@ all
und Speziell
@Thermometer ist meiner Meinung nach nicht allzu Offtopic
Hier mal ein Artikel über die Kritik des Buches ''Der Gotteswahn'' (das der Thermometer ja so ganz toll und weise findet...)
Quelle
http://www.glanzundelend.de/glanzneu/dawkins.htm (Archiv-Version vom 17.08.2010)Es grüsst ein wütender Antichrist
Gregor Keuschnig über Richard Dawkins Kampfschrift »Der Gotteswahn«
"Der Gotteswahn" ist ein Missionierungsversuch, eine Kampfschrift wider alles und allem, was in irgendeiner Form mit Transzendenz in Verbindung gebracht werden kann. Der rationalistische Furor des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins ist eine Mischung zwischen krudem Weltverbesserungspathos, der Paranoia frommer Exorzisten, die überall nur noch Besessene sehen, die von ihrer Krankheit zu heilen sind und einem archaisch-jakobinischem Moralverständnis. Der monotheistischen Chauvinismus speziell des Christentums hat es ihm angetan (früh werden Konfuzianismus und Buddhismus ausgeklammert; sie werden flugs als ethische Systeme eingeordnet) und sein Bildersturm für einen radikalen Atheismus nimmt im Laufe des Buches wahrhaft kulturrevolutionärere Züge an (verflacht dann allerdings auf den letzten 50 Seiten).
Religion ist eine "psychiatrische Krankheit"
Es ist eigentlich ganz einfach. Zunächst einmal wird der Atheismus als tapferes, grossartiges Ziel ausgegeben. Dann verweigert Dawkins ausdrücklich und dezidiert den religiösen Gefühlen von Menschen seinen Respekt – vermutlich, um historische Ungerechtigkeiten ein für allemal auszugleichen (der bewusstseinserweiternde Feminismus der 68er ist da sein "Lehrmeister"). Eigentlich also ein Vorgehen, welches dem freimütig bekannten Zweck der Bekehrung zuwiderläuft, denn gemeinhin gewinnt man einen Menschen für eine Idee nicht dadurch, in dem man seine bisherigen Überzeugungen in den Dreck zieht. Nachdem dann Albert Einstein und – etwas später -Thomas Jefferson als Gesinnungsgenossen vereinnahmt wurden (bei Jefferson unterschlägt Dawkins allerdings dessen Bewunderung dem Neuen Testament gegenüber, welches in der sogenannten "Jefferson Bible" mündete) geht es dann los: Religion ist eine psychiatrische Krankheit, ein Virus, sie entsteht durch Fehlfunktionen einzelner Gehirnmodule; ihre Verfechter sind sehr viel dümmer als Atheisten (gläubige Katholiken haben – immer noch nach Dawkins – eine unterdurchschnittliche Intelligenz).
Die Theologie selber ist gar kein Forschungsgegenstand, da Gott eh nicht existiert (ein Schluss, der den Autor für den Rest des Buches entbindet, sich mit kritischen religionswissenschaftlichen Stimmen auseinanderzusetzen; eine "Seele", die den Körper überdauert, existiert ebenfalls nicht. Ein besonderes Anliegen ist ihm die religiöse Indoktrination von Kindern und er behauptet, der durch sexuellen Missbrauch erzeugte psychische Schaden, sei nachweislich geringer als der, den eine katholische Erziehung anrichte. Und ein Beispiel für das Unheil, welches Religionen heute noch anrichten, erkennt er im islamischen Dschihadismus, in dem er die Aktionen der Selbstmordattentäter als aus der Religion abgeleitete Imperative behauptet.
Umfrage per E-Mail
In Anbetracht dessen, dass Dawkins ein Wissenschaftler ist, sind seine Methoden – gelinde gesagt - reichlich merkwürdig. Als er beispielsweise beweisen will, dass Hochschulgelehrte in Grossbritannien im Verhältnis zur Bevölkerung überdurchschnittlich atheistisch eingestellt sind (also ein indirekter weiterer Nachweis für die These, dass religiöse Menschen unintelligent sind), zitiert er eine Studie, die wie folgt ablief: Befragt wurden 1074 Fellows der Royal Society, die eine E-Mail-Adresse besassen (die grosse Mehrheit), und von diesen antworteten ungefähr 23 Prozent (was für eine solche Untersuchung eine gute Quote ist). Das Resultat: Nur 3,3 Prozent der Fellows äusserten zu der Aussage, es gebe einen persönlichen Gott eine starke Zustimmung […], 78,8 Prozent dagegen lehnten sie völlig ab…. Scheinbar beeindruckend.
