Rationalheld schrieb:Dass die Deutung von Texten unweigerlich eine Tendenz hat (die dem Deutenden gar nicht bewusst sein muss), zeigt ja gerade auch die Interpretation der Äußerungen des anderen Verdächtigen. Hier ist alles Gesagte, wie brisant es auch sein mag, laut Urteil plötzlich glasklar entlastend oder zumindest nicht belastend. Problematisch ist eben, dass das Ergebnis solcher hermeneutischer Indizien im Endeffekt genauso als 'Fakt' behandelt wird wie ein naturwissenschaftlich gewonnenes Indiz. Aber während letzteres objektiv widerlegt werden kann, kommt man gegen Interpretationen nicht an. Das ist ein unfairer Kampf.
Umgekehrt wäre es aber auch ein unfairer Kampf: Wenn nur naturwissenschaftlich gewonnene Indizien gelten würden, könnte z.B. bei bei einem Haar am Tatort, dessen DNA mit der des Angeklagten übereinstimmt. Dann kann nur festgestellt werden, es wurde ein Haar des Angeklagten am Tatort gefunden. Aber nicht, ob er auch zur Tatzeit am Tatort war. Es muss also wieder interpretiert werden.
Die Frage, ob er kein Alibi hat, steht der Naturwissenschaft dann ebenso wenig offen, wie die Wertung zweier sich widersprechender Zeugenaussagen. Und wenn Wertungen begründet werden müssen, dann landet man schnell bei der Hermeneutik. Sonst gäbe es Begründungen wie: "Der Angeklagte sieht verschlagen aus. Außerdem hat er gelogen. Sein Verteidiger kritisiert fortwährend das Gericht. Deshalb ist er zu verurteilen." Aus der Psychologie wissen wir freilich, dass das kein objektiver Prozess ist, sondern die Auslegung der Intuition oder der präferierten Rechtsfolge folgt.
M.a.W.: Glaubt der Richter, dass der Angeklagte es war, wählt er die Interpretation, die diese Auffassung unterstützt.
Form follows function.
Rationalheld schrieb:Aus wissenschaftlicher Sicht ist Textinterpretation übrigens sehr wohl beliebig, da sie nicht nach vorab festgelegten, eindeutigen Kriterien vorgeht. Dadurch sind der Subjektivität Tür und Tor geöffnet, und jeder Interpret kommt zu einem anderen Ergebnis. Und dass diesem Ergebnis dann, wie du herausstellst, noch eine Begründung folgt, ist toll, ändert aber nichts daran, dass wir hundert verschiedene Ergebnisse haben. Dann haben wir eben noch hundert Begründungen dazu. Wenn du sagst, es liegt aus juristischer Sicht keine Beliebigkeit vor (oder sogar das Gegenteil davon!), da ja alles begründet wird, kann ich nur sagen: Glückwunsch, liebe Juristen, ihr habt es besser.
Juristen haben es nicht besser. Denn sie müssen ja nicht nur interpretieren, sondern sie müssen eine Entscheidung treffen, die mit den gesetzlichen Maßstäben übereinstimmt. Ein Arzt muss auch therapieren, nicht nur diagnostizieren. Die Textinterpretation ist bei Juristen auch nicht beliebig, das ist ein Irrtum. Bei der Auslegung von Rechtsnormen folgt sie relativ strengen Regeln, wobei die Rechtsprechung dann konkret den Takt vorgibt. Was also "Habgier" ist, ist durch die Kasuistik sehr stark bestimmt. Das hat ein Richter zu beachten, wenn er deshalb wegen Mordes verurteilt.
Bei Texten in Urkunden ist man freier, aber wie auch bei Wissenschaftsdisziplinen, die aufgrund ihrer disziplinären Methodik Texte unterschiedlich interpretieren (ein Goethe-Gedicht, ein Brief von Reagan an Gorbatschow, eine Sure im Koran), muss der Jurist eine grammatische, eine systematische, eine teleologische, eine historische Auslegung vornehmen. Bei mündlichen Aussagen muss er im Gerichtssaal nachfragen, ggf. eine Bestätigung oder Relativierung einer Aussage einholen. Und weil er den technischen und naturwissenschaftlichen Gutachtern immer eine Fragestellung mit auf den Weg gibt, muss er die Frage so formulieren, dass sie vom Gutachter fachgerecht beantwortet werden kann.
Ohne die Subjektivität, ohne die subjektive Überzeugung, auf die es letztlich ankommt, geht es nicht. Der Rahmen dafür kann unterschiedlich groß sein, je nach Fall, nach Beweisen, nach Verfahren. Apropos Verfahren: Das ist sehr wichtig. Im Sinne Luhmanns "Legitimation durch Verfahren" ist die Beachtung der Verfahrensvorschriften eine sehr viel objektiverer Maßstab. Hier findet auch die eigentliche Kontrolle durch den BGH statt. Hatte der Angeklagte einen Verteidiger, wurden dessen Beweisanträge richtig entschieden, war das Protokoll richtig geführt, waren die Richter nicht befangen, wurde der Prozess ordnungsgemäß durchgeführt, wurden nur die Beweise herangezogen, die auch verwertet werden durften usw.?
Aber so, wie ein Computerprogramm dem Arzt nicht vorgeben kann, ob er seinem Patienten die COVID 19-Impfung trotz seiner Impfunverträglichkeiten verabreicht, so kann KI nicht die Beweiswürdigung vornehmen. Das Leben ist zu komplex und das Gesetz zu abstrakt. Das Ergebnis ist häufig - wie in der Politik - unbefriedigend, weil bei bestehender Sachlage auch eine andere Entscheidung hätte getroffen werden können.
Für mich ist immer der Maßstab: Hätte das Gericht M. auch frei sprechen können? Wenn es einige Indizien anders interpretiert hätte, was gegangen wäre, dann wäre es möglich gewesen:
- P ist unglaubwürdig.
- In M.s Werkstatt wurde nichts vom Kistenbau gefunden.
- Die abgehörten Gespräche können so oder so interpretiert werden.
- Polizeifunk hörte 1981 jeder.
- Der Hund in der Gefriertruhe sagt nichts über die Täterschaft aus.
Ein Problem hätte es aber gegeben: Das Tonbandgutachten.
1. Das Gericht hätte entweder darauf kommen müssen, dass die Expertise nicht verwendbar ist. Aufgrund der vielen möglichen technischen Parameter, die unbekannt sind und auf die polizeiliche Aufnahme eingewirkt haben, könne technisch nicht seriös beantwortet werden, welches Tonbandgerät am Anfang der Übertragungskette verwendet worden ist und ob es mit dem TK 248 des Angeklagten übereinstimmt.
Wir wissen, wie schwer es
@robernd gefallen ist, diese Einsicht hier zu vermitteln. Ich glaube kaum, ein Gericht hätte sich hier so "verbissen", zumal die Verteidigung hier auch nichts entgegenbrachte.
2. Oder das Gericht hätte gesagt: Wir glauben M., dass er das Gerät erst im Oktober 2008 auf dem Flohmarkt erworben hat. Es gibt dafür zwar keinen Anhaltspunkt, es ist alles geprüft worden, aber wir können es ihm nicht widerlegen.
Der BGH hätte 2. kassiert und gesagt, das könne das Ergebnis des Gutachtens nicht vom Feld boxen.
Und das ist irgendwie auch einsichtig.