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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

11.655 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Wald, Entführung, München ▪ Abonnieren: Feed E-Mail
Zu diesem Thema gibt es eine von Diskussionsteilnehmern erstellte Zusammenfassung im Themen-Wiki.
Themen-Wiki: Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 15:52
Zitat von AndanteAndante schrieb:Wenn also ein Fall zur Anklage kommt, hat die StA vorher für sich geprüft, ob die Sache für die Anklage ziemlich wasserdicht ist.
Damit meine ich, dass die StA zur Aufklärung des Sachverhalts im Ermittlungsverfahren bereits jede Menge Zeugen gehört, Gutachten eingeholt hat etc. Das passiert ja nicht erstmals bei Gericht.

Die Rolle der StA wird ganz allgemein im Krimiforum vielfach nicht ausreichend gesehen. Aber wer jemals eine Anklageschrift gelesen hat, weiß, was „Ermittlungen“ bedeutet, nämlich Arbeit. In der Anklageschrift bezeichnet die StA natürlich auch die Beweismittel, mit denen sie glaubt, die Anklage beweisen zu können. Sie legt also die staatsanwaltschaftlichen Vernehmungsprotokolle vor, ebenso eingeholte Gutachten, ggf. Urkunden, und beantragt, dass das Gericht die von ihr benannten Zeugen und Sachverständigen laden und hören soll.

Der Angeklagte bzw. seine Verteidiger können selbstverständlich ebenfalls beantragen, Zeugen und Sachverständige zu hören.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 17:46
Zitat von AndanteAndante schrieb:Rationalheld schrieb:
Im vorliegenden Fall wird die mangelnde Systematik, die Textinterpretationen aufweisen und die Naturwissenschaftler besonders befremden muss, nicht zuletzt daran ersichtlich, dass allein die Auswahl relevanter Textpassagen beliebig erscheint.

Nein, das ist nicht beliebig, sondern das Gegenteil. Das Gericht begründet doch gerade, warum es diese Textpassagen für relevant hält. Jede Prozessordnung sieht vor, dass die wesentlichen Entscheidungsgründe, also das, was das Gericht für wichtig gehalten hat, in den Urteilstext kommt. Für dich wäre vielleicht etwas anderes wichtig gewesen, wenn du das Gericht gewesen wärest, und dann hättest du eben das für dich Wesentliche in dein Urteil schreiben müssen.

Es geht nun mal nicht, dass in Urteilen alle Vernehmungsprotokolle, alle Gutachten, die Anklageschrift etc. voller Länge angedruckt werden, dann wären die meisten Urteile ja tausende bis zehntausende von Seiten lang. Daher kann und muss sich natürlich ein Gericht darauf beschränken, das zu zitieren, was es bei seiner Entscheidungsfindung für wesentlich hielt.

Ein Urteil ist nun mal keine bloße Wiedergabe des gesamten Alteninhalts, sondern das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses. Mag sein, dass Techniker und Naturwissenschaftler ihre Schwierigkeiten damit haben, aber darauf kommt es nicht an. Gerichte spielen nach anderen „Spielregeln“, nämlich unter Zugrundelegung des materiellen Rechts UND des Prozessrechts.
Ich hatte diesen Einwand erwartet. Es ist mir klar, dass das Zitieren eines Ausschnitts im Urteil das Ergebnis eines Auswertungsprozesses des gesamten Materials ist und dass dieses Material selbst nicht vollständig Eingang ins Urteil finden kann. Mein Punkt war, dass der Adressat der Urteilsbegründung - das Volk - der Begründung gar nicht folgen kann, weil sich die Bedeutung des Ausschnitts nur ermessen lässt, wenn man das Ganze kennt. Wenn man zum Beispiel wüsste, dass fünf Stunden langes Abhörmaterial existiert, das im Urteil keine Erwähnung findet, weil es den Verurteilten nicht belastet, so wäre die Überzeugungskraft des Zitats schon allein aus dieser quantitativen Erwägung heraus stark relativiert. Eine große Menge von Äußerungen über die Tat, die kein Insider-Wissen enthalten, wären tendenziell entlastend. Etwas anderes wäre es, wenn man eine Textstelle gefunden hätte, an der Täterwissen aufscheint; dann hätte ein Mini-Zitat genügt, um dem Volk klarzumachen, dass das Indiz belastend ist. Aber genau das ist ja nicht gelungen, weshalb man schließlich diesen dürftigen Betriebsunfall heraussieben musste, weil man sonst gar nichts gehabt hätte. Ich hoffe, meine nicht-juristischen Gedankengänge sind einigermaßen verständlich.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist Textinterpretation übrigens sehr wohl beliebig, da sie nicht nach vorab festgelegten, eindeutigen Kriterien vorgeht. Dadurch sind der Subjektivität Tür und Tor geöffnet, und jeder Interpret kommt zu einem anderen Ergebnis. Und dass diesem Ergebnis dann, wie du herausstellst, noch eine Begründung folgt, ist toll, ändert aber nichts daran, dass wir hundert verschiedene Ergebnisse haben. Dann haben wir eben noch hundert Begründungen dazu. Wenn du sagst, es liegt aus juristischer Sicht keine Beliebigkeit vor (oder sogar das Gegenteil davon!), da ja alles begründet wird, kann ich nur sagen: Glückwunsch, liebe Juristen, ihr habt es besser.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 18:44
Zitat von Mr.JimStringerMr.JimStringer schrieb:Und klar wer führt in der beigefügten Statistik mit großem Abstand: Der Freistaat Bayern
Nicht verwunderlich. In Bayern ist man verurteilungsfreudiger als in anderen Bundesländern. So wie auch der Strafausspruch härter ist und der Strafvollzug strenger.