Aber das Ergebnis ist vollkommen wertlos und überhaupt nicht repräsentativ. Zunächst wurden offensichtlich nur die Fellows mit E-Mail-Adresse befragt – ein fragwürdiges Auswahlkriterium. Desweiteren bleibt Dawkins schuldig, wie hoch die "kleine Minderheit" ist, die keine E-Mail-Adresse hat. Und dann ist die Beteiligung von 23% viel zu niedrig, um einen Schluss auf die "Frömmigkeit" in der gesamten "Royal Society" zu ziehen. Unerwähnt bleibt auch noch, ob die Erhebung "neutral" durchgeführt wurde, oder ob die beiden Befrager (Cornwell und Stirrat) in Erscheinung getreten sind (also den Befragten die "Intention" der Anfrage durchaus hätte bekannt sein können). Und nicht erwähnt wird auch, ob die Antworten der Fellows anonymisiert wurden oder schlicht mit dem "Antwort"-Button erfolgten.
Induktive Schlüsse, Verallgemeinerungen, Behauptungen, Widersprüche
Dawkins arbeitet mit Vorliebe mit induktiven Schlüssen, die er dann als Beweise ausgibt. Beispielsweise belegt er die eigentlich schockierende Behauptung, die religiöse Erziehung von Kindern wäre dem sexuellen Missbrauch gleichzustellen, mit genau zwei Quellen: Zum ersten den Brief einer Frau, die einmal als Kind von einem Priester im Auto gestreichelt wurde und zum zweiten mit der Mail einer anderen Frau, die heute ihre religiöse Erziehung nachträglich als Martyrium empfindet.
Manchmal vollzieht er reichlich sprunghafte Assoziationen. Etwa, wenn er Thomas Jefferson als Atheist darstellen will, aus Christopher Hitchens Jefferson-Biographie zitierend: Als seine Tage zur Neige gingen, schrieb Jefferson mehr als einmal an Freunde, er sehe seinem bevorstehenden Ende weder mit Hoffnung noch mit Furcht entgegen. Zweifellos eine interessante Aussage, die mit den gängigen Dogmen des Christentums nicht direkt in Verbindung zu bringen sind. Um so verblüffender dennoch der Schluss: Das war das Gleiche, als hätte er unmissverständlich erklärt, dass er kein Christ war. Übrigens kein Problem für den Jünger des ethischen Zeitgeistes schnell noch Immanuel Kant Atheismus zuzuschreiben, Huxleys doppeldeutige Äusserungen wissend als Atheismus zu interpretieren und Adolf Hitler zum (vielleicht) gläubigen Christen zu machen (mit einigen Goebbels-Zitate und ein bisschen "Mein Kampf"). Letzteres, damit nicht böse Menschen Stalin und Hitler zu Repräsentanten der Handlungen von Atheisten machen können (so hilflos "wehrt" sich Dawkins gegen eine lächerliche Schlussfolgerung – anstatt einfach den Fehlschluss offenzulegen).
Und dann widerspricht sich Dawkins gelegentlich in seinem Übereifer, etwa wenn er einerseits zugibt, viele benutzten Religion als Etikett, um ihre Zwecke durchzusetzen aber später dann den Dschihadismus direkt aus dem Koran ableitet. Oder er begeht ausdrücklich nicht den Weg, dem Christentum die ganzen Verbrechen der letzten zweitausend Jahre gebetsmühlenartig (!) vorzuwerfen (Kreuzzüge; Missionierungen; Eroberungen; Inquisition), weil es ja grausame und böse Menschen in jedem Jahrhundert gegeben habe – um dann irgendwann wieder auf die unheilvolle Christengeschichte im Namen der Bibel hinzuweisen.
