Zz-Jones schrieb: Angenommen, dieses System der kleinen Gruppen hätte sich bei den Grundschülern etabliert und könnte dann Schritt für Schritt von unten nach oben ausgebaut werden, wären diese Verhaltensauffälligen dann in einer kleinen Gruppe (ohne einen weiteren Verhaltensauffälligen) wieder resozialisierbar oder ist bei denen Hopfen und Malz bereits verloren?
Tatsächlich musst du da immer die Einzelfälle betrachten, so pauschal kann man das gar nicht sagen: Schüler sind auffällig, weil sie überfordert sind oder/und weil ihre häusliche Situation eine Katastrophe ist.
Es gibt ja auch ganze "Hartz4 Dynastien", wo die Eltern nicht nur nicht gelernt haben, für sich erfolgreiche Strategien anzuwenden, sondern wo Eltern mit der gesamten Haushaltsführung überfordert sind - und zweifelhafte "Werte" vorleben. Solche Eltern haben oft sehr abstruse Vorstellungen, z.B. sind sie sehr daran interessiert, dass ihre Kinder keine Ausbildungen machen "weil das nur dem System dient" oder "eh nichts bringt", oder ... Solche Kinder fehlen extrem oft, weil krank oder "krank" oder für die Betreuung der kleinen Geschwister eingesetzt. Daheim gibt es keine Infrastruktur, die lernen unterstützt oder gutheißt und oft schlechte Lebensbedingungen (überbelegter Wohnraum, Abwertung der Schule).
Zoelie schrieb: Eine Idee ist es einfach das angebrochene Schuljahr mit der Halbjahresnote zu beenden.
Ehrlich kannst du die drei Wochen recht problemlos aufholen. Ein Schuljahr besteht aus 40 Wochen. Ausgefallen sind bei uns in B-W zwei Wochen und vier Tage. Allerdings hatten die Schüler Übungsaufgaben - wurden die bearbeitet, dann sind wir vielleicht bei einer Woche Rückstand.
Du kannst immer auch Sachen weglassen oder straffen. Daher verstehe ich die Panik nicht ganz.
Das neue Schuljahr startet dann einfach ab 1.1.2021 für alle gleich und endet am 31.12.2021.
Was machst du bis zum 1.01.? Es muss schon wieder ein geordnetes Lernsystem her - und zwar sehr zügig, wie auch immer das aussehen muss. Auch, um die Schüler aus problematischen Konstellationen wieder in einen geregelten Alltag zu bekommen.
Zz-Jones schrieb:Auch ist es natürlich viel realistischer, dass Grundschullehrer dann bei den älteren Jahrgängen aushelfen.
Auch das wird nicht so problemlos klappen. Ist eigentlich auch gar nicht nötig. Ich würde ja sagen, man steigt mit den Hauptfächern wieder ein. Mit einer Doppelstunde am Tag - bespricht da den Stoff, gibt sinnvolle Übungen im Umfang von 120 Minuten. Fertig. Nächster Tag - nächstes Hauptfach. Darauf baut man auf.
Frau.N.Zimmer schrieb: Die 4 Grundrechenarten werden Eltern doch noch beherrschen, wenn es beim "homescooling" haken sollte. Falls nicht, gibt es auch noch kostenlose Portale, wie "Mathefuchs" und andere.
Das Problem ist, dass es Eltern gibt, die leider gar nicht so ticken. Bei der Grundschule hier um die Ecke konnte man z.B. das Material selbst ausdrucken oder ausgedruckt abholen - ohne, dass man eine Tür anfassen musste. Die haben wie wir die Erfahrung gemacht, dass 1/3 des Materials gar nicht abgeholt wurde. Die Lehrer haben dann bei dem 1/3 nachgefasst - oft stimmte die Telefonnummer gar nicht erst oder die Eltern waren extrem ablehnend "keine Zeit" "kein Interesse" oder man ergoß sich in Ausreden. Man versuchte also erst gar nicht, die Aufgaben zu bearbeiten - das galt auch für Leute, die nicht mal 100m von der Schule wohnten, aber auch Ausreden fanden, warum man das Material gar nicht erst holen konnte.
R4z0r schrieb:Die Kinder müssen auch betreut werden.
Leider gibt es in Deutschland auch Regionen wo beide Elternteile arbeiten müssen und nicht über das Glück verfügen als bspw. Beamter open end ohne Gegenleistung vollumfänglich vom Steuerzahler alimentiert zu werden.
Gerade für Brennpunktschüler ist Schule viel viel mehr als lernen -es ist eine Struktur im Tagesablauf, eine warme halbwegs gesunde Mahlzeit, Kontakt mit anders sozialisierten Mitschülern, Kontakt mit Lehrern und Sozialarbeitern, die ein Auge darauf haben, wie es den Kindern geht. All das bricht weg.
Franziska aus meiner Klasse geht es gut. Sie bearbeitet mit Mamas Hilfe die Aufgaben, hat weiterhin per Skype Klavierunterricht, die Familie geht gemeinsam spazieren, spielt Brettspiele, man backt, singt, gestaltet den Tag sinnvoll.