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/wo-deutschlands-strengste-richter-sitzen-a-1230399.html
https://www.sueddeutsche.de/panorama/regionale-unterschiede-in-der-rechtsprechung-hartes-bayern-milder-norden-1.4142866

Das ist nicht nur Folklore, sondern auch eine Philosophie, wie das Bundesrecht angewandt wird. Denn die Strafgesetze vollziehen die Länder als eigene Angelegenheit. Keine Frage, dass hier die Politik und Kultur ihre Auswirkungen entfalten: "Mia san mia!" Dafür gibt es in Bayern z.B. die Pflichtrotation:
Auch Richter beginnen in Bayern ihre Laufbahn als Staatsanwalt. In der Regel müssen sie später immer wieder zur Staatsanwaltschaft zurück. Das schafft vielerorts Verständnis, Nähe und persönliche Verbundenheit. (...) Es soll schon vorgekommen sein, dass innerhalb eines Gerichts einem Richter eine Beförderung mit der Begründung verweigert wurde, er habe sich gegenüber der Staatsanwaltschaft zu wenig entgegenkommend gezeigt.
Quelle: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-123856912.html

Das darf man in seinen Auswirkungen nicht unterschätzen. Ich kann aus eigener Anschauung bestätigen, was in diesem Spiegel-Artikel steht. Man muss aber auch darauf hinweisen, dass die Qualität der Rechtsprechung auf einem sehr hohen Niveau ist, weil alleine die Note im 2. Staatsexamen darüber entscheidet, ob man in den Justizdienst kommt. Mein Ansprüche werden da in anderen Bundesländern nicht immer erfüllt. Für Strafverfahren dürfte das aber nicht so entscheidend sein.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 18:56
Zitat von RationalheldRationalheld schrieb:Glückwunsch, liebe Juristen, ihr habt es besser.
So ist doch das Leben: man beschuldigt, verzeiht oder bestraft, jeder für sich, in seinem Umfeld aufgrund subjektiver Beweggründe. Richter versuchen so objektiv zu sein wie möglich, urteilen auch auf Grund ihrer Erfahrungen, urteilen stellvertretend für die Gesellschaft, sind aber auch nur Menschen. Im vorliegenden Fall waren midestens 4 von 5 Richter für die Verurteilung. Selbst wenn Herr Mazurek gestanden hätte, was wäre das richtige Strafmaß gewesen? Ähnliche Fälle haben oft verschieden strenge Urteile. Woher kommt das? Es gibt keine messbare Objektivität, sondern nur Interpretation. Wenn man das Volkes urteilen lassen würde, also eine Volksabstimmung abhalten: wetten das die Urteile noch viel krasser wären?

Man könnte auch eine KI trainieren, Urteile auf Grund der Indizien zu fällen. Aber wer wollte sich dem unterordnen?
Es ist ja nicht einmal möglich Lottozahlen mit Hilfe eines elektrischen Zufallsgenerator zu ziehen. Alle würden sagen: "das geht aber so nicht, wir wollen sehen, wie das Ergebnis zu Stande kommt!"


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 19:15
Ebenso wie das Gericht in stundenlangen Abhörprotokollen krampfhaft nach belastenden Passagen sucht und letztlich die Stichworte "Betriebsunfall" und "Verjährung" als belastend entdeckt, selektiert es auch Texte in Gutachten. So ergibt sich für einen halbwegs fachkundigen Leser das Gefühl Nanu? Für den nicht fachkundigen klingt das Ganze plausibel, obwohl es das objektiv nicht ist.

Zum Urteil S.87, Antenne des Transistorradios

Urteil 001-310 bild - 0087 randOriginal anzeigen (0,2 MB)

Die Ausführungen des Urteils behaupten, dass die Stabantenne ausgebaut und durch eine im Inneren des Radios angelötete braune Litze ersetzt wurde, die bis zur Erdoberfläche führt.

Das ist falsch. Das Gericht hat nämlich einen Teil des Gutachtens ignoriert. Die Stabantenne wurde zunächst durch eine 45 cm lange, schwarze Litze ersetzt, die im Radio angelötet war. Die schwarze Litze wurde erst in einem zweiten Schritt mit der braunen Leitung verlängert. Und zwar wurde sie nicht angelötet sondern mit einer blanken, nicht isolierten Würgeverbindung mit der schwarzen Leitung verbunden. (siehe Gutachten S.7)

Es ist weder erwiesen noch wahrscheinlich, dass die Antenne entfernt wurde, um sie durch eine längere Leitung bis zur Erdoberfläche zu ersetzen. Wahrscheinlich ist, dass die Stabantenne abgebrochen ist und durch die schwarze Litze ersetzt wurde.
Am Tatort wurde später die braune Leitung zur Erdoberfläche angeschlossen. Bei noch vorhandener Antenne wäre es naheliegend gewesen, die braune Leitung an der Antenne zu befestigen, ohne diese auszubauen, z.B. mit einem Knoten.

Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass der Ersatz der Stabantenne einschließlich Lötverbindung und die Verlängerung der Antenne zur Erdoberfläche zum gleichen Zeitpunkt und durch dieselbe Person erfolgt sind. Es ist eher anzunehmen, dass es sich dabei um zwei völlig unabhängige Maßnahmen handelt.

Die im Radio angelötete Leitung unterscheidet sich sehr wohl von dem Leitungsmaterial der Kistenbeleuchtung. Das Z in NYZ bedeutet übrigens Zwillingsleitung, also zweiadrig. Eine solche ist für die Beleuchtung erforderlich. Der im Radio angelötete schwarze Antennendraht ist nur einadrig. "Fachmännisch" mag einen Laien überzeugen und (natürlich) auf WM hinweisen. Statt fachmännisch sollte es eher "schlampig" heißen. Fachmännisch wäre es, den Ersatzdraht in der Leiterplatte des Radios anstelle der bisherigen internen blauen Antennenzuleitung zu verlöten. Die sogenannte fachmännische Lötstelle samt Isolierband und Kordel hätte es in dem Fall gar nicht gegeben.

