Warum brach die Deutsch-Russische Freundschaft auseinander?
02.10.2011 um 10:34Deutsch-sowjetische Beziehungen von 1939 bis zum Kriegsbeginn
Im „Großen Terror“ der Jahre 1936 bis 1940 ließ der sowjetische Diktator Josef Stalin tausende kriegserfahrene sowjetische Generäle und Offiziere ermorden und schwächte so die Rote Armee stark. Seit dem Münchner Abkommen vom Oktober 1938 war er überzeugt, dass die Westmächte dem nationalsozialistischen Deutschland keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen würden und die Sowjetunion zu einem Krieg zu drängen versuchten, den sie selbst nicht führen wollten. Daraufhin vollzog er eine Wende der sowjetischen Außenpolitik und strebte einen Interessenausgleich mit dem Deutschen Reich an.
Das NS-Regime war bereit, russische Expansionsinteressen in Osteuropa anzuerkennen, um Großbritannien „vom Kontinent abzudrängen“, den Polenfeldzug als „Einfrontenkrieg führen zu können“ und „Rückenfreiheit für die spätere Wendung nach Westen“ zu erhalten, „die ihrerseits als Vorschaltereignis des Lebensraumkrieges ins Auge gefasst wurde.“[5]
Mit einem Kreditabkommen vom 20. August 1939 vereinbarten beide Staaten sowjetische Lebensmittel- und Rohstofflieferungen an Deutschland für deutsche Industrie- und Rüstungsgüter an die Sowjetunion. Dem folgte am 23. August 1939 der Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) mit einem geheimen Zusatzprotokoll, in dem die Vertragspartner ihre gegenseitigen Interessensphären in Osteuropa abgrenzten. Der zentrale Punkt des Protokolls sah die vierte Teilung Polens vor und sprach Estland, Lettland, Finnland, Ostpolen und das rumänische Bessarabien der sowjetischen Interessensphäre zu.
Am 1. September 1939 löste der deutsche Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus. Die Sowjetunion besetzte ihrerseits ab dem 17. September 1939 gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll Ostpolen und später Litauen, für das sie Teile Polens an die deutschen Besatzer austauschte. Zudem schloss sie Ende September 1939 noch einen Grenz- und Freundschaftsvertrag mit Deutschland, der ihren endgültigen Grenzverlauf regeln sollte.
In den folgenden Monaten verfolgte die Sowjetunion mit Duldung und Unterstützung des Deutschen Reichs eine Expansionspolitik innerhalb der Einflusszone, die ihr der Hitler-Stalin-Pakt eingeräumt hatte. Sie übte Druck auf mehrere Nachbarstaaten aus mit dem Ziel, Gebiete zurückzugewinnen, die bis 1917/18 zum zaristischen Russland gehört hatten.[6] Finnland widersetzte sich dieser Politik im Winterkrieg (1939–1940), in dessen Verlauf die Schwäche der Roten Armee sichtbar wurde. Obwohl die Sowjetunion weite Teile Kareliens annektieren konnte, musste sie Finnlands staatliche Unabhängigkeit weiter anerkennen. Dagegen besetzte die Rote Armee Estland und Lettland am 16. Juni 1940 kampflos. Unter dem Vorwand, die im Vorjahr geschlossenen Beistandspakte seien gefährdet, erklärte sie beide Länder zu Sowjetrepubliken. Mit der Besetzung Bessarabiens durch sowjetische Truppen am 28. Juni 1940 endete ihre Expansion vorläufig.
Die Sowjetführung hatte ursprünglich angenommen, dass Deutschland in einen langwierigen Krieg mit den Westmächten verwickelt würde und ihr genügend Zeit bliebe, die Rote Armee auf einen möglichen Konflikt vorzubereiten. Der rasche Sieg der Wehrmacht über Frankreich im Westfeldzug 1940 hatte diese Hoffnung jedoch zerstört. Stalin reagierte auf die neue Lage mit zwei Grundsatzentscheidungen: Zum einen wollte er das Bündnis mit Deutschland unter allen Umständen aufrechterhalten und Hitler nicht zum Krieg provozieren. Zum anderen versuchte er durch weiteren Druck auf Nachbarstaaten, die strategische Position seines Staates zu verbessern. So besetzte die Rote Armee über die im Hitler-Stalin-Pakt zugestandenen Gebiete Bessarabiens hinaus die Nordbukowina und das Herza-Gebiet. Zudem schlug Stalin Bulgarien einen Beistandspakt nach baltischem Muster vor. Dadurch entstanden Spannungen mit Deutschland.