Manchmal schreibt er schlichtweg Unsinn, etwa wenn er Altruismus im Tierreich laufend mit Symbiose verwechselt oder die amerikanischen Gründerväter beleglos als Säkularisten bezeichnet (andere Quellen sagen exakt das Gegenteil – wie wäre es, Mr. Dawkins, dies mal wissenschaftlich zu klären?) oder behauptet Dualisten interpretieren geistige Krankheiten bereitwillig als "Teufelsbesessenheit". Vom Islam hat Dawkins offensichtlich überhaupt keine Kenntnisse – einmal spricht er von der allgemein üblichen Interpretation des Islam [sic!]. Von einem Autor über Religion erwarte ich als Mindestkriterium, dass er weiss, dass es so etwas gar nicht gibt.
Nichtexistenzbeweise
Natürlich ist Religion auch als Stifter für ethische und moralische Fragen untauglich. Dawkins begründet dies für das Christentum hauptsächlich mit der Blutrünstigkeit des Gottes des Alten Testaments (das Opfer Abrahams wird ausführlich behandelt), die sich auch in einigen Teilen im Neuen Testament fortsetzt (gemeint ist hauptsächlich die Erbsünde; aber ein paar freundliche Worte zur Bergpredigt findet er dennoch). Mit spürbarer Lust an der Verspottung des Gegenstands greift Dawkins einige Erzählungen des Alten Testaments heraus, die exemplarisch für seine These stehen. Dabei rennt er – was ihm offensichtlich unbekannt ist – offene Türen en masse ein, aber die Dekonstruktion dieser tatsächlich furchtbaren Texte macht ihm einfach zuviel Spass, während der Leser ob der Redundanzen schon ein bisschen gelangweilt ist.
Eine Moral basierend auf diesen launisch-boshaften Tyrannen namens "Gott" ist für Dawkins schlichtweg unmöglich zu begründen. Soweit mag man ihm ja durchaus folgen. Hieraus zieht er jedoch den Schluss, dass die Kirche ihre Kompetenz in diesen Fragen für alle Zeiten und vollständig eingebüsst hat. Moraltheologen wie beispielsweise Hans Küng, die versuchen, eine allgemein gültige Weltethik aus den monotheistischen Religionen zu destillieren, kennt Dawkins natürlich nicht (seine Literaturliste enthält fast ausschliesslich englischsprachige Publikationen, die mehrheitlich seiner Linie folgen).
Warum er bei einem derart eindeutigen Resultat für die Gefährlichkeit und Nutzlosigkeit von Religion überhaupt noch den Beweis der Nichtexistenz Gottes vornimmt, bleibt sein Geheimnis. Dieser Abschnitt, welchen er als einer seiner Kernkapitel sieht, gehört zum schwächsten des Buches. Die These Gott existiert nicht, da es kein Lebewesen gibt, welches ausserhalb eines Evolutionsprozesses steht ist in seiner Substanzlosigkeit vielen sogenannten Gottesbeweisen ebenbürtig. Den Einwand, dass Gott als "Begründer" der Evolution gesehen werden würde, kontert Dawkins mit einem lustigen Einfall: Wenn es Gott gäbe, dann müsste es ein Wesen geben, welches diesen Gott erschaffen hat. Und dann eines, welchen den Vater Gottes erschuf, usw. In dem er diese Regression ins Unendliche treibt, versucht er zu beweisen, dass es deshalb keinen Gott geben kann. Diese These ist selbst für einen Ungläubigen einfach zu widerlegen, in dem er (mit Kant) Gott als ein "Ding an sich" (ein "möglicher Gedanke") "sieht", welches der Kausalität (die nur für die "Welt der Erscheinungen" gilt) entzogen ist.
Von den "Zellhaufen" und "Kaulquappen"
Beim Thema Abtreibung läuft Dawkins zu Hochform auf. Zunächst einmal stellt er fest, dass viele Personen, die für ein radikales Abtreibungsverbot plädieren gleichzeitig Befürworter der Todesstrafe für Kapitalverbrechen sind (er bezieht sich hier auf die USA und nennt natürlich als prominentestes Beispiel George W. Bush). Aber statt diesen interessanten Zusammenhang detailliert zu durchleuchten, dient das natürlich ausschliesslich als Munition gegen Religion.