Außerdem könnte man dem Gutachter vorwerfen, dass er niemals ausprobiert hat, ob das Radio mit einem eingegrabenen Draht als Antenne unter der Erde überhaupt funktioniert hätte. Eine eingegrabener Draht ist ist eben keine Antenne. Wahrscheinlich hatte er auch nicht den Auftrag, das zu prüfen. Das ist nämlich wieder so ein Fall, in dem das Gutachten ursprünglich nicht für die Beweisführung vor Gericht verfasst wurde.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 19:20
Zitat von JosephConradJosephConrad schrieb:Man könnte auch eine KI trainieren, Urteile auf Grund der Indizien zu fällen.
Tja, das habe ich mir auch schon gedacht. Dann wäre WM wahrscheinlich frei.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 20:02
Zitat von monstramonstra schrieb:as darf man in seinen Auswirkungen nicht unterschätzen. Ich kann aus eigener Anschauung bestätigen, was in diesem Spiegel-Artikel steht. Man muss aber auch darauf hinweisen, dass die Qualität der Rechtsprechung auf einem sehr hohen Niveau ist, weil alleine die Note im 2. Staatsexamen darüber entscheidet, ob man in den Justizdienst kommt. Mein Ansprüche werden da in anderen Bundesländern nicht immer erfüllt. Für Strafverfahren dürfte das aber nicht so entscheidend sein.
Danke für den sehr aufschlussreichen Spiegelartikel.

Durchchoreografierte Befragung, Günther Beckstein. Mehr muss man nicht wissen......


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 20:04
Zitat von roberndrobernd schrieb:Fachmännisch wäre es, den Ersatzdraht in der Leiterplatte des Radios anstelle der bisherigen internen blauen Antennenzuleitung zu verlöten. Die sogenannte fachmännische Lötstelle samt Isolierband und Kordel hätte es in dem Fall gar nicht gegeben.
Weißt Du was es für einen Aufwand gewesen wäre, die Leiterplatte herauszulösen um auf die Lötseite zu kommen? Und dann wäre die Litze wahrscheinlich zu dick gewesen um die Leiterplatte wieder bündig einzusetzen. Ganzu zu schweigen von den Kunstoffassungen für die Platinenschrauben, die vielleicht gar nicht mehr gegriffen hätten. Daher finde ich die gewählte Lösung pragmatisch, ich hätte auch das bestehende dünne Kabel verlängert, also bin ich kein Fachmann.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 20:25
Wenn wir schon dabei sind, machen wir mit den Klebebandstücken an Radio und Klingeldraht weiter.

Zum Urteil S.72/73, Übereinstimmung der PVC-Klebebänder

Die Ausführungen des Gerichts suggerieren, dass im Wesentlichen aufgrund gleicher Isotopenverhältnisse die Isolierbänder am Klingeldraht und im Transistorradio von der gleichen Rolle bzw. vom gleichen Besitzer stammen und deshalb die Täter sowohl den Klingeldraht verlegt haben als auch die Antenne des Transistorradios ausgebaut haben.

Dieser Schluss ist falsch. Das Gutachten zu den Klebebändern legt lediglich dar, dass ein gemeinsamer Ursprung der Klebebänder nicht ausgeschlossen werden kann.

Urteil S. 72/73
Klebeband randOriginal anzeigen (0,2 MB)

Die Frage ist, ob prinzipiell unterschiedliche Isotopenverhältnisse bei Klebebändern gleichen Materials zu erwarten sind.
Die Antwort lautet Nein.

In der Natur kommen chemische Elemente in unterschiedlichen Varianten vor, die wir als Isotope bezeichnen. Die unterscheiden sich untereinander durch den Aufbau des Atomkerns und damit durch ihr Atomgewicht. Im konkreten Fall geht es um die Elemente Kohlenstoff und Wasserstoff. Das Verhältnis stabiler (nicht radioaktiver) Isotope in der Natur hat ihren Ursprung in der Entstehung der Erde und ist in der Regel gleich. Auch die chemischen Eigenschaften der unterschiedlichen Isotope eines Elements sind grundlegend gleich. Es gibt aber geringe Massenunterschiede zwischen den Isotopen eines Elements, die bei manchen chemischen Reaktionen eine Rolle spielen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Reaktionen, die durch Mikroorganismen gesteuert werden.

Die Hauptbestandteile organischer Materialien wie PVC (Polyvinylclorid) sind die Elemente Kohlenstoff und Wasserstoff. Deren chemische Symbole sind C für Kohlenstoff und H für Wasserstoff. Das Gericht nimmt Bezug auf das Gutachten von Dr. S., in dem es um die Kohlenstoffisotope 13C und 12C sowie die Wasserstoffisotope 2H und 1H geht. Die hochgestellten Zahlen geben das Atomgewicht an. Die Mengenverhältnisse aus 13C- und 12C-Atomen sowie 2H- und 1H-Atomen entsprechen denen der Ausgangsmaterialien, aus denen PVC hergestellt wird. Das ist Erdöl. Die Verhältnisse im Erdöl sind durch die Entstehung des Erdöls durch Mikroorganismen beeinflusst. Dabei können unterschiedliche Erdölsorten auch unterschiedliche Isotopenverhältnisse aufweisen. In verschiedenen PVC-Proben sind deshalb nur dann unterschiedliche Isotopenverhältnisse zu erwarten, wenn sie auch aus Erdölsorten mit unterschiedlichen Isotopenverhältnissen hergestellt sind. Bei PVC aus europäischer Produktion sollten die Rohstoffe und deren Isotopenverhältnisse im Wesentlichen gleich sein. Außerdem ist anzunehmen, dass PVC-Folien für die Herstellung von Klebebändern von nur wenigen Zulieferern stammen. Deshalb können auch Klebebänder unterschiedlichen Ursprungs bzw. unterschiedlicher Hersteller identisch sein.

