frivol schrieb am 02.11.2021:Was meinst du denn mit Jesus-Figur und Durchspielen?
Mit dem NT hat man einen Text vor sich, in dem es um die Figur "Jesus" geht -> "Jesus" ist eine literarische Figur.
Sowohl die Geburtsangaben, als auch die "spätere aktive Zeit" dieser Figur enthalten Andeutungen auf die Vorgänge im 1.Jhd
ohne ausdrücklich darauf einzugehen.
Die "Jesus"-Figur ist eine Art "Gegenentwurf" zu den jüdischen Messias-Erwartungen der damaligen Zeit.
Die damaligen Vorstellungen setzten auf ein gewaltvolles Durchsetzen des jüdischen Volkes gegenüber den Römern und den "Nicht-Erfüllern" des Gottes-Gesetzes.
Die Gewaltlosigkeit, die unschuldige Opferrolle (und das Fehlen einer Auseinandersetzung mit den damaligen Vorgängen) der "Jesus"-Figur passen nicht wirklich in das Umfeld, das im jüdischen Krieg und all den Niederlagen/Verlusten endete.
Entscheidend ist, wie der Leser an den Text herangeht.
Hat ein Leser keine Vorstellungen über das 1. Jhd, dann verwendet er den Text unter dem Motto "so war es damals".
Hat ein Leser Vorstellungen über das 1. Jhd und kennt die flächendeckende Gewaltausrichtung, dann riecht der Text eher nach dem Motto "so wäre es besser gewesen".
Interessant ist, dass die forschenden Theologen eine Art "Zwischen-Motto" vertreten wollen: "aus dem Glaubenstext kann man extrahieren, wie es damals war".
Auf diese Weise soll ein "biblischer Jesus" von einem "historischen Jesus" unterschieden werden können.
Auch hier wird demnach die "Jesus"-Figur als literarische Figur erkannt, es soll aber eine historische Person als "dahintersteckend" erkennbar sein.
Die nicht-historischen Anteile sollen dann vermutlich "Glaubensüberhöhungen" sein.
Das Zustandekommen dieser Überhöhungen und auch deren erfolgreiche Verbreitung (Akzeptanz durch Zuhörern/Lesern) liegt aus meiner Sicht gewaltig im Nebulösen.
Mir erscheint es sinnvoll "die gesamte Jesus-Figur" in einen Glaubensvorgang zu verlagern.
Die jüdischen Ereignisse im 1./2.Jhd sind derart dramatische Glaubensgeschehnisse (Zeloten, Krieg, Verlust von Tempel, Allerheiligstem, heiligem Land, keine Gott-Unterstützung), dass es zu einem nachhaltigen Schwenk in den Glaubensansichten gekommen sein muss.
In der Katastrophenzeit (ab 70 n.Chr) gab es zahlreiche Anführer, die "am Kreuz" gescheitert sind und letztlich kein Gottes-Reich eingeleitet haben.
Warum man sich über diese Zeit hinweg ausgerechnet einen der "mittendrin Gescheiterten" heraussuchen hätte sollen und sich dann nicht mit den anderen Gescheiterten befasst haben soll, erschliesst sich mir in keiner Weise.
Die "Jesus"-Figur und das "Jesus"-Christentum ist zentral von einem Ignorieren des zelotischen Umfeldes geprägt, wobei aber gleichzeitig Andeutungen gemacht werden.
Hierzu sollte man nachhaltig beantworten können, weshalb dies so ist.
Meine Antwort lautet:
Die "Jesus"-Figur ist der "ideale Messias", der das "zelotische Scheitern" in ein besseres Glaubensverständnis rückt.
In der Depressionsphase (mit all den Niederlagen und Verlusten) stellten "Jesus"-Erzählungen (es gab ja nicht nur die vier) Versuche zu neuer Glaubensmotivation dar.
Dadurch liegt die Grundlage zum Entwurf der "Jesus"-Figur und auch zur Verbreitung vor - die Leute wollten in grossen Teilen eine
neue Sichtweise auf ihre Vergangenheit.
Alles auf Basis des Argumentes einer "göttlichen Inspiration", der lange ersehnten "Gott-Unterstützung".
Sobald ein Gedanke den Glauben an "Gott" verstärkt, muss dieser Gedanke eine "Wahrheit" enthalten - so die Logik von Gott-Gläubigen.
In der Depressionsphase eine Glaubensverstärkung zu entdecken, ist damit unmittelbar das "Finden von Wahrheit".
Da dies in dieser Zeit so bedeutend war, formte sich die Idee des "heiligen Geistes". Der "heilige Geist" ist letztlich die eigentliche Basis der "Jesus"-Bewegung.
Der aus der "Jesus"-Figur extrahierbare "historische Kern" ist (ganz oder in weiten Teilen) die zelotische Vergangenheit, denn die "Jesus"-Erzählung durchläuft letztlich das "zelotische Scheitern" (ohne auf das zelotische Scheitern einzugehen!).