Rotmilan schrieb: Eine Frage, Du sprichst von den Schulen in BaWü? Werkrealschulen gibt es meines Wissens nur dort und in keinem anderen Bundesland. Ich hätte nicht gedacht, dass in BaWü so viele Schüler in eine Klasse gestopft werden und die Schüler so lange Pendelwege haben.
Ja, ich spreche für Baden-Württemberg. Bei uns war es so, dass mit der Wahl der Grünen die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft wurde und Werkrealschulen entweder geschlossen oder in Gemeinschaftsschulen "umgebaut" wurden, was aber de facto oft verkappte Hauptschulen sind (es sei denn, du bist auf dem platten Land, mit keinen anderen weiterführenden Schulen, dann klappt das ganz gut).
Gleichzeitig wurden die Sonderschulen weitgehend aufgelöst und Integration begonnen - das ist eigentlich ein sehr guter Gedanke, das Problem ist aber, dass in der Realität oft sonderpädagogische Fachkräfte fehlen und du dann 29 + 1 Schüler hast - der eine Schüler aber so viel Aufmerksamkeit bräuchte, um weiterzukommen, wie die anderne 29 zusammen.
Es spielen längst keine oder nur sehr wenige pädagogische Überlegungen eine Rolle - was zählt, ist das Geld.
Rotmilan schrieb:Wahnsinn, da müssen die Lehrer Nerven wie Drahtseile haben und sehr viel innere Differenzierung betreiben.
So ist es - die Reaktion ist natürlich sehr unterschiedlich. Es wird ja praktisch auch nie ein Standard festgegelegt oder überprüft - es gibt Lehrer, die machen fünffach differenzierte Arbeitsblätter und Lehrer, die ignorieren das einfach. Man fühlt sich oft wie ein Hamster im Rad.
Und du wirst immer kritisiert - halt von unterschiedlichen Gruppen. Ich und meine Kollegen saßen echt am Wochenende vor der Schulschließung Samstag und Sonntag in der Schule und haben ein Konzept für die Wochenpläne entwickelt - mit dem Erfolgt, dass viele Eltern entnervt rückmeldeten, dass ihnen das noch gefehlt hätte - 1/3 der Eltern war sehr zufrieden mit der Arbeit und damit, dass wir schauen, dass die Kinder daheim was lernen. 1/3 der Schüler war völlig auf sich alleine gestellt und hat sich aber bemüht - das waren die, mit denen man dann im "homeoffice" sehr viel zu tun hatte. 1/3 der Schüler und Eltern waren gleich ablehend, warum man daheim was machen sollte - die Aufgaben wurden gar nie abgerufen, man wurde am Telefon blöd angemacht, wenn man nachfragte oder es gab gar keine Kontaktdaten für den Schüler.
Rotmilan schrieb:Das ist auch irre, aber diese architektonischen Mängel haben wird im Norden auch seit Jahren und es wurde nichts gemacht. Sehr ungünstig bzgl. der Virenverbreitung.
Unsere Schule wurde Ende der 1960er nach dem Wissensstand damals gebaut - die Mängel sind so gravierend, dass eigentlich ein Neubau ansteht - nur hat die Stadt nicht wirklich Geld dafür. Es regnet durchs Dach, Fenster trüben ein, Toiletten stinken .... Alle Gutachten fordern einen Neubau und man kam vor Jahren überein, dass jeder investierte Cent einer zuviel sei.
Nerok schrieb:Wir Pendeln teils auch 1 Stunde+ bis zur Schule da die Schule zu der du musst sich danach richtet in welchem "Kreis" der Betrieb ist..nicht wo man selbst wohnt. Also auch wenn eine andere sehr viel näher wäre musst du dann unter Umständen zur weiter entfernten.
So ist es bei uns auch. Wenn du z.B. vom Gymnasium in die Realschule wechselst oder umziehst und deine "Klassenstufe" ist voll, kann es passieren, dass du mehr als 10km entfernt in die weiterführende Schule musst, auch wenn du praktisch auf unserem Schulhof wohnst. Es kommt dann auch dazu, dass, wenn ein Platz frei wird, Schüler sofort "nachrücken" - egal in welchem Stadium des Schuljahres. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen.
kosmonautin schrieb:Auch ich gehe davon aus, dass sich die Beschreibungen von @MissMary auf alle Bundesländer übertragen lassen.
Ich habe nur in B-W unterrichtet, aber von ehemaligen Kommilitonen höre ich das auch von anderen Bundesländern. Es gibt Schularten, da fließt noch etwas mehr Geld, aber in manche wird wirklich wenig investiert.
kosmonautin schrieb:Es gibt überall zu wenig Lehrer, weshalb die Klassen übervoll sind.
Ja. Es ist sogar so (zumindest bei uns), dass schon seit September gar nicht alle Fächer unterrichtet werden, weil zu wenig Lehrer da sind. Es ist dann so, dass man versucht, es so zu verteilen, dass jeder "ein wenig" hat - z.B. Sport nur jede zweite Woche statt jeder, Geschichte nur eine Stunde statt zwei - die Hauptfächer werden "normal" erteilt, aber bei den Nebenfächern wurden die Stunden zusammengestrichen.
kosmonautin schrieb:... und, was die Klassenwaschbecken betrifft, wird sich wahrscheinlich jeder aus seiner eigenen Schulzeit daran erinnern, dass die meistens verstopft waren. Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert.
Unser Gebäude wurde seit den 1960ern nicht mehr saniert, daher ist es so marode, dass eigentlich ein Abriss geplant war und in Aussicht gestellt wurde - jetzt mit dem Finanzloch vermutlich nicht möglich. Kein Witz: Bei uns gibt es Klassenzimmer, da haut es regelmäßig die Sicherung raus - so regelmäßig, dass du schon selbst weißt, wo der Sicherungskasten ist, damit du den Hausmeister nicht belätschern musst. Du unterrichtest also 10 Minuten, dann geht das Licht aus ... du gehst zum Sicherungskasten, unterrichtest 10 Minuten weiter, sitzt wieder im Dunklen, läufst wieder ... passiert nicht täglich, aber es gibt solche Tage ...
Glünggi schrieb:Also in China habens nun nur noch halb so grosse Klassen und die Schüler sitzen alle mit Maske im Schulzimmer.
Ich möchte eigentlich kein racial profiling betreiben aber: Nahezu alle Schüler asiatischer Herkunft, die wir an der Schule haben, sind wirklich überdurchschnittlich angepasst, leistungsbereit und auffallend höflich und unglaublich leistungsorientiert.
Ich könnte dir auch bei mir in jeder Klasse 10 Schüler -egal welcher Herkunft- nennen, die problemlos eine Maske aufsetzen, die Hände desinfizieren, sich an alle Vorgaben halten, Abstand halten, daheim ihre Aufgaben erledigen und "funktionieren".
Ich kann dir aber auch in jeder Klasse 10 Schüler nennen wo das nicht funktionieren wird. In Asien kommt es glaube ich eher darauf an, "zu funktionieren" - während man hier einen ganz anderen Ansatz verfolgt.
Glünggi schrieb:Ich weiss halt nicht ob man für halb so grosse Klassen auch doppelt soviele Lehrer bräuchte.
Vermutlich schon. V.a. ist unterrichten einfach auch Beziehungsarbeit, zumindest bei unseren schwierigen Schülern. Wenn du keine persönliche Beziehung zu ihnen hast, dann "knackst" du sie auch nicht, dass sie etwas lernen. D.h. - du kannst nun nicht plötzlich Lehrer Y in die Klasse schicken, weil Lehrer X nicht kommen kann (Risikofaktoren oder ähnliches).
Zz-Jones schrieb:Könntest Du Dir vorstellen, falls bundesweit zunächst nur wieder Unterricht für die Grundschüler eingeführt werden würde (in kleinen Gruppen von 5-6 Schülern, zeitversetzter Unterricht), dass Deine Schule dann dafür geeignet wäre einen Teil dieser Schüler aufzunehmen und ggfs. auch zu unterrichten?
Es wird vermutlich darauf herauslaufen. Aber: Ich unterrichte 27 Stunden in der Woche, was nicht viel klingt. Ich bin aber ernsthaft mindestens 40 Stunden, oft auch 50 Stunden beschäftigt. Du musst ja Unterricht vor- und nachbereiten, Klassenarbeiten korrigieren, einen Haufen administratives Zeug machen (Berichte für die Jugendhilfe, Treffen mit der Jugendhilfe, Fachkonferenzen, Vertretungsunterricht, ....). Selbst wenn ich nur noch unterrichten müsste: Ich habe selbst eine Klasse und bin in drei weiteren Klassen Fachlehrer, da unsere Klassen alle auf 30+ aufgefüllt sind, unterrichte ich dieses Jahr 120 Schüler. Ich unterrichte fast nur Hauptfächer - also "wichtig".
Wenn ich nun 6er Gruppen habe, würde ich meine Arbeitszeit verfünffachen. Also 27x5=135 Arbeitsstunden die Woche. Und das wäre nur ein Teil meiner Arbeit. Selbst man man Konferenzen etc. ruhen lässt: Vorbereiten muss man den Unterricht, auch, wenn er schon vorbereitet ist, denn du würdest vermutlich eine Stunde halten und den Schülern dann wieder Aufgaben mitgeben ... d.h. du musst die gesamte Struktur ändern. Das frisst unheimlich Zeit.
Zz-Jones schrieb:Wärest Du oder auch Dein Lehrerkollegium dazu bereit die Grundschullehrer dabei zu unterstützen bzw. zu entlasten?
Prinzipiell ja. Nun das Aber: Ich habe 20+ Jahre Lehrerfahrung in der Sekundarstufe. Ich habe nicht eine Stunde jemals in einer Grundschule unterrichtet, kenne die Methoden nur durch meine eigenen Kinder, kann keine lateinische Ausgangsschrift schreiben, habe auch keine Ahnung, wie man z.B. Schriftspracherwerb oder Lesen unterrichtet.
Dazu unterrichte ich selbst Klassen, die eigentlich nächste Woche ihre Abschlussprüfung geschrieben hätten - unsere Personaldecke ist so erschreckend dünn, dass wir niemanden in die Grundschule schicken könnten. Zumal die Grundschule ja auch voll ist - 30 Schüler pro Klassen - du müsstest praktisch Grundschüler in Sekundarschulen unterrichten, um Platz zu haben - da hast du wieder das Problem: Transport, Orientierung. Bei uns dauert es vier Tage, bis die neuen 5. Klässler sich im Gebäude orientieren können, alleine aufs Klo können, ohne sich zu verlaufen, kapieren, wie die Pause geht, selbstständig ins Klassenzimmer finden - wir haben über 50 Klassenzimmer. Ist vermutlich so, als wenn du plötzlich Butler in einem Schloss wärst und ins gelbe Ankleidezimmer geschickt wirst.