Entsprechend zurückhaltend Bewerteten die Gutachten auch die Analyseergebnisse der Klebebänder:

Aus Gutachten Dr. S., 09.02.2009
Schlussfolgerung markOriginal anzeigen (1,1 MB)

Bei Klebebändern aus Polypropylen ließe sich demnach aus unterscheidbaren Isotopenverhältnissen schließen, dass sie keinen gemeinsamen Ursprung haben. Den Umkehrschluss, dass Klebebänder mit nicht unterscheidbaren Isotopenverhältnissen einen gemeinsamen Ursprung haben, gibt diese Formulierung nicht her. Auch Polypropylen ist auf der Basis von Erdöl gefertigt, und es sollten die gleichen Isotopenverhältnisse vorliegen wie beim Polyvinylclorid.

Aus der Übereinstimmung anderer analytischer Merkmale schließen die Gutachter nicht, dass die zwei Klebebänder (am Klingeldraht und im Transistorradio) gleichen Ursprungs sind, sondern lediglich, dass es sich um baugleiche Produkte handeln könnte. Gleichartige Isolierbänder gab es um 1980 von verschiedenen Herstellern, von denen sicher auch einige baugleich waren.

Bemerkenswert ist ein nachweisbarer Farbunterschied zwischen den Klebebändern am Klingeldraht und im Transistorradio:

Aus Gutachten Dr. S., 09.02.2009
Farbe markOriginal anzeigen (0,3 MB)

Dieser Unterschied wird durch mögliche unterschiedliche Vorbehandlungen und Bewitterungssituationen erklärt. Es bleibt offen, ob dabei eine mehrmonatige Aufhängung im Freien gegenüber einer 28 Jahre langen Lagerung ausschlaggebend ist oder doch eine andere Herkunft der Klebebänder.

Aus dem Gesamtergebnis der Begutachtung

"Ein gemeinsamer Ursprung der Asservate kann somit nicht ausgeschlossen werden"

lässt sich keinesfalls schließen, dass die Klebebänder am Klingeldraht und am Transistorradio zwingend gleichen Ursprungs sind. Damit ist meine Vermutung nicht infrage gestellt, dass die "fachmännische" Entfernung der Stabantenne unabhängig von der Entführung erfolgt ist.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 20:41
Zitat von JosephConradJosephConrad schrieb:Weißt Du was es für einen Aufwand gewesen wäre, die Leiterplatte herauszulösen um auf die Lötseite zu kommen? Und dann wäre die Litze wahrscheinlich zu dick gewesen um die Leiterplatte wieder bündig einzusetzen. Ganzu zu schweigen von den Kunstoffassungen für die Platinenschrauben, die vielleicht gar nicht mehr gegriffen hätten. Daher finde ich die gewählte Lösung pragmatisch, ich hätte auch das bestehende dünne Kabel verlängert, also bin ich kein Fachmann.
OK, akzeptiert :)
Ich glaube aber nicht, dass du ein Isolierband ziemlich lose drumherumgeklebt hättest und es mit einer Kordel zusammengebunden hättest, wenn es nicht halten will. Ich zumindest hätte einen Isolierschlauch über die Lötstelle geschoben. Dafür hätte ich die Flickstellen im Klingeldraht überhaupt nicht isoliert. Die liegen nämlich in Längsrichtung ziemlich weit auseinander.

Aber hättest du die Antenne auch ausgebaut, um eine Litze bis zur Erdoberfläche so zu befestigen?


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 21:06
Zitat von RationalheldRationalheld schrieb:Dass die Deutung von Texten unweigerlich eine Tendenz hat (die dem Deutenden gar nicht bewusst sein muss), zeigt ja gerade auch die Interpretation der Äußerungen des anderen Verdächtigen. Hier ist alles Gesagte, wie brisant es auch sein mag, laut Urteil plötzlich glasklar entlastend oder zumindest nicht belastend. Problematisch ist eben, dass das Ergebnis solcher hermeneutischer Indizien im Endeffekt genauso als 'Fakt' behandelt wird wie ein naturwissenschaftlich gewonnenes Indiz. Aber während letzteres objektiv widerlegt werden kann, kommt man gegen Interpretationen nicht an. Das ist ein unfairer Kampf.
Umgekehrt wäre es aber auch ein unfairer Kampf: Wenn nur naturwissenschaftlich gewonnene Indizien gelten würden, könnte z.B. bei bei einem Haar am Tatort, dessen DNA mit der des Angeklagten übereinstimmt. Dann kann nur festgestellt werden, es wurde ein Haar des Angeklagten am Tatort gefunden. Aber nicht, ob er auch zur Tatzeit am Tatort war. Es muss also wieder interpretiert werden.

Die Frage, ob er kein Alibi hat, steht der Naturwissenschaft dann ebenso wenig offen, wie die Wertung zweier sich widersprechender Zeugenaussagen. Und wenn Wertungen begründet werden müssen, dann landet man schnell bei der Hermeneutik. Sonst gäbe es Begründungen wie: "Der Angeklagte sieht verschlagen aus. Außerdem hat er gelogen. Sein Verteidiger kritisiert fortwährend das Gericht. Deshalb ist er zu verurteilen." Aus der Psychologie wissen wir freilich, dass das kein objektiver Prozess ist, sondern die Auslegung der Intuition oder der präferierten Rechtsfolge folgt.

