sacredheart schrieb:Es ist schin etwas mit dem Gemeinschaftsgefühl. aber warum gab es das früher noch irgendwie und jetzt immer weniger? Den Eindruck habe ich auch.
Und da vergleiche ich gerne mit meiner zweiten Heimat Lima.
Da gibt es regelhaft noch eine große familiäre Verbundenheit. Die ist aber nicht einfach so da, die ist auch notwendig. Der demente Onkel über 80 wird halt von der ganzen Familie mitgetragen.
Das liegt nicht nur daran dass das alles nette Menschen sind obwohl das auch stimmt sondern auch mangels Alternative.
Wenn jemand in der Familie ein finanzielles Problem hat beteiligen wir uns halt alle. Und wenn sich 100 Personen beteiligen dann ist das auch für alle tragbar.
Einer der Gründe ist ein viel grobmaschigeres soziales Netz. Da weiss jeder wenn ich nicht helfe und die anderen dann landet man nicht weich.
Ich habe eine Weile gebraucht um das System der Straßenverkäufer zu verstehen. Da stehen Männer mit 20 Flaschen an einer Kreuzung und verkaufen Wasser an die Auotfahrer. Zum doppelten Ladenpreis. Und viele Menschen kaufen bei denen. So wie bei der Oma mit der Kartoffelkiste. Die verkauft nur Kartoffeln. Ganz viele Menschen bleiben stehen sprechen mit ihr und kaufen Kartoffeln. Weil alle wissen: Wenn wir uns nicht kümmern tut es keiner.
Das grobmaschige soziale Netz führt auch dazu dass jeder sich für seine Mitmenschen verantwortlich fühlt im Rahmen seiner Möglichkeiten.
Bei uns driften Familien auseinader. Und das liegt auch am Grundgefühl gegenüber dem Staat 'Ich habe einen Anspruch auf...'
Das ist kein Appell unser Sozialsystem zurückzubauen aber auch das hat einfach Nebenwirkungen. Eine davon ist eine weit unpersönlichere Solidarität.
Im Ergebnis wäre ich lieber der demente tio Carlos als im Seniorenstift der Mann aus Zimmer 417.
Ich denke die ganz grundlegenden Veränderungen in unserer Gesellschaft haben mit der Digitalisierung zu tun. Digitalisierung kann man nicht nur als eine Verlagerung von Inhalten ins virtuelle zu verstehen. Ich verstehe (so wie auch viele in der Medien und Kulturwissenschaft) die Digitalisierung, genau wie die Industrialisierung, als eine ganz neue Menschheitsepoche, bei der viele aufkommende Fragne mit alten Konzepten nicht mehr beantwortet werden können.
Industrialisierung war eine Bewegung hin zu einer Massengesellschaft. Wo es vorher Dorf und Stadtgemeinschaften gab, die recht weit voneinander entfernt waren, musste man jetzt große Fabriken und Verzahnung vieler verschiedener Industriebereiche erreichen und auch eine Professionalisierung von Arbeit. Daraus sind auch Schulen entstanden: Man musste Menschen erziehen und ihnen eine gewisse Grundbildung mitgeben, um sie ein Stück weit zu normen, damit sie für die Industrie verwertbar waren (anders als irgendwelche Klosterschulen von vorher, wo jeder lehren konnte, was er wollte).
Es haben sich da Menschen ganz fundamental ändern müssen, von der Dorfgemeinschaft zur Großstadt und zum richtigen Staat, wo die Regierung mit Radios und später Fernsehern einen Echtzeit Einfluss auf all ihre Bürger ausüben kann.
Und vor so einer gigantischen Umwälzung stehen wir wieder, bzw. sind schon drin. Die Menschen und die Gesellschaft verändern sich schon, aber wir haben noch keine Antworten auf die Fragen, die dadurch aufgeworfen werden.
Du sprichst vom sozialen Netz und denkst, dass eine zu starke Infantilisierung durch Leistungsanspruch Menschen und deren Zusammenhalt schwächt (so wie ich dich verstanden habe). Ich glaube, dass das zum Teil stimmt, aber diese Infantilisierung nicht originär daher kommt, dass der Staat sich kümmert. Im gegenteil, ich glaube, sie entsteht daraus, dass er sich falsch kümmert.
Richtig ist für mich: Es gibt ein Grundbedürfnis in der heutigen Gesellschaft nach mehr halt. Wir haben heute nicht nur wie vorher eine Klassengemeinschaft, eine Arbeitsbelegschaft, eine Dorfgemeinschaft, ein Viertel. Wir haben tausende solche schnell wechselnden sozialen Netzwerke. Man ist von seinen Nachbarn entwurzelt, man ist von seinen Kommilitonen entwurzelt, man ist sogar von seiner Schulklasse entwurzelt und gerade die junge Generation findet immer mehr halt im Internet, wo man sich wenigstens kleine 'Stämme' suchen kann, überschaubare Systeme, in denen man irgendwie dazugehört.
Für mich sind grassierende Diskussionen über identity politics (und die gibt es überall. Die gibt es von links und von rechts, aus jeder richtung, mal versteckt, mal ganz offen) ein Symptom davon, dass Menschen sich nach einer Identität sehnen, die Gesellschaft ihnen aber keine mehr liefern kann. Unsere Welt ist zu chaotisch dafür, als dass man sich in der Jugend eben eine Identität formt und die dann so im großen und ganzen behält (vonwegen: "Ich bin ein arbeiter und ich bin damit zufrieden" oder "Ich hab meine familie und meinen Platz in meiner Stadt und das reicht mir"). Und das meine ich nicht wertend, das ist ein Zustand, den wir wahrnehmen und damit umgehen müssen. Es gibt kein zurück.
Ich denke nicht, dass ein schwächeres staatliches sozialsystem zu einem größeren Zusammenhalt untereinander führt. Ich glaube, es gibt arme länder, wo es den zusammenhalt gibt, aber in den USA z.B. erkennen wir das nicht, obwohl die Sozialsysteme dort schwach sind.
Ich denke das große Problem ist, dass Menschen sich nicht mit denen vernetzen können, mit denen sie sich vernetzen wollen und müssten und nciht wissen, wie sie ein verlässliches soziales netz für sich selbst aufbauen können.
Den Familie, Staat, Arbeit, Klasse, Kirche usw. können diese Identität heute einfach nicht mehr gewährleisten. Um als entwurzelter MEnsch aufgefangen zu werden, braucht es mehr als Geld vom Staat. ABER: Es braucht den Staat, um eine Gesellschaft aufzubauen, in der möglichst wenig Menschen entwurzelt sind.
Darauf zielt mein Ansatz im Strafrecht. Wie vernetze ich Menschen miteinander? Wie Sorge ich dafür, dass opfer Ansprechpartner haben, die mehr als nur eine Funktion sondern ein anderer Mensch für sie sind? Wie schaffe ich es, dass jeder potentielle Täter irgendeine Person hat, deren Respekt er will, den er aber nur bekommt, wenn er sich nicht kriminell verhält? Bzw. zu der er bei Problemen gehen kann?
Ich habe in meinem Zivildienst ein Jahr lang in einer Psychiatrie gearbeitet. Dort war ich auch jemand, der nur eine funktion erfüllt hat, unabhängig davon, wie gut ich mich mit einem patient verstand oder wie nahe mir deren leiden ging. Oft war es so, dass jemand mir wirklich schwierige fragen bezüglich 'was soll ich denn jetzt achen' stellt oder mir klar war, dass das jemand ist, der einen Monat nach entlassung wieder da sein wird und andere hilfe braucht, als die psychiatrie ihm geben kann.
Aber das hätte ich niemals zugegeben. Dann verwies ich ihn weiter, z.B. an die Sozialarbeiterin, oder seinen Betreuer. Ich habe da schon gewusst, dass das System ihnen, egal ob sie kooperativ sind oder nicht, keine Hilfestellung bei ihren Problemen bietet, aber sie an die Stelle verwiesen, die ihnen theoretisch helfen müsste. Natürlich ist es kein moralischer Makel von mir, nicht helfen zu können, aber es ist ein makel des Systems, dass das system nciht zugeben kann, dass es jemandem nicht helfen kann (zumindes tnicht, ohne dabei entweder demjeniegen die schuld zu geben oder zu behaupten, es ginge nicht besser).
Ich will, das unsere Gesellschaft wieder daran glaubt, dass es bessere Systeme für uns geben kann, dass es ein besseres zusammenleben geