mitH2CO3 schrieb:Die immer spezifischer werdenden Beziehungen zwischen den Nucleinsäuren und den Proteinen gipfelten in der Entstehung des genetischen Codes, durch den eine Aminosäure einer bestimmten Dreiergruppe von Nucleotiden (einem Codon) eindeutig zugeordnet wurde.
Die Entstehung des genetischen Codes setzt jedoch voraus, dass es zuvor gelungen ist, Peptide mit einer bestimmten Sequenz mit Hilfe von RNA zu produzieren, die ihrerseits über eine bestimmte Sequenz verfügt. Da es hierbei auf die passende Molekülform ankommt, müssen sich die RNA-Stränge nahezu fehlerfrei reproduzieren. Das erfordert wiederum einen Mechanismus, der ein RNA-Molekül auftrennt, so dass sich neue Nucleotide anlagern können.
Diese komplementäre Struktur wiederum muss sich von der Vorlage ablösen und darf sich nicht erneut verknäueln, damit sie dazu geeignet ist, als Vorlage für die Produktion des Ursprungsmoleküls zu dienen. Wenn das gelungen ist, dann können mit Hilfe dieser Vorlage weitere Kopien des Ursprungsmoleküls produziert werden, die sich dann wiederum von der Vorlage ablösen müssen und sich in die Tertiärstruktur verknäueln müssen, damit sie funktional geeignet sind.
Bereits das stellt eine ziemliche Hürde dar, weil wir hier einen Auftrennungsmechanismus benötigen, einen Kopiermechanismus, eine Fixierung der Vorlage in aufgetrenntem Stadium und einen Ablösemechanismus. Während Auftrennung von RNA über Erwärmung stattfinden kann und erneute Verknäuelung über Abkühlung, bedarf es beim Kopieren und Ablösen weiterer Hilfestellungen durch andere Moleküle. Diese Moleküle müssen ihrerseits reproduziert werden, um die Reaktionskette nicht abreißen zu lassen.
Was im Labor die Polymerase für die PCR, fehlt im hypothetischen Vesikel auf der Urerde, so dass man hier entweder auf RNA zurückgreifen muss, die entsprechende katalytische Fähigkeiten aufweist (ein Ribozym also) oder auf Proteine setzen muss, die sich zufällig im Vesikel gebildet haben. Da es noch keinen genetischen Code zu dieser Zeit gegeben hat, muss es sich dabei dann um Proteine mit Zufallssequenzen handeln, die noch nicht reproduziert werden konnten.
Nehmen wir Ribozyme, die die Reproduktion von bestimmten RNA-Molekülen bewirken, wächst die notwendige Maschinerie schnell ins Unermessliche, da sich der gesamte nötige Molekülbestand reproduzieren muss. Grenzen wir den Molekülbestand mal auf ca. 100 ein, hätten wir eine Maschinerie von 4 Molekülspezies (Auftrennung, Kopieren, Abtrennen, Rückfalten), die sich selbst und die 96 anderen Molekülspezies reproduzieren muss.
Das hört sich wenig an, aber da die anderen 96 Molekülspezies vor Ort abgebaut und ersetzt werden müssen, ergibt sich eine Dominanz eben dieser 4 an der Reproduktion beteiligten Molekülspezies, die sich dann jeweils um jedes Molekül aufhalten. Da RNA zudem bei der Reproduktion fehleranfällig ist, ergeben sich - je größer der Molekülbestand ist - um so häufiger Fehler bei der Reproduktion, die dann veränderte Faltungen der Moleküle nach sich ziehen.
Da es auf die passenden Molekülformen ankommt, um eine Funktionalität zu gewährleisten, bewirken Fehler ein Stocken des Gesamtmechanismus, so dass sich das System auf ein niedrigeres Level an Komplexität einpegelt. Das kann so weit führen, dass das System als Ganzes kollabiert, wenn sich kein Subsystem stabilisieren kann und sukzessive das Gesamtsystem wieder aufbaut. Die Reproduktion von RNA-Molekülspezies ist auf Dauer zu störanfällig, wenn ein System auch für Stoffwechselaktivitäten auf RNA angewiesen ist.