M.a.W.: Glaubt der Richter, dass der Angeklagte es war, wählt er die Interpretation, die diese Auffassung unterstützt. Form follows function.
Zitat von RationalheldRationalheld schrieb:Aus wissenschaftlicher Sicht ist Textinterpretation übrigens sehr wohl beliebig, da sie nicht nach vorab festgelegten, eindeutigen Kriterien vorgeht. Dadurch sind der Subjektivität Tür und Tor geöffnet, und jeder Interpret kommt zu einem anderen Ergebnis. Und dass diesem Ergebnis dann, wie du herausstellst, noch eine Begründung folgt, ist toll, ändert aber nichts daran, dass wir hundert verschiedene Ergebnisse haben. Dann haben wir eben noch hundert Begründungen dazu. Wenn du sagst, es liegt aus juristischer Sicht keine Beliebigkeit vor (oder sogar das Gegenteil davon!), da ja alles begründet wird, kann ich nur sagen: Glückwunsch, liebe Juristen, ihr habt es besser.
Juristen haben es nicht besser. Denn sie müssen ja nicht nur interpretieren, sondern sie müssen eine Entscheidung treffen, die mit den gesetzlichen Maßstäben übereinstimmt. Ein Arzt muss auch therapieren, nicht nur diagnostizieren. Die Textinterpretation ist bei Juristen auch nicht beliebig, das ist ein Irrtum. Bei der Auslegung von Rechtsnormen folgt sie relativ strengen Regeln, wobei die Rechtsprechung dann konkret den Takt vorgibt. Was also "Habgier" ist, ist durch die Kasuistik sehr stark bestimmt. Das hat ein Richter zu beachten, wenn er deshalb wegen Mordes verurteilt.

Bei Texten in Urkunden ist man freier, aber wie auch bei Wissenschaftsdisziplinen, die aufgrund ihrer disziplinären Methodik Texte unterschiedlich interpretieren (ein Goethe-Gedicht, ein Brief von Reagan an Gorbatschow, eine Sure im Koran), muss der Jurist eine grammatische, eine systematische, eine teleologische, eine historische Auslegung vornehmen. Bei mündlichen Aussagen muss er im Gerichtssaal nachfragen, ggf. eine Bestätigung oder Relativierung einer Aussage einholen. Und weil er den technischen und naturwissenschaftlichen Gutachtern immer eine Fragestellung mit auf den Weg gibt, muss er die Frage so formulieren, dass sie vom Gutachter fachgerecht beantwortet werden kann.

Ohne die Subjektivität, ohne die subjektive Überzeugung, auf die es letztlich ankommt, geht es nicht. Der Rahmen dafür kann unterschiedlich groß sein, je nach Fall, nach Beweisen, nach Verfahren. Apropos Verfahren: Das ist sehr wichtig. Im Sinne Luhmanns "Legitimation durch Verfahren" ist die Beachtung der Verfahrensvorschriften eine sehr viel objektiverer Maßstab. Hier findet auch die eigentliche Kontrolle durch den BGH statt. Hatte der Angeklagte einen Verteidiger, wurden dessen Beweisanträge richtig entschieden, war das Protokoll richtig geführt, waren die Richter nicht befangen, wurde der Prozess ordnungsgemäß durchgeführt, wurden nur die Beweise herangezogen, die auch verwertet werden durften usw.?

Aber so, wie ein Computerprogramm dem Arzt nicht vorgeben kann, ob er seinem Patienten die COVID 19-Impfung trotz seiner Impfunverträglichkeiten verabreicht, so kann KI nicht die Beweiswürdigung vornehmen. Das Leben ist zu komplex und das Gesetz zu abstrakt. Das Ergebnis ist häufig - wie in der Politik - unbefriedigend, weil bei bestehender Sachlage auch eine andere Entscheidung hätte getroffen werden können.

Für mich ist immer der Maßstab: Hätte das Gericht M. auch frei sprechen können? Wenn es einige Indizien anders interpretiert hätte, was gegangen wäre, dann wäre es möglich gewesen:

- P ist unglaubwürdig.
- In M.s Werkstatt wurde nichts vom Kistenbau gefunden.
- Die abgehörten Gespräche können so oder so interpretiert werden.
- Polizeifunk hörte 1981 jeder.
- Der Hund in der Gefriertruhe sagt nichts über die Täterschaft aus.

Ein Problem hätte es aber gegeben: Das Tonbandgutachten.

1. Das Gericht hätte entweder darauf kommen müssen, dass die Expertise nicht verwendbar ist. Aufgrund der vielen möglichen technischen Parameter, die unbekannt sind und auf die polizeiliche Aufnahme eingewirkt haben, könne technisch nicht seriös beantwortet werden, welches Tonbandgerät am Anfang der Übertragungskette verwendet worden ist und ob es mit dem TK 248 des Angeklagten übereinstimmt.

Wir wissen, wie schwer es @robernd gefallen ist, diese Einsicht hier zu vermitteln. Ich glaube kaum, ein Gericht hätte sich hier so "verbissen", zumal die Verteidigung hier auch nichts entgegenbrachte.

2. Oder das Gericht hätte gesagt: Wir glauben M., dass er das Gerät erst im Oktober 2008 auf dem Flohmarkt erworben hat. Es gibt dafür zwar keinen Anhaltspunkt, es ist alles geprüft worden, aber wir können es ihm nicht widerlegen.

Der BGH hätte 2. kassiert und gesagt, das könne das Ergebnis des Gutachtens nicht vom Feld boxen.

Und das ist irgendwie auch einsichtig.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 21:24
Zitat von roberndrobernd schrieb:Aber hättest du die Antenne auch ausgebaut, um eine Litze bis zur Erdoberfläche so zu befestigen?
Ich hätte die Antenne drin gelassen und ausgezogen. Ich vermute, das Radio hätte gespielt, es gab ja starke Sender in der Nähe (im Hauskeller ca. 1,80m unter dem Boden funktioniert es, das habe ich probiert). Das Holz dürfte nicht groß abgeschirmt haben.

Die Charakterisierung "ein Fachmann" ist mMn. sowieso so eine Sache: ich bin der Meinung, wie so eine Arbeit durchgeführt wird, ist eine reine Charakerfrage. Ich selbst habe schon ab dem Alter von 12 Jahren Platinen geätzt, Bausätze verlötet, gebastelt, später zwei komplette Computersysteme mit mehreren Platinen gebaut zig- tausende Lötstellen gesetzt und so fast meine ganze Jugend verschwendet, bevor ich studiert habe ;-).

