.
Dafür gibt es heute Ausbildungsstellen wie Sand am Meer. Damals, in den 1980ern, musste man froh sein, wenn man etwas fand. Heute hat man das Gefühl, dass so ein Ausbildungsplatz nichts wert ist, weil man ihn angeboten bekommt, wie Sauerbier. Die Standards bei den Ausbildungen sind heute sicher besser, heute geht niemand mehr belegte Brote für den Meister holen oder für den Meister rasenmähen, wie es bei meinen Freunden in den 1980ern üblich war. Das Misstrauen bleibt. Viele der herkömmlichen Jobs haben halt Nachteile: Wochenendarbeit, Nachtarbeit, körperliche Arbeit, geringer Verdienst, ...