Fatalerweise glaubt der Autor mit effekthascherischer Wortwahl noch mehr erreichen zu können. Zunächst wird Mutter Teresa als scheinheilig-heuchlerisch tituliert (weil sie eine andere Meinung als er vertritt) und dann werden menschliche Embryos (Kaulquappen) mit Kühen in einem Schlachthaus verglichen (letztere würden bei der Schlachtung mehr leiden als Embryos, wenn diese vor Entwicklung des Nervensystems abgetrieben würden). Und überhaupt sei das anthropozentrische Weltbild sowieso schädlich (er fordert keine Sonderrechte mehr für die menschliche Spezies) und das primitive Schwarz-Weiss-Bild funktioniert auch bei diesem Thema aufgrund der strikt selektiven Wahrnehmung wunderbar: Religiöse Ethiker diskutieren häufig über Fragen wie die, wann ein Embryo zu einer Person wird, also zu einem menschlichen Wesen. Säkulare Ethiker dagegen fragen eher: "Ganz gleich, ob es ein Mensch ist (was bedeutet das bei einem kleinen Zellhaufen überhaupt?) – von welchem Entwicklungsstadium an ist ein Embryo jeder beliebigen Tierart in der Lage, zu leiden?
Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn – wer seine Thesen nicht übernimmt, ist ein "Religiöser" (Agnostiker finden am Anfang des Buches nur zögernd einen gewissen Respekt; im Grunde betrachtet er sie als Weicheier). Und man stellt altbekanntes auch bei Dawkins fest: Eine Person bestimmt ex cathedra, wer der Abtrünnige, der Häretiker ist, und wer der Verkünder des neuen, ethischen Zeitgeistes.
Worum es wirklich geht
Atheisten haben keinen Glauben postuliert Dawkins – und ernennt flugs die natürliche Selektion, die unsichtbare Hand (Hand?) der Evolution zur unumstösslichen Tatsache. Für Dawkins ist das nicht bloss wissenschaftliches Axiom, sondern ein Faktum (vom Gödelschen Unvollständigkeitssatz hat er scheinbar noch nie etwas gehört). Evolution und religiöser Glauben sind für ihn nicht vereinbar. Damit begibt er sich in seltsamer Übereinstimmung mit den Kreationisten, die er so vehement bekämpft. Und dieser "Kampf" bildet der wahre Hintergrund für dieses Buch. Dawkins zitiert den Genetiker Jerry Coyne:
Für Wissenschaftler wie Dawkins und Wilson [E. O. Wilson, den berühmten Biologen der Harvard University] tobt der wahre Krieg zwischen Rationalismus und Aberglauben. Naturwissenschaft ist eine Form des Rationalismus, und Religion ist die am weitesten verbreitete Form des Aberglaubens. Der Kreationismus ist nur ein Symptom dessen, was sie als ihren grösseren Feind ansehen: die Religion. Zwar kann Religion ohne Kreationismus existieren, aber einen Kreationismus ohne Religion gibt es nicht. (Hervorhebung von mir)
"Der Gotteswahn" ist nur auf Basis dieses Zitats zu verstehen. Dawkins sind die kreationistischen Umtriebe in den USA, die auch immer mehr nach Europa überschwappen, zutiefst zuwider (in Deutschland wird das Phänomen, obwohl es erste Anzeichen gibt, noch weitgehend unterschätzt). Indem Kreationisten (die amerikanischen Taliban) durch ihr dogmatisches Behaupten der Wörtlichkeit der Bibel elementarste naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse ad absurdum führen und eine eigene, krude Moral aus ihrer Exegese schöpfen, greifen sie das Primat der Naturwissenschaften an. Vermutlich überziehen sie Dawkins' "Lebenswerk" mit ähnlich unflätigen Texten, so dass sich dieser zum Befreiungsschlag genötigt sieht (Christopher Hitchens ist ein anderer Protagonist dieser vehementen Religionskritik). Ein-, zweimal verbeisst sich Dawkins geradezu in Texten des (kreationistischen) "Wachtturms", und man fragt sich, warum ein Naturwissenschaftler sich in derartige Niederungen begibt. Statt sich in einzelne Formulierungen einer Wochen- oder Monatsschrift zu verlieren, hätte vielleicht eine etwas detaillierte Betrachtung der unterschiedlichen Bewegungen und ihrer inzwischen gesellschaftspolitischen Verstrickungen gut getan. Aber feines Argumentieren und Ausarbeiten ist Dawkins' Sache nicht; er ist ein Uhrmacher, der mit Axt und Vorschlaghammer reparieren möchte.