Leider war ich immer etwas grobmotorisch. Mein Kumpel war ein Pedant und seine Werke waren optisch immer viel perfekter als meine. er hätte im Radio wahrscheinlich eine kleine Antennenbuchse eingebaut, die Verbindungsstelle mit Schrumpfschlauch geschützt und das Buchsengehäuse an Masse gelegt. Außerdem hat er immer alle Widerstände auf Platinen so eingelötet, das die Toleranzringe auf der selben Seite waren. Was ich damit sagen will ist: auch wernn jemand den Beruf des Radio- Fernsehmechaniker gelernt hat, so heißt das nur, das er weiß womit er umgeht. Ob er ein Künstler oder ein Stümper ist, das steht auf einem anderen Blatt.
Und ob ein Radio mit langem Draht in der Erde Empfang hat oder nicht, kann er Dir vermutlich genauso wenig sagen wie ich, bis er es ausprobiert hat.


Wg. des Klebebands: das Gutachten sagt oben, dass der Schluss nahe liegt, es könnte sich um baugleiche Produkte handeln. Dann wg. der nicht mehr möglichen Rückverfolgbarkeit der Farben nach 28 Jahren "ein gemeinsamer Ursprung kann nicht ausgeschlossen werden". Gibt es eigentlich ein Gutachten von damals? Da werden die Farben doch noch gestimmt haben.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 21:27
Zitat von Mr.JimStringerMr.JimStringer schrieb:Mehr muss man nicht wissen......
Hm. Doch. Man sollte schon mehr wissen, genauer hinsehen. Ausnahmen können eine Regel bestätigen. Oder sie sind die Regel. Wenn Ausnahmefälle die Regel sind, sollte man immer aufpassen. Nicht immer bleibt die CSU ungeschoren...


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 22:07
Irgendwann kommt er ja immer, der stereotype Hinweis auf die Fälle Mollath und Rupp. Als wenn die irgendwas zum gerade konkret diskutierten Fall Mazurek aussagen könnten. Bei Peggy Knobloch muss man berücksichtigen, dass es da nach dem Leichenfund 2016 neue Entwicklungen und einen neuen Verdächtigen gab, der den in 2014 freigesprochenen Ulvi K. wieder ins Spiel brachte. Da sind die Messen zum angeblichen Justizirrtum nicht gesungen.

Und was die räumliche Nähe von Richtern und Staatsanwälten angeht: Ja, die gibt es. Hauptsächlich, weil die Finanz- und Justizpolitiker Einsparungseffekte erzielen wollen, indem sie sog. Justizzentren mit mehreren Gerichten und der StA darin errichten. Dann gibt es nämlich nur noch eine gemeinsame Wachtmeisterei, nur noch eine Poststelle, nur noch eine Bibliothek, nur noch Eingangsschleuse, wo sämtliche Besucher kontrolliert werden. So braucht man weniger Personal.

Und tatsächlich, da gibt es oft auch eine gemeinsame Kantine. Und ja, da reden da sitzen auch mal Richter und Staatsanwälte nebeneinander. Und die reden sogar mal miteinander! Klar, dass die da immer abgekartete Sache machen und das Urteil feststeht, noch bevor die Hauptverhandlung angefangen hat.....


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

18.12.2020 um 22:33
Zitat von AndanteAndante schrieb:Und ja, da reden da sitzen auch mal Richter und Staatsanwälte nebeneinander. Und die reden sogar mal miteinander!
Die Fälle Rupp, Mollath und Peggy waren nicht mein Thema, keine Sorge. Staatsanwälte und Richter, die gemeinsam Kaffee trinken, sind auch nicht das Problem, so viel Professionalität traue ich ihnen zu. Die Frage war eher, ob und warum die bayerische Justiz im Bundesdurchschnitt relativ viele Fälle produziert, die sowohl hier im Forum als auch statisch überproportional häufig bei Wiederaufnahmen und Haftentschädigungen vertreten sind. Die Gründe sind dort ganz gut beschrieben.

Das Rotationsprinzip in Bayern mag auch Geld sparen, v.a. hat es aber reale Auswirkungen auf die Richterschaft. Es dient ihrer Disziplinierung. Wie auch schon die Ausbildung im Referendariat, die keine praktische Ausbildung ist, sondern die Theorie der Praxis. Hauptarbeit bayerischer Referendare: Lernen auf die 11 fünfstündigen Klausuren des 2. Examens. Wer dann zuerst als Staatsanwalt durch die Eingebundenheit in eine Hierarchie sozialisiert wird, bevor er als Richter ein bisschen unabhängig sein darf, um dann wieder in der Staatsanwaltschaft tätig zu sein, um schließlich wieder Richter zu sein, der ist eher bereit, sich unterzuordnen.

Hier ein kleines Beispiel für den Werdegang einer bayerischen BGH-Richterin:

https://www.kanzlei-hoenig.de/2015/die-karriere-einer-staatsanwaeltin/?newpage=request

Sei es die Anwendung des "Haustarifs" (Strafhöhe), sei es das Vertrauen in die Ermittlungsarbeit der Staatsanwälte, sei es das Befolgen weiterer ungeschriebener Gesetze. Wer seinen eigenen Kopf hat, isoliert sich und landet schnell in den unbeliebtesten und vor Akten überquellenden Ressorts.

Gleiches gilt für die Verwaltungsrichter im Freistaat. Sie müssen vorher Verwaltungsbeamte gewesen sein, die Behörden kennen gelernt haben, ehe sie dann ihre ehemaligen Kollegen kontrollieren dürfen.

Wie groß wäre das Geschrei wohl, wenn die Kontrolleure der Nachrichtendienste des Bundes zuvor BND-, MAD- oder BfV-Mitarbeiter gewesen sein müssten?