Hitler war damals aber ohnehin längst zum Krieg gegen die Sowjetunion entschlossen.[7] Schon am 4. September 1936 hatte er dem Ministerrat unter dem Vorsitz Hermann Görings in einer Denkschrift zur Rüstungspolitik erstmals den Grundgedanken eines „unvermeidbaren“ Krieges gegen Russland zur Kenntnis gegeben.[8] Ein Sieg im Osten sollte Deutschland auf dem Kontinent wirtschaftlich autark und eine britische Seeblockade, wie es sie im Ersten Weltkrieg gegeben hatte, wirkungslos machen. Ab dem 2. Juni 1940 hatte Hitler Vertrauten im Oberkommando des Heeres (OKH) seine Überlegungen für einen Angriff auf Russland mitgeteilt. Am 29. Juli 1940 informierte der Chef des Wehrmachtführungsstabes Alfred Jodl seine Mitarbeiter über Hitlers Entscheidung, „[…] zum frühestmöglichen Zeitpunkt durch einen überraschenden Überfall auf Sowjetrussland die Gefahr des Bolschewismus ein für allemal aus der Welt zu schaffen.“[9] Am 31. Juli 1940 teilte Hitler dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) seinen Angriffsentschluss mit und befahl die operative Kriegsvorbereitung. Er rechtfertigte den Zweifrontenkrieg ungeachtet der sowjetischen Vertragstreue nun mit der angeblichen Gefahr, dass das unbesiegte Großbritannien sich mit der Sowjetunion verbünden und diese somit als „Festlandsdegen“ gegen Deutschland verwenden könne.[10] Er ließ die norwegisch-finnische Grenze befestigen, schloss mit Finnland ein Transitabkommen und entsandte sogenannte Lehrtruppen nach Rumänien. Außerdem garantierten Deutschland und Italien die rumänischen Grenzen. Stalin ließ im Gegenzug eine rumänische Inselgruppe in der Donaumündung und die vorgelagerte strategisch wichtige Schlangeninsel besetzen.
Am 12. November 1940 besuchte Molotow auf Einladung der deutschen Regierung Berlin, um den eventuellen Beitritt der Sowjetunion zum Dreimächtepakt zu besprechen. Beiden Seiten war es damit jedoch nicht sonderlich ernst. Hitler befahl dem OKW am selben Tag, die Angriffsvorbereitungen unabhängig vom Ausgang der angesetzten Gespräche mit Molotow planmäßig fortzusetzen. Molotow machte den Beitritt von Zugeständnissen abhängig, etwa von einem verstärkten Einfluss der Sowjetunion in Ungarn, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei sowie von weiteren Konzessionen in Finnland und Rumänien. Zudem forderten die Sowjets in einer Note vom 25. November 1940, dass Japan die Bergwerkskonzessionen auf Nordsachalin an die Sowjetunion abtreten solle. Trotz mehrfacher Mahnung beantwortete Hitler diese Note nicht. Weder wollte er das finnische Nickelgebiet und das rumänische Erdölgebiet in Reichweite der Sowjetunion sehen, noch die Japaner zur Aufgabe ihrer Naphtha- und Kohlengruben bewegen. Die Geschichtswissenschaft geht heute jedoch davon aus, dass für Hitlers Politik „das sowjetische Verhalten bestenfalls Anlässe und Vorwände für die Kehrtwende gab, sie aber nicht verursachte“.[11]
Hitler wies insbesondere Molotows weisungsgemäße Forderung nach weiteren Zugeständnissen in Bezug auf eine Neutralität Finnlands zurück. Dies deutete die Führung der Roten Armee, die damals eine weitere Besetzung Finnlands plante, als Kriegsvorhaben Hitlers. Stalin änderte seine Politik gegenüber Deutschland jedoch nicht: Im Januar 1941 schloss die Sowjetunion mit Deutschland ein Abkommen über die weitere Lieferung von Rohstoffen für Rüstungsgüter. Eine Umstellung auf Kriegswirtschaft unterblieb.[12] Aufgrund der wirtschaftlichen und strategischen Vorteile für beide Seiten aus diesem Abkommen ging Stalin davon aus, dass auch Hitler vorerst den Status quo aufrechterhalten wollte. Seine expansive Balkanpolitik und der am 14. April 1941 mit Japan geschlossene Nichtangriffspakt sollten der Sowjetunion genug Zeit für verstärkte Aufrüstung geben.
