Das ist ein altes Problem:
jamie71 schrieb:a) Warum wird dem vom AG erstinstanzlich verurteilten Kaufhausdieb neben der Revision mit der Berufung eine zweite Tatsacheninstanz zugestanden, während einem erstinstanzlich vom LG/OLG wegen Kapitalverbrechen Verurteilten eine zweite Tatsacheninstanz versagt wird?
Weil sich der Gesetzgeber dafür entschieden hat, bei sehr schweren Straftaten (Große Strafkammer beim Landgericht) nur eine einzige Beweisaufnahme durchzuführen. Und die dafür ordentlich und mit hohen (v.a. verfahrensrechtlichen) Anforderungen. Ein langer und intensiver Indizienprozess, wie er in Deutschland üblich ist, kann tatsächlich nur einmal sinnvoll durchgeführt werden. Man denke an den NSU-Prozess.
Die Alternative, so ist es in anderen Ländern: Es gibt eine Berufung, d.h. einen vollen zweiten Prozess - dafür sind dann die Beweisaufnahmen knapper gehalten. Italien arbeitet so, wenn ich an den Fall Kercher denke.
Wikipedia: Mordfall Meredith KercherDie Gefahr bei einer Berufungsmöglichkeit: Das Verfahren wird insgesamt ewig in die Länge gezogen, es vergehen Jahre, bis Rechtssicherheit herrscht. Zeugen müssen zwei Mal aussagen (mit allen Gefahren, die das hat), Beweismittel altern. Es besteht auch die Gefahr, dass die Polizei nicht so sorgfältig ermittelt, Beweismittel erst nachgeschoben werden, bis zum 2. Prozess weiter ermittelt wird usw. Und es gibt die große Gefahr, dass bei komplexen Indizienprozessen widersprüchliche Ergebnisse herauskommen. Freispruch im ersten Verfahren, Verurteilung im zweiten Verfahren.
Ich würde mich also rechtspolitisch nicht von dem einen Fall blenden lassen, von dem ich mir ein "besseres" Urteil erhoffe.
Es gäbe noch Zwischenlösungen, z.B. Berufungen auf Antrag nur in Ausnahmefällen, aber das haben wir letztlich ähnlich bei der Revision, wenn vom BGH an ein anderes Gericht zurückverwiesen wird. Die Zahlen habe ich schon genannt: Rund 3000 Revisionen jährlich, nur 200 werden vom BGH angenommen. Erfolgsquote 3%. Diese Quote zeigt, dass solche Verfahren sehr penibel und sorgfältig durchgeführt werden. Und dass sich der BGH aus konkreten Beweisfragen heraushält. Für ihn ist wichtiger, ob ein Beweisantrag der Verteidigung rechtsfehlerhaft abgelehnt wurde.
jamie71 schrieb:Wieso werden im Digitalzeitalter nicht wenigstens Inhaltsprotokolle bzw. Aufzeichnungen der erstinstanzlichen Verhandlungen vor dem LG/OLG geführt, die es dem Verurteilten bei Weglassungen, vorsätzlichen und/oder fahrlässigen Falschangaben im schriftlichen Urteil des Tatgerichts ermöglichen würden, dies in der Revision zum Gegenstand einer zulässigen Rüge zu erheben?
Warum es bis heute keine Tonbandaufzeichnung als Standard gibt, ist mir unverständlich. Die Strafrichter wehren sich mit Händen und Füßen dagegen. Weniger Kontrolle bedeutet mehr Macht.
Deus_Ex_Machin schrieb:Gibt es. Das ist der BGH.
Der BGH überprüft nur, ob es Revisionsgründe i.S.v. §§ 337, 338 StPO gibt. Das sind zumeist formale Gründe. Er prüft nicht, ob das Urteil materiell richtig ist, ob z.B. eine Zeugenaussage richtig gewertet wurde. Ob und was der BGH geprüft hat, bestimmt sich nach dem Revisionsantrag. Den kenne ich nicht. Die Streitfragen, die hier erörtert werden, interessieren den BGH wenig, weil er der "freien richterlichen Beweiswürdigung" großen Raum lässt.
http://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__337.htmlhttp://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__338.html