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

19.12.2020 um 00:16
Zitat von monstramonstra schrieb:Gleiches gilt für die Verwaltungsrichter im Freistaat. Sie müssen vorher Verwaltungsbeamte gewesen sein, die Behörden kennen gelernt haben, ehe sie dann ihre ehemaligen Kollegen kontrollieren dürfen.
Finanzrichter werden, bevor sie als solche ernannt werden, in allen Bundesländern auch gerne aus dem Kreis von vorherigen Finanzbeamten genommen, einfach weil die Materie, das Steuerrecht, kompliziert ist. Mir sind auch Sozialrichter bekannt, die aus Arbeitsämtern bzw. Hartz-IV-Behörden bzw. aus Krankenkassen kommen. Sie werden genommen, weil sie Vorkenntnisse in der Materie haben. Sozialrecht ist superkompliziert, dagegen ist Strafrecht ein Spaziergang.
Zitat von monstramonstra schrieb:Das Rotationsprinzip in Bayern mag auch Geld sparen, v.a. hat es aber reale Auswirkungen auf die Richterschaft. Es dient ihrer Disziplinierung.
Das muss nicht sein. Es kann auch den Horizont erweitern. Überall sonst im Berufsleben wird Flexibilität gefordert. Im übrigen: Gegen seinen Willen wird, nach Ende der Probezeit, also nach der Lebenszeiternennung, niemand vom Staatsanwalt zum Richter oder umgekehrt.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

19.12.2020 um 01:05
Nachtrag: Mit dem Fall Mazurek hat das direkt nichts zu tun, aber indirekt dann eben doch, wenn man zur Begründung dafür (weil einem sonst nichts einfällt), anführt, dass ein Urteil, in Sonderheit das im Fall Mazurek, schon deshalb falsch sein muss, weil die beteiligten Berufsrichter eben zu diszipliniert, zu angepasst und/oder oder vorher Staatsanwälte oder überhaupt zu unfähig waren, dann noch mal folgendes zur Einstellungs- und Beförderungspolitik bei den Landesjustizverwaltungen:

Zum Leidwesen der Richterschaft selber, und anders als etwa in Italien, bestimmt die Exekutive, wer als Richter eingestellt und befördert wird. Die Richter würden das gerne selber regeln, sie wissen schließlich, wer von den (künftigen) Kollegen gut ist und wer nicht. So eine selbstverwaltete Richterschaft ist aber bisher politisch nicht gewollt und der Exekutive ein Dorn im Auge.

Was nicht automatisch heißt, dass die Exekutive bei der Einstellung und Beförderung von Richtern stets automatisch Missgriffe tut.. Die Richter des BGH oder des Bundesverfassungsgerichts etwa (in unteren Instanzen spielt das keine nennenswerte Rolle) werden von der Exekutive nach Proporz, Parteinähe bzw. -buch, Landsmannschaft, vielleicht auch nach Geschlechterquote ernannt, ohne dass da jedesmal signifikante Fehlbesetzungen stattfinden würden. Sonst wären die Entscheidungen der obersten Bundesgerichte nicht so gut, wie sie sind (wobei die wissenschaftlichen Hilfskräfte, also auf freiwilliger Basis dort tätige Richter aus den Tatsacheninstanzen sicher ihr gutes Teil beitragen. Ich kenne einen Arbeitsrichter, der nach einigen Erfahrungen vor Ort als Tatsacheninstanzrichter später als wissenschaftliche Hilfskraft nicht nur bei Bundesarbeitsgericht war, sondern auch als Referent im für die Gesetzgebung im Arbeitsrecht und im Arbeitsgerichtsgesetz zuständigen Bundesarbeitsministerium, was für alle Teile äußerst befruchtend und gewinnbringend war. Da trafen Theorie und Praxis zünftig aufeinander).

Ganz so einfach ist es also nicht, wie man sich von außen Justiz und das dortige Personal und die dort vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten vorstellt. So viel Bescheidenheit sollte schon sein, es als Möglichkeit zu realisieren, dass auf der Richterbank nicht nur karrieregeile exekutivhörige Trottel sitzen. Auch in Bayern nicht


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

19.12.2020 um 01:58
Zitat von RationalheldRationalheld schrieb:Mein Punkt war, dass der Adressat der Urteilsbegründung - das Volk - der Begründung gar nicht folgen kann, weil sich die Bedeutung des Ausschnitts nur ermessen lässt,
Nein, Adressat eines Urteils ist nicht das Volk. Das Urteil wird zwar im Namen des Volkes gesprochen, womit gemeint ist, dass die Ermächtigung derjenigen, die das Urteil gesprochen haben, vom Volk verliehen ist (jaja, wie Berufs- und ehrenamtliche Richter überhaupt in ihr Amt kommen, ist ein anderes Thema), aber ein Urteil ist immer nur an die jeweiligen Prozessbeteiligten gerichtet, im Falle eines Strafprozesses also an den den Angeklagten und an die StA. Und diese beiden kennen ja die Akten. Und nur sie, nicht das Volk, sind als Prozessbeteiligte daher ja imstande und gesetzlich ermächtigt, Rechtsmittel einzulegen, wenn das Urteil nicht gefällt.

Die sog. „Popularklage“, also dass jedermann, sprich „das Volk“, jederzeit gegen ein Urteil vorgehen kann, das ihm nicht gefällt, ist im Strafrecht nicht vorgesehen, auch nicht realisierbar.
Zitat von RationalheldRationalheld schrieb:Aus wissenschaftlicher Sicht ist Textinterpretation übrigens sehr wohl beliebig, da sie nicht nach vorab festgelegten, eindeutigen Kriterien vorgeht. Dadurch sind der Subjektivität Tür und Tor geöffnet, und jeder Interpret kommt zu einem anderen Ergebnis.
Ja, das ist so. Der Unterschied ist halt, das beim einen Interpreten (Prozessbeteiligte), soweit gesetzlich vorgesehen, Rechtsmittel möglich sind, bei den anderen Interpreten (Volk) nicht.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

19.12.2020 um 05:43
Hm, die Diskussion ist ja ganz interessant und ich, als Jurist, kann prinzipiell und im Einzelnen weitgehend allem, was @Andante hier schreibt zustimmen. Und ich lese oder überfliege auch die technischen Kommentare hier, wobei ich zugebe, dass das für mich eine fremde Welt ist. Nur, ich frage mich inzwischen, was uns das in diesem konkreten Fall bringt.