Chemotherapie gegen Kreationisten
Da die Religion gemäss obiger These die Basis für kreationistisches Gedankengut darstellt, ist es Dawkins weder möglich, eine Diversifizierung von Religion und Gottesglauben vorzunehmen, noch eine Religionsinterpretation in Betracht zu ziehen, welche die Evolutionstheorie inkorporiert und versucht, eine Synthese zwischen Naturwissenschaft und Glauben zu schaffen (Vorreiter dieses Strebens, wie den deutschen Religionsphilosophen Karl Rahner, hat er wohl nicht gelesen).
Dawkins kennt – und wiederum gibt es Ähnlichkeiten zwischen ihm und denjenigen, die er bekämpft – nur die Dichotomie "gut" oder "böse". Kreationisten sind böse und – und hierin liegt der zweite Grund für Dawkins' Erregung – nicht nur dogmatische Bibelinterpreten, die sektenartig das Land mit falschen Lehren überziehen. Sie streben insbesondere - zusammen mit den Evangelikalen – nach gesellschaftlichem und politischem Einfluss, ja: Macht. Dawkins ist ein Anhänger des westlichen Universalismus und warnt in diesem Zusammenhang vor einer Zerstörung des (demokratischen) Wertesystems unter anderem durch falsch verstandene Toleranz denjenigen gegenüber, die das Falsche verbreiten. Er nimmt da ausdrücklich den Islam nicht aus, wobei sein Islam-Bashing begrenzt ist und immer im Kontext mit dem eigentlichen Feindbild, dem Christentum, gesehen werden muss (das Judentum wird nur mit zwei, drei despektierlichen Bemerkungen "bedacht" [man ahnt, warum]; Scientology hält er einer einzigen Bemerkung für eine Religion, die intelligent gestaltet sei – eine Ausnahme, wie Dawkins schreibt, ohne diese Einlassung zu präzisieren).
Vor diesem Hintergrund spielt sich dieser Kulturkampf ab: Dawkins sieht die Vereinigten Staaten in dieser Hinsicht im fortgeschrittenen Stadium einer Krebskrankheit. Sein Buch ist somit eine Therapie, in der dann auch Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen sind (in dem man beispielsweise den gesamten gemässigten oder gar progressiven Klerus verprellt). Und um Europa (und sein Heimatland Grossbritannien) hiervor zu beschützen, verordnet er eine radikale, neoadjuvante Chemotherapie. Man sieht in der Ferne den moralischen Impetus und den guten Willen (den hatten die Jakobiner sicherlich auch am Anfang) – aber viel Wohlwollen zerstört Dawkins durch seinen abstossenden Rigorismus.
Es grüsst ein wütender Antichrist, der unfähig ist, beispielsweise eine Synthese zwischen den feinen Denkstrukturen des Existentialismus und der von ihm als Gegenbild postulierten Naturwissenschaft fortzuschreiben. (Weshalb ich den Existentialismus immer vorziehe.) Ein unbedingter Rechthaber, der keinen Tabubruch scheut, um Aufmerksamkeit zu erheischen; ein Zwangsprovokateur. Die Verwunderung über die Vorwürfe seiner schrillen Sprache im Nachwort klingt dabei wie Heuchelei. Von "nüchternem Nachdenken", welches er sich selber attestiert, ist er meilenweit entfernt.
Hundenasen und die Schönheit von Schrödingers Katze
Dawkins entwickelt keine neue Ideologie als Religionssurrogat. Einmal zitiert er irgendwelche neuen zehn Gebote (das 10. Gebot lautet: Stelle alles infrage) – und gibt wenig später zu, nur den ersten Googletreffer wiedergegeben zu haben; es hätte enorm viele, andere "Angebote" gegeben. Ihm reicht eigentlich die Schönheit der Naturwissenschaft als Ersatz für das religiöse Denken. Seine Bekehrung hin zu diesem Denken fallen eher ungelenk aus. Da wird die Schönheit des Modells von Schrödingers Katze und der "Viele-Welten-Theorie" postuliert oder das Geruchsvermögen von Hunden gepriesen. Oder man könnte mal "Per Anhalter durch die Galaxis" lesen. Und natürlich die Beschwörung der bewusstseinserweiternden natürlichen Selektion (wobei Dawkins vielleicht einigen Irrtümern in der Interpretation Darwins aufsitzt). Und obschon für Dawkins Religion und Religionsgefühle nur evolutionäre Nebenprodukte darstellen, die als religiöse Ideen überleben, weil sie sich mit anderen Memen vertragen (Meme sind Dawkins Erfindung – es sind, vereinfacht gesagt, kulturelle Verhaltensweisen, analog zum Gen, allerdings nicht stofflicher Natur) und in Memplexen, also einem imaginären Korb kultureller Tradierungen, Überreste darstellen (diese Hypothese überzeugt nicht richtig), scheint er zu ahnen, dass seine Gegenwelten wenig attraktiv sind, denn hier ermattet sein einst so vehementer Furor.
