Libertador schrieb:Welche Erkenntnis hast du nun bezüglich der 4 Jahre bekommen?
Die Erkenntnis, dass ein 4-Jahre-währender Therapieprozess, an dessen Ende die "Feststellung" einer "Multiplen Persönlichkeit" steht, eine enorme Fragwürdigkeit hinsichtlich eines regulären Therapieablaufs, enorme Fragwürdigkeit in Bezug auf die Art der Therapiebeziehung sowie eine enorme Fragwürdigkeit auf die Therapieführung, aufwirft. Insbesondere fragwürdig auch, wenn eine Therapeutin einerseits äußert (siehe Ende des Vids), dass es "Therapeuten gar nicht so lieb ist, wenn Patienten so viel über Einzelheiten berichten" (??? Exakt DAS ist u.a. der Gegenstand, mit dem in einer Traumatherapie gearbeitet wird und an dem gearbeitet werden muss, wenn es sich aufdrängt) und andererseits betont, wie wichtig es sei, den Patienten Glauben zu schenken und diese "Netzwerke" zu bekämpfen. Eine Therapeutin, die sich nicht für die Einzelheiten interessiert, die sich ihrer Patientin aufdrängen, aber fest an Netzwerke glaubt, ist in meinen Augen unseriös, da sie ihren beruflichen Auftrag mit einer subjektiven persönlichen Überzeugung vermischt - zulasten ihrer Patienten.
Libertador schrieb:Bist du nun der Meinung, dass es die multiple Persönlichkeitsstörung gar nicht gibt
Korrekt. Aus meiner Sicht gibt es keine "multiple Persönlichkeit". Es gibt hingegen sehr wohl dissoziierte PersönlichkeitsANTEILE - was ein erheblicher Unterschied ist. Bei allem, was bislang neurologisch, neuropsychologisch, biologisch, psychologisch und psychiatrisch zur Funktionsweise der Psyche bekannt ist, können Teilbereiche einer Persönlichkeit (d.h. Persönlichkeitszüge, z.B. narzisstische, selbstunsichere etc., Bedürfnisse, Wahrnehmungsgewohnheiten, Bewertungstendenzen) dissoziiert vorliegen, aber es kann sich keine Persönlichkeit duplizieren oder multiplizieren, so dass abgrenzbare in sich vollständige Persönlichkeiten mit divergierenden Biographien und Lebensentwürfen entstehen. Wenn du einen Apfel teilst, entstehen dadurch nicht plötzlich zwei Äpfel. Wenn du einen Apfel zerschnippelst, entstehen dadurch nicht multiple Äpfel, sondern Stücke.
Libertador schrieb:und die Therapeuten die Symptome und Ursachen den Patienten einreden?
"Einreden" klingt immer so hässlich. Nein, nicht "einreden", sondern durch Suggestivtechniken verstärken, hervorrufen, verschreiben (s.o.) oder konsolidieren. Allein bereits das Benennen und Einordnen eines Symptoms führt dazu, dass ein Mensch sich zu dieser Benennung verhalten wird. Insbesondere dann, wenn er selbst über dieses Symptom zutiefst verunsichert und im Unklaren war, worum es sich dabei handelt. Erhält er dann eine Begründung für dieses Symptom, ist er für gewöhnlich zutiefst erleichtert und dem Therapeuten dankbar, da er nun etwas hat, das ihm Halt gibt. Gleichzeitig ist das allerdings auch der Punkt, ab dem aktive Bewältigung einsetzt (klassischer Grundsatz aus der Traumatherapie ist nicht umsonst: Heilung beginnt ab dem Moment, ab dem man das Unaussprechliche aussprechen kann - d.h. erfassen und be-greifen kann). Setzt der Bewältigungsprozess ein, verändert sich das Vorgehen des Therapeuten: hatte der Patient in der Phase der Stabilisierung noch viel Schutzraum, in dem sein Leid vollkommen aufbrechen konnte, wird er nun angeleitet und dahingehend aktiviert, einen Umgang mit diesem Leid zu finden. Das ist ein schwieriger Punkt für Patienten, da sie nun behutsam in ihre eigene Selbstwirksamkeit geführt werden. Einige empfinden dies als entferne sich der Therapeut aus der anfänglichen großen Nähe. An dem Punkt kann man folgendes beobachten:
Der Patient geht in seinem Prozess nicht voran, sondern geht immer und immer wieder zurück in sein Leid, holt dieses und jenes Detail, es kommt zu dramatischen emotionalen Aus- und Zusammenbrüchen - meist, um unbewusst den Therapeuten wieder in die Nähebeziehung zu holen, um seinen Schutz, seine Aufmerksamkeit und Sicherung zu erhalten und daran zu appellieren, dass man ihn extrem brauche.
Eigentlich sind Therapeuten in ihrer Tätigkeit in Bezug auf diese Prozesse sensibilisiert und wachsam. Aber: Ein solches Verhalten in dieser Phase der Therapie bedient auch den Narzissmus eines Therapeuten: er wird gebraucht! Er ist für den Patienten eine extrem wichtige Bezugsperson! Nur ER kann dem Patienten helfen! Und er MUSS ihm helfen! Und da der Patient ihm ja zeigt, wie gut und super er ist, MUSS er DIE Masterlösung finden!