Sowjetische VerteidigungsvorbereitungWikipedia: Deutsch-Sowjetischer Krieg
Die Militärstrategie der Roten Armee war seit 1934 auf eine Vorwärtsverteidigung ausgerichtet: Ein Angriff sollte möglichst bald mit offensiven Gegenschlägen beantwortet werden, um den Kampf auf dem Gebiet des Gegners auszutragen und diesen dort zu besiegen. Deutschland mit seinen Verbündeten Italien, Rumänien und Ungarn galten als mögliche Hauptgegner im Westen, die im Kriegsfall bis zu 300 Divisionen einsetzen könnten. Dabei rechnete der sowjetische Generalstab unter Boris Michailowitsch Schaposchnikow im September 1940 realistisch in etwa mit dem Verlauf der späteren zwei deutschen Angriffslinien, Umfassungsversuchen, anschließenden deutschen Vorstößen auf Moskau und Leningrad und einer mehrjährigen Kriegsdauer, die eine anhaltende und breite Mobilisierung erfordern würden.
Nach dem deutschen Polenfeldzug begann die Sowjetunion, entlang der neuen Grenze zum Deutschen Reich die sogenannte Molotow-Linie zu errichten, die die etwa 300 Kilometer weiter östlich liegende Stalin-Linie als westliche Verteidigungslinie ablöste. Der auf Offensivverteidigung zugeschnittene Generalmobilmachungsplan musste nach der Besetzung Ostpolens und dem Winterkrieg gegen Finnland reformiert werden. Ein Neuentwurf von Semjon Konstantinowitsch Timoschenko und Kirill Afanassjewitsch Merezkow vom September 1940 sah eine Gegenoffensive südlich der Pripjatsümpfe vor. Stalin setzte ihn im Oktober 1940 in Kraft, befahl jedoch eine Truppenkonzentration im Raum Kiew, um einem erwarteten deutschen Vorstoß zur Besetzung der Ukraine und des Kaukasus zu begegnen. Von Februar bis Mai 1941 wurden Truppenaufstellung, Verteilung, Führungsstrukturen und Nachschublinien der westlichen Militärbezirke noch mehrfach geändert. Dabei wurde die bisherige Strategie einer sofortigen breiten Gegenoffensive im März 1941 aufgegeben; diese sollte nun allenfalls in wenigen Frontabschnitten und erst nach einer vollen Mobilmachung und erfolgreichen Abwehr feindlicher Vorstöße erfolgen.[26]
Ab März 1941 zog die Rote Armee zusätzliche Divisionen aus anderen Landesteilen in den westlichen Militärbezirken zusammen und verteilte sie entlang der gesamten Westgrenze. Sie folgte dabei Stalins Direktiven vom Oktober 1940 und reagierte auf den ihr bekannten deutschen Truppenaufmarsch. Die „Abteilung Fremde Heere Ost“ im OKH, die vertraglich verbotene deutsche Aufklärungsflüge über sowjetischem Gebiet wiederaufnahm, beurteilte die sowjetische Truppenverstärkung übereinstimmend und kontinuierlich von März bis Juni 1941 als rein defensiv. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels zufolge sah das NS-Regime die grenznahe sowjetische Truppenkonzentration als das Beste an, „was […] überhaupt passieren kann“, weil sie den geplanten „Durchstoß“ erleichtere und „eine leichte Gefangenenbeute“ ermögliche.[27]
Die sowjetische Führung ging davon aus, dass die Rote Armee nicht vor 1942 gegen die Wehrmacht kampfbereit sein würde, vor allem weil die durch die „Säuberungen“ 1936 bis 1940 getöteten Generäle und Offiziere nicht schnell genug ersetzt werden konnten.[28]
Am 5. Mai 1941 erklärte Stalin 2000 Absolventen sowjetischer Militärakademien, künftig sei „bei der Umsetzung der Verteidigung unseres Landes […] offensiv zu handeln […]. Wir müssen unsere Erziehung, unsere Propaganda, Agitation, unsere Presse in einem offensiven Geist umbauen“.[29] Die Rede sollte den Offiziersnachwuchs angesichts der organisatorischen Schwäche der Roten Armee auf die Umsetzung der seit Oktober 1940 gültigen Offensivstrategie einschwören, auch weil Stalin ab 1942 oder später mit einem Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg rechnete.[30]