Die Grundsatzdiskussion über bayerische Justiz bringt uns nicht weiter. Das Urteil existiert nun einmal und wird nicht dadurch zweifelhaft oder gar aufgehoben, dass es in Bayern Staatsanwälte gibt, die Richter werden und umgekehrt usw (es gibt auch Menschen wie mich, die aus der Exekutive kommen und dann freiberufliche Strafverteidiger werden usw.)

Was die vielen Beiträge jener angeht, die Mazurek für unschuldig halten, habe ich den Eindruck, dass diese auf einzelnen technischen Dingen beruhen, die aber überbewertet werden. Mir kommt es ein wenig so vor, als wenn im Urteil steht: die Tat fand in einem Tannenwald statt und man findet nun in jenem Wald, in dem 200 Tannen stehen, auch 13 Laubbäume, und meint nun, weil das Gericht von einem Tannenwald sprach, und nicht von einem Mischwald, der zu 90% aus Tannen besteht, muss das Urteil nun unbedingt falsch sein und der Verurteilte unschuldig.

Ich bleibe am Gesamteindruck aller Indizien hängen und der sagt mir, das Urteil ist richtig, Mazurek ist der Täter. Noch hat mich kein noch so technisches Gegenargument überzeugt.


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Der Fall Ursula Herrmann, Anfang 80er Jahre

19.12.2020 um 08:25
Zitat von Rick_BlaineRick_Blaine schrieb:Was die vielen Beiträge jener angeht, die Mazurek für unschuldig halten, habe ich den Eindruck, dass diese auf einzelnen technischen Dingen beruhen, die aber überbewertet werden.
Vor dem Überbewerten werden sie übrigens zunächst noch interpretiert, man macht also genau das, was man dem Gericht hier dauernd vorwirft.

Hier ein paar Beispiele freier Interpretationen, die angebliche Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten beinhalten und die suggerieren, was "man", sprich Werner Mazurek getan hätte. Die Frage ist nur, woher weiß der User das?
Zitat von roberndrobernd schrieb:Wahrscheinlich ist, dass die Stabantenne abgebrochen ist und durch die schwarze Litze ersetzt wurde.
Zitat von roberndrobernd schrieb:Bei noch vorhandener Antenne wäre es naheliegend gewesen, die braune Leitung an der Antenne zu befestigen, ohne diese auszubauen, z.B. mit einem Knoten
Zitat von roberndrobernd schrieb:Es ist eher anzunehmen, dass es sich dabei um zwei völlig unabhängige Maßnahmen handelt.
Zitat von roberndrobernd schrieb:Fachmännisch wäre es, den Ersatzdraht in der Leiterplatte des Radios anstelle der bisherigen internen blauen Antennenzuleitung zu verlöten.
Da frage ich mich, warum WM in seinem Prozess nicht detailliert vorgetragen hat, was "fachmännisch" gewesen wäre. Hat er das nicht erkannt?
Zitat von JosephConradJosephConrad schrieb:Die Charakterisierung "ein Fachmann" ist mMn. sowieso so eine Sache: ich bin der Meinung, wie so eine Arbeit durchgeführt wird, ist eine reine Charakerfrage
Eben, man kann hier nur sagen, dass der Täter handwerkliche Kenntnisse und Übung hatte. Für weitere Differenzierungsmöglichkeiten müsste man den mutmaßlichen Urheber der Bastelarbeiten, also W. Mazurek und dessen Vorgehensweisen konkret kennen.
Zitat von Rick_BlaineRick_Blaine schrieb:Noch hat mich kein noch so technisches Gegenargument überzeugt.
Wenn man sich die Gegenargumente mal genauer ansieht, sind sie auch befremdlich.

Das Gericht stellte nach Gutachtenlage fest, dass das gelbe PVC-Klebeband, mit dem eine Würgeverbindung des Klingeldrahtes abisoliert wurde, von dem gelben Klebeband, mit dem eine Lötstelle am Radio isoliert wurde, nicht zu unterscheiden sei.

Einfach ausgedrückt: Die Richter sahen zweimal gelbes Klebeband in Verbindung mit dem Tatort und dachten sich: "Aha, das könnte das gleiche sein! Schauen wir mal genauer."

Das Gericht holt ein Gutachten dazu ein. Die Gutachter machen eine Isotopenanalyse, machen darüber hinaus weitere instrumentell-analytische Vergleichsverfahren. Ergebnis = kein wesentlicher Unterschied bei den Klebebändern feststellbar.

Das Gericht sagt: Die These, dass es sich um das gleiche Klebeband handelt, wurde nicht widerlegt. Es ist naheliegend, dass es sich um Klebeband von einer Rolle handelt, welches der Täter beim Radioumbau und beim Draht benutzte.

@robernd sagt, nenene, die könnten aber doch immer noch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht gleich sein und dann wäre da gar kein Zusammenhang! Dann könnte nämlich zwar die Isolierung am Radio nach fachmännischer Arbeit am selbigen von einem - sagen wir mal - unbekannten Radio- und Fernsehmechaniker mit gelbem Klebeband durchgeführt worden sein, aber die Arbeit am Klingeldraht, die wäre vom Täter, einem "Nicht-Radio-und Fernsehmechaniker" mit ganz anderem gelbem Klebeband durchgeführt worden.

Also ich finde diese Herangehensweise zeugt von einer gewissen Befangenheit und die Schlussfolgerungen des Gerichts sehe ich da doch tatsächlich weniger selektiv und unparteiischer.

Es spricht nun wirklich einiges dafür, dass das durch analytische Verfahren nicht unterscheidbare gelbe Klebeband am Radio und am Draht das Gleiche ist und der Täter sowohl am Radio als auch am Draht gebastelt hat, so wie er sich überhaupt in diesem Entführungsfall handwerklich betätigte und ein gewohnheitsmäßiger Bastler zu sein scheint.


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