Nehmen wir Proteine, dann fehlt es zu diesem Zeitpunkt an einem geeigneten Reproduktionsmechanismus, der die passenden Molekülformen für Stoffwechselprozesse bereitstellt. Das heißt, wir haben hier nur Zufallspolymere, die auf gut Glück in ein System von Wechselwirkungen passen und dann sukzessive die Effizienz eines Systems hinsichtlich Selbststabilisierung steigern können, aber der umgekehrte Weg ist damit eben auch offen: Zufallspolymere können sich auch als "giftig" erweisen und die Maschinerie zum Stocken bringen. Das Problem ist analog zur RNA-Reproduktion mit Fehlerhäufung.
Das zu lösende Problem umschreibt sich wie folgt: Wie lassen sich systemstabilisierende Prozesse so reproduzieren, dass das System nicht destabilisiert wird? Da sich die systemstabilisierenden Prozesse über Wechselwirkungen zwischen Makromolekülen untereinander und zwischen Makromolekülen mit Substraten vollziehen, grenzt sich das Problem ein auf die Reproduktion von Makromolekülen im Kontext mit den Prozessen, in denen sie involviert sind.Die Prozessmechanismen dürfen nicht beeinträchtigt werden, während die beteiligten Makromoleküle abgebaut und durch reproduzierte Makromoleküle gleicher Gestalt ersetzt werden. Die Lösung des Problems besteht in der Aufteilung von Katalyse (Stoffwechselprozesse) und Reproduktion auf zwei Bereiche mit jeweils eigenen Stoffklassen sowie den entsprechenden Transportwegen zwischen diesen beiden Bereichen. Während Proteine also im Wesentlichen für die Katalyse zuständig sind, sind Nucleinsäuren für die Reproduktion zuständig.
Diese Aufteilung war erst möglich, nachdem ein Weg gefunden war, Sequenzen von Proteinen (Aminosäure-Sequenzen) mit Hilfe von Sequenzen von Nucleinsäuren (Nucleotid-Sequenzen) zu produzieren und damit Proteine als funktional zentrale Klasse von Makromolekülen zu reproduzieren. Vorher gab es zwar dasselbe Problem, aber noch keine Lösung, so dass der Weg zur Lösung dieses Problems aus den gegebenen Voraussetzungen heraus eine Aufteilung zwischen Proteinen einerseits und Nucleinsäuren andererseits erforderte, die ohne eine Art von genetischem Code auskommen musste.
Wie oben gezeigt, ist das aber eine Sache, die schwer hinzubekommen ist, weil eben die passgenaue Reproduktion nicht gewährleistet ist. Während RNA allein mit Reproduktion und Stoffwechsel zusammen funktional "überfordert" ist, um langfristig Stabilität zu gewährleisten, sind Proteine mangels Reproduzierbarkeit zunehmend "Sand im Getriebe" einer RNA-dominierten Maschinerie, können zeitweilig aber auch als Katalysator wirken - sie sind in ihren Wirkungen unberechenbar.
Notwendig ist daher von Beginn an eine Kooperation zwischen RNA und Proteinen. Überreste dieser Kooperation könnten RNA-Nucleotide als Kofaktoren bei bestimmten Proteinen sein. Ebenso könnten beladene tRNA-Moleküle einst Ribozyme mit Aminosäuren als Kofaktoren gewesen sein. Es gibt da verschiedene Modelle, wo auf dieser Basis dafür argumentiert wird, dass es von Anfang an keine reine RNA-Welt gegeben haben kann, sondern stets eine Interaktion zwischen RNA und Peptiden vorlag.
Diese Modelle erklären aber nicht, wie es zu jener spezifischen Interaktion gekommen ist, die wir als "Genetischer Code" bezeichnen. Dafür ist das Problem zu komplex und die Anforderungen an die Lösung sind folglich ebenfalls entsprechend komplex. Denkbar sind z.B. Oberflächen auf Mineralien, die eine Reproduktion von passgenauen Molekülformen gewährleistet haben, bevor dies über Makromoleküle selbst geschehen ist.
Denkbar ist weiterhin, dass sich solche Systeme auf Mineralienoberflächen über eine passende Kombination von Makromolekülen selbst zu einer Urzelle organisiert haben, die sich dann erfolgreich teilen und damit sich selbst als Ganzes reproduzieren konnte, aber da das Problem komplex ist und die Anforderungen zur Lösung dieses Problems ebenfalls komplex sind, ist das Zustandekommen des genetischen Codes im Allgemeinen und nachfolgend einer Urzelle im Besonderen kein Selbstläufer, der sich zwangsläufig und notwendig einstellt, sobald wir Nucleotide und Aminosäuren in einem Lipid-Vesikel haben. Das ist hierbei zu bedenken.