Drollig, dass der Fall wieder ans Tageslicht kommt. Mir ist Bence Todt im höchstem Maße unsympathisch, aber das spielt keine Rolle.
Einige allgemeine Anmerkungen dazu:
1. Es ist kein Skandal, dass (evtl.) Mörder in diesem unseren Lande frei herumlaufen. Denn da gibt es viele. Zum einen bei ungelösten Fällen wie Birgit Ameis, Scarlett S. und einige andere hier in der Rubrik thematisierte Fälle, wie die Latte der "Disco-Morde" der 1970er und 1980er usw. Der dickere Batzen sind aber die Tötungsdelikte, die gar nicht bemerkt werden. Die Dunkelziffer bei Mord betrage 50%, so wird immer wieder geschätzt.
2. Der unglückliche Begriff "Indizienring" oder "-kette" suggeriert, es reiche, ein Glied "abzuschießen" und dann breche die ganze richterliche Überzeugung in sich zusammen. Tut sie aber nicht. Im Gegensatz zum Fall Gendetzki, wo das Gericht letztlich mit einem Kartenhaus unwiderleglicher Annahmen gearbeitet hatte, weil es kaum Indizien gab, bliebe hier noch ein ganzer Berg an Indizien übrig. Auf Grundlage der freien richterlichen Beweiswürdigung käme vermutlich auch eine Neubewertung zum gleichen Ergebnis. Letztlich war es kein "Ring" oder keine "Kette", auf der das Urteil beruht, sondern die Summe aller Indizien und Zeugenaussagen.
3. Unheimlich im Urteil (S. 16 f.) war mir immer die Schilderung des unmittelbaren Tatablaufs. Liest sich wie ein Krimi. Hier wird die richterliche Überzeugung dokumentiert, wie sich die Tat abgespielt hat. Eher haben könnte. M.E. geben aber das die Indizien nicht her. Nicht, dass Bence Todt seine Tante nicht getötet hätte, aber da sind mir zu viele Annahmen drin, die durch die Spurensicherung nicht belegt sind (siehe S. 72 ff. im Urteil):
Er wartete mit Handschuhen an den Händen und einem teils scharfkantigen Gegenstände, vermutlich einem Werkzeug, dessen Aussehen nicht näher bekannt ist, vor der Wohnungstür im 4. Obergeschoss, um augenblicklich beim Öffnen der Türe durch seine Tante auf deren Kopf einzuschlagen, um sie zu töten. Dabei kam es ihm darauf an, seine ausgehbereite völlig ahnungslose Tante, die mit keinerlei Angriff auf ihr Leben rechnete. Überraschend beim Öffnen der Türe zu attackieren, um von vorneherein jede Gegenwehr von ihrer Seite zu unterbinden. Dabei musste er schnell und effektiv vorgehen, da er sich das Risiko eines Scheiterns der Tötung im Hinblick auf seine Beziehung zum Opfer nicht leisten konnte. (...)
Mit der Schilderung des Tatgeschehens kam es Gericht offenbar darauf an, das Mordmerkmal der Heimtücke zu belegen. Aber nicht belegen lässt sich m.E., dass der Täter vor der Türe gewartet habe. Das ist möglich, aber es sind auch andere Szenarien möglich. Vielleicht ist auch der Kern des "ich bin unschuldig", weil sich die Tat nicht so ereignet hat, wie vom Gericht als erwiesen angesehen. Psychologisch kann es dann zu Verdrängungs- und Selbstsuggestionsvorgängen, gar Abspaltungen kommen, bei notorischen Lügnern wie Bence vielleicht sogar noch viel leichter. Aber das ist nur eine unausgegorene These von mir.
4. Die Verlobte kommt im Urteil (S. 34 ff., Hervorh. ich) nicht gut weg:
Sie verschaffte mit ihrer ursprünglichen Aussage gegenüber KHK B. dem Angeklagten zunächst ein falsches Alibi, das eine Täterschaft des Angeklagten nicht hätte möglich erscheinen liess. Hieraus folgt, dass die Zeugin bereit ist, massivste Verdunkelungshandlungen zugunsten des Angeklagten vorzunehmen. Es liegt daher nicht fern, dass sie auch versucht, die Verwertung der Zeugenvernehmung des Angeklagten – entsprechend dem Widerspruch der Verteidigung – zu verhindern.
Das ist ganz schön harter Tobak.
5. Alternative Täter: Sind nicht ersichtlich. V.a. kein Motiv, auch wenn immer wieder auf andere mögliche Täter (nunmehr mit einer "neuen" Zeugenaussage) verwiesen wird. Ein Motiv unbekannter Dritter ist schlicht nicht ersichtlich, es gibt keine Anhaltspunkte dafür wie auch nicht für die Beteiligung Dritter (wenn auch immer theoretisch denkbar, was aber nicht reicht). Auch das ist ein schwerwiegendes Indiz, das neben dem hybriden und theatralischen Auftreten von Bence auf der Bewertung aller Beweismittel lastet.
6. Wenn wir beim Bild vom Indizienring bleiben, stehen da ja nicht alle Beweismittel wie Dominosteine in einem Kreis. Sondern es gibt "schwerere" und "leichtere" Indizien, die sich sehr unterschiedlich auf die Gesamtwürdigung des Gerichts auswirken. Bei 93 Verhandlungstagen und einem Urteil, das alle Beweismittel intensiv abarbeitet, geht dieser Eindruck vielleicht verloren. Für die Bewertung der einzelnen Indizien dürften folgende drei Faktoren eine große Rolle gespielt haben:
a) Charakter und Lügen des Bence im Vorfeld, damit zusammenhängend:
b) Das Motiv. Ob die Tante vom Abbruch des Studiums wusste oder nicht, ist eigentliche keine Tatsache, mit der alles "steht und fällt". Denn die Gefahr einer Enterbung war auch bei Kenntnis immer gegeben, quasi eine "Dauergefahr". Genauso wäre die Abhängigkeit Bence' von seiner Tante dann nur noch größer geworden. Was sollte aus ihm werden?
c) Das Nachtatverhalten. Wer lügt, dass sich die Balken biegen, der macht sich nicht glaubwürdig.
a) bis c) reichen nicht eine Verurteilung. Aber im Lichte dieser Umstände lassen sich Zeugen- oder Sachbeweismittel so oder so würdigen. Im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung. Schließlich entsteht ein Gesamtbild, das vermutlich durch abweichende Zeugenaussagen nicht erschüttert werden kann.
7. Es gibt eine Reihe anderer Fälle, die sind wirklich Justizskandale. Da schreit das Unrecht zum Himmel. Der Fall hier gehört meiner Ansicht nach nicht dazu. Die Beweislage ist erdrückend, das Urteil ohne erkennbare formale Fehler.