Franz hingegen wohnt im siebten Stock eines Hochhauses im sozialen Brennpunkt. Es leben regulär sieben Personen in einer Dreizimmerwohnung. Die Tafel hat zu, das Essen wird knapp. Das Geld ist knapp. Häusliche Gewalt, Alkohol- und Drogenkonsum der Eltern spielt eine Rolle. Er hat keine Rückzugsmöglichkeit. Schulaufgaben werden nicht mal angeschaut.
lysanne schrieb: Die Klassen umfassten bis zu 25 Kinder. Und die Lehrer hatten wirklich jedes Kind im Auge und eine starke persönliche Bindung. Es gab keine Schüler, die derartig verhaltensauffällig wie hier waren - dafür sorgte die Mentalität und auch ein immer sichtbarer Rohrstock in der Ecke, der allerdings in den 3 Jahren nicht einmal eingesetzt wurde. Ich denke allerdings, dass es zum Thema Verhaltensauffälligkeit einen ganz anderen Maßstab gibt: was hierzulande als normal gilt, wäre in der rumänischen Schule undenkbar gewesen.
Disziplin ist hierzulande etwas, was praktisch immer weiter abnimmt. Die Kinder werden schon im Kindergarten zur Selbstständigkeit und eigenständigem Denken erzogen. Das ist auf der einen Seite gut - andererseits redet schon der 5. Klässler mit dir "auf Augenhöhe". Die Konzentrationsspanne wird immer geringer. Du sagst "mach mal das Buch auf S.234 auf" und die Worte wabern noch durch den Raum, wenn der erste wieder fragt "welche Seite?". So Grundtugenden wie Hausaufgaben, Pünktlichkeit etc. nehmen immer weiter ab. Die gut erzogenen, gewissenhaften Schüler gelten als "uncool".
lysanne schrieb: Mein Sohn, in Deutschland ein sehr mäßiger Schüler, wurde zu einem Gymnasiasten. Er liebte die Schule. Zurück in Deutschland fiel er innerhalb eines Schuljahres auf das Niveau eines Hauptschülers zurück - viel zu viele Fächer, viel zu kurze Zeiten für die Grundfächer, eine Wahnsinns-Unruhe durch die vielen Schüler, etliche Raumwechsel.
Ich bin ja selbst Lehrerin - Aus Elternsicht: Gerade in der Grundschule meiner Kinder (auch riesige Klassen) kam ich immer häufiger in die Situation, dass es mir vorkam, dass die Kinder morgens in einer Betreuung waren und mittags der Stoff gefestigt werden musste. Da kamen Berge an Stoff an, der nicht wirklich saß und der daheim nochmal "nachbereitet" werden musste. Zwei meiner Kinder gehen nun aufs Gymnasium - es ist also nicht so, dass sie zu doof waren, den Stoff zu verstehen. Aber ich konnte keines meiner Kinder "alleine" wursteln lassen. Sonst hätten sie ausschließlich Dreier und Vierer geschrieben.
Aus Lehrersicht: Du kämpft praktisch gegen das System: Das Schulhaus fällt auseinander, einen funktionierenden Beamer zu finden kann einen halben Vormittag dauern, du hast 10 leistungswillige Schüler und 10, die es nicht schaffen, Hausaufgaben zu machen, ruhig sitzen zu bleiben, ihre Sachen geordnet mitzubringen, sich an gängige Regeln zu halten. Du gibst dein Bestes und hast immer das Gefühl, es ist nicht gut genug, weil immer Schüler durchs Netz schlüpfen.
lysanne schrieb: Die Einschätzung, dass 1/3 der Schüler verhaltensauffällig ist, kann ich nach meinen Erfahrungen bestätigen. Das wird sich nicht ändern, eher zunehmen, wenn nicht gesamtgesellschaftlich eine neue Wertigkeit zum Thema Familie und Bildung etabliert werden wird.
Bildung wird von einigen Gesellschaftsschichten nicht mehr als schützenswertes Gut begriffen. Schule wird als notwendiges Übel angesehen. Die Leistungsbereitschaft geht aus den verschiedensten Gründen zurück. Durch die demographische Entwicklung bekommen auch Schüler mit einem 4er Abschluss zehn Lehrstellen auf dem Silbertablett angeboten. Daher die Frage "warum anstrengen?".
lysanne schrieb:Dazu die etablierten Gewohnheiten, soziale Kontakte zum Großteil über die sozialen Medien laufen zu lassen, die Kinder via TV und PC-Spiele zu beschäftigen, die Fremdbetreuung auch außerhalb der Schule - das alles schafft Instabilität und Verhaltensauffälligkeiten.
So ist es - dadurch, dass die Gesellschaft so im Umbruch ist, ist auch die einzelne Familie im Umbruch - Paare trennen sich, durch die Trennung werden die Finanzen knapp, oft kümmert sich ein Elternteil nach der Trennung nicht mehr um die Kinder, das zweite Elternteil ist für Geldverdienen, Kinder, etc. zuständig. Wenige sind dann im Selbstopferungsmodus, sondern versuchen noch, eine gute Life-Workbalance zu haben. Dabei fallen oft die Kinder "hinten runter".