Die Attraktiviät religiöser Strukturen
Bei aller Kritik an seiner Sprache und der unreflektierten Hingabe naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen gegenüber – zwei wesentliche Gründe für das scheinbar unvertilgbare Verlangen vieler Menschen nach Transzendentalem hat Dawkins schlichtweg vergessen: Zum einen sind Religionen Gemeinschaftsstifter, und zwar notfalls über alle physischen Grenzen hinweg (zweifellos mit der Gefahr, auch ausgrenzend zu wirken). Ein wichtiger Punkt, der sich im Christentum in der "Gemeinde" zeigt, oder im Islam in der "Umma", die über das religiöse hinaus auch soziale Funktionen übernimmt. In dieser Gemeinschaft wird – unter anderem, aber immer irgendwie präsent - die Ungeheuerlichkeit der Todestatsache aufgearbeitet: Die Gläubigen wollen sich nicht mit dem geborgten Dasein abfinden. Man mag das Lebens als zwecklos bezeichnen – und dies mag ja durchaus richtig sein (wer vermag es zu sagen?) -, aber diese Perspektive ist offensichtlich für viele Menschen nicht besonders verlockend.
Der andere Punkt, der in Dawkins Theoriegerüst keinen Eingang gefunden hat, und der die weltweite Zunahme nach religiösem Überbau teilweise erklärt, liegt in der zunehmenden Verunsicherung, welche die pluralistisch-kapitalistische Welt bietet. Viele sehnen sich einerseits nach Freiheit und Glück – aber erfahren schnell, dass die Glücksversprechen (materieller und ideeller Natur) schwierig zu erreichen sind. Parallel hierzu empfinden viele einen diffusen, von der Masse erzeugten Druck, diese Glücksversprechen erfüllen zu müssen. Sie sehen sich in einem Konformitätszwang, der aber - bei Einhaltung der Normen – letztlich trotzdem überhaupt kein Sicherheitsnetz bietet; im Gegenteil: man steigert u. U. die Abhängigkeit fremdbestimmter Entscheidungen, denn nichts ist mehr sicher.
In dieser, von vielen als vage Bedrohung empfundenen Situation, wächst nicht nur der Hang zu hierarchischen politischen Entscheidungen (die "einfache" Lösungen anbieten), sondern auch die Bereitschaft sich mit einem irgendwie gearteten transzendentalen Netz zu umgeben, an das beispielsweise grundlegende "Entscheidungen" oder sogar das Scheitern delegiert werden können. Das ist ein Grund, der für den immer noch steigenden Zulauf hin zur Esoterik oder Sekten (im westlichen Kulturraum) oder eine der "grossen" Religionen führt (insbesondere des Islam). Hier ist in de Regel eine einfache, gradlinige Struktur, die vor der Komplexität der Aussenwelt schützt oder mindestens Antworten gibt. Und hier greift wieder der obige Punkt: Statt lauter individualisierte Konformisten (nur scheinbar ein Widerspruch), die einem imaginären und unsicheren Glück hinterherjagen, bringt man sich ein in eine Gemeinschaft, die eindeutige Paradigmen postuliert und klare Ziele hat. Religion als Reaktion wider die zunehmend empfundene Komplexität der globalisierten und "unsicherer" gewordenen Welt (zu beobachten insbesondere am "Boom" nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den osteuropäischen Staaten).
Man mag dies verurteilen oder die Menschen, die so reagieren, beschimpfen, in dem man sie für dumm erklärt. Aber gelöst hat man das Problem damit nicht. Gregor Keuschnig
Alle kursiv gedruckten Passagen sind Original-Zitate aus dem Buch "Der Gotteswahn"
Quelle
http://www.glanzundelend.de/glanzneu/dawkins.htm (Archiv-Version vom 17.08.2010)@ Thermometer langsam wird mir klar warum du hier so aufdrehst
:)