Der sowjetische Geheimdienst GRU hatte Stalin erstmals am 20. Januar 1940, dann am 8. April und 28. Juni sowie am 4., 27. und 29. September 1940 über mögliche deutsche Kriegsabsichten gegen die Sowjetunion, am 29. Dezember 1940 auch über Hitlers „Weisung Nr. 21“ informiert. Der NKWD berichtete zudem zwischen 9. Juli und 6. November 1940 sechsmal über deutsche Truppenverschiebungen an die Ostgrenze des Reiches. 1941 häuften sich derartige Berichte. Stalin ließ sie sich alle unmittelbar und unkommentiert zustellen, hielt keine Rücksprache darüber und behielt sich so ihre Auswahl und Deutung im Sinne seiner Politik vor.[31] Anfang Mai 1941 berichtete der Agent Richard Sorge den Sowjets, der deutsche Angriff solle mit 150 Divisionen am 20. Juni erfolgen.[32] Doch Stalin zeigte sich bis zum Kriegsbeginn unwillig, Hitlers Angriffsabsicht zur Kenntnis zu nehmen.[33] Er wertete alle substanziellen Warnungen aus Kreisen des deutschen Widerstands sowie der britischen und sowjetischen Geheimdienste als Desinformationen, mit denen Großbritannien ihn in den Krieg gegen Deutschland hineinzuziehen versuche. Er ging weiter davon aus, dass Hitler keinen Zweifrontenkrieg wagen würde, solange er Großbritannien nicht besiegt habe. Diese Fehleinschätzungen trug später wesentlich zu den großen Anfangserfolgen der Wehrmacht bei.[34]
Am 15. Mai 1941 schlugen die Generäle Schukow und Timoschenko Stalin vor, einen Präventivschlag gegen den deutschen Aufmarsch einzuplanen. Dieser lehnte den Vorschlag nach ihren übereinstimmenden Nachkriegsaussagen strikt ab und verbot ihnen entsprechende Maßnahmen.[35] Gleichwohl verstärkte die Rote Armee ihre offensive Aufstellung; ob sie eine verdeckte Teilmobilmachung einleitete, beurteilen Militärhistoriker verschieden. Ein Befehl Stalins dazu ist nicht dokumentiert.[36]
Am 13. Juni 1941 beschloss die sowjetische Führung, 237 von 303 sowjetischen Divisionen mit sechs Millionen Soldaten in vier grenznahen Frontabschnitten gegen einen Angriff im Westen bereitzuhalten. Dazu sollten etwa ein Drittel des Personals und der Kraftfahrzeuge aus dem Landesinnern herangeführt werden. Zudem sollte die angenommene Unterlegenheit der Luftstreitkräfte bis Ende 1941 mit 100 neuen Fliegerregimentern ausgeglichen werden. Aufgrund des ständig reformierten Plans wurde die ursprünglich bis Ende Mai 1941 geplante volle Mobilmachung verfehlt; nach Kriegsbeginn ließ sie sich nicht mehr wie vorgesehen umsetzen. Die Molotow-Linie war noch nicht fertiggestellt; in 60 Prozent der fertigen Bunkeranlagen fehlte es an Bewaffnung und Kommunikationsmitteln. Nur 13 Prozent der vorgesehenen schweren, sieben Prozent der mittleren Panzer, 67 Prozent der Kampfflugzeuge, 65 Prozent der Flugabwehrgeschütze, 50 bis 75 Prozent der Nachrichtenmittel waren bei Kriegsbeginn einsatzbereit. Die Verteidigungsstaffeln konnten ihre Aufstellungsräume nicht schnell genug erreichen, so dass sie leicht voneinander und vom Nachschub abgeschnitten wurden.
Die Rote-Armee-Führung hatte keinen deutschen Überraschungsangriff vor Erreichen der Sollstärke ihrer Truppen eingeplant, da sie von einer Früherkennung feindlicher Absichten und rechtzeitigen Aufmarschbefehlen Stalins ausging.[37] Der Oberbefehlshaber der Marine und Leiter des Militärbezirks Leningrad, Andrei Alexandrowitsch Schdanow, trat am 21. Juni aus gesundheitlichen Gründen einen Urlaub am Schwarzen Meer an. Trotz vieler Warnungen durch Überläufer und Diplomatie wurde am 21. Juni zunächst nur die Moskauer Luftverteidigung auf 75-prozentige Kampfbereitschaft gebracht. In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni ließ Stalin nach mehrstündiger Beratung mit seinen Generälen die Truppen in den Grenzbezirken in Alarmbereitschaft versetzen.[38]