Ein Therapeut, der seinem eigenen Narzissmus nicht wachsam gegenübersteht, tappt in diese Falle. Kann man bei Therapeuten auch beobachten: Sie beginnen, sich zu "produzieren", sie suchen, sie machen, sie tun, sie erhöhen ihre Wortbeiträge in der Therapiesituation - insbesondere dann, wenn sie an ihre Grenze geraten und selbst nicht wissen, wieso der Patient aus seiner Regression nicht herauskommt. Irgendwann bemerken sie, dass es nur dann "flüssig", also vermeintlich konstruktiv vorangeht, wenn er sich dem Leid umfassend und ausführlich widmet. Das ist der Beginn einer Dauerschleife von Leid, vermeintlichem Fortschritt, Rückfall ins Leid, Leid, vermeintlichem Fortschritt etc.
Unbewusst lernt also der Patient: will ich die Nähe und den Schutz, muss ich liefern. Unbewusst lernt der Therapeut: Ich gerate nur dann nicht in meine eigene Hilflosigkeit und kann nur dann die Wertschätzung des Patienten bewahren, wenn ich mich in sein Leid begebe. So werden aus Symptomen Cluster, aus Clustern werden Muster, aus Mustern werden Anteile, aus Anteile werden Persönlichkeiten und aus Persönlichkeiten werden viele Persönlichkeiten. Auf Patientenseite werden so aus Erinnerungsfetzen Erinnerungssequenzen, aus Sequenzen werden Szenen, aus Szenen werden Szenarien, aus Szenarien werden Abläufe, aus Abläufen ein Gesamtgeschehen, aus einem Gesamtgeschehen ein sich immer wieder wiederholendes Ereignis usw.
Das sind alles unbewusste (!) Prozesse, die man aber beobachten kann. Realitätsprüfungen, auch polizeiliche, fremdanamnestische oder auch medizinische relativieren oder widerlegen die dabei getroffenen Angaben sehr oft.
Libertador schrieb:Wieso sollten so viele Therapeuten sowas machen?
Das ist zu einem Teil historisch begründet. Es gab eine Zeit, in der aufdeckende Therapie gleich einer Modeerscheinung in der Psychologie sehr etabliert war und nach der gelehrt wurde - insbesondere was das Feld des sexuellen Missbrauchs, kindlichen Missbrauchs und frühkindliche Traumatisierung betraf. Dort wurde die mittlerweile relativierte These vertreten, dass alle späteren psychischen Leiden auf frühkindliche Traumata und/ oder sexuellen Missbrauch zurückgeführt werden können. Der gleichen Theorie hingen im Übrigen auch die Betreuer dieses publizierten Prozesses an, der vor einigen Seiten ausführlicher angesprochen wurde. In die gleiche Zeit fällt übrigens auch die erste Fallbeschreibung einer sog. "multiplen Persönlichkeit". Vorher gab es die weder klinisch, noch phänotypisch noch als Fallstudie. Immer bedenkenswert.
Ein anderer Grund, weswegen Therapeuten "sowas" machen, ist m.E. unbewusster Natur. Wie o.g. spielt oft der eigene Narzissmus eine Rolle, der unreflektiert bleibt. Diese Therapeuten fallen oft dadurch auf, dass sie sich gegen externe Supervision sperren, Kollegen nicht um Rat fragen, wie sie den Fall sehen, dass sie sich nur mit jenen Kollegen umgeben, von denen sie wissen, dass ihnen kein Widerspruch droht. Solche Therapeuten erkennt man, ähnlich wie bei Gurus, oft daran, dass sie sich überidealistisch als Therapeuten darstellen, die als Einzigste wüssten, was mit ihren Patienten wirklich los sei. Dass NIEMAND da draußen sich um diese armen Schicksale kümmern würde und dass man als Einzigster verstanden habe, was eine Traumatisierung für den Patienten wirklich bedeute. Und jeder, der anderer Meinung ist, sei ein Leugner, Vertuscher und Täter-Sympathisant. Insbesondere in der heutigen Zeit, in der das Thema Missbrauch immer prominenter diskutiert wird, ist es leicht, sich diesbezüglich zu profilieren.
Libertador schrieb:Ich glaube, dass viele Betroffene nichts von mehreren Persönlichkeiten wissen. Die Hauptpersönlichkeit hat einfach ein Blackout wenn sie die Persönlichkeit wechset. Die können sich meistens schwer an die Traumata errinern.
...wie gut dass es dann eine Therapeutin gibt, die den Überblick behält, notfalls einschreitet, immer da ist und einem sagen kann, was man getan hat, wenn man sich nicht daran erinnert und die einem immer wieder "hilft", Lücken zu füllen, die vielleicht gar keine Lücken waren. Und wie gut, dass es Patienten gibt, deren Lücken man bereitwillig füllen kann, egal womit, wenn sie hinterher so glücklich sind. Wie schön, wenn jemand glücklich ist, MEIN Patient zu sein und ihm meine Arbeit so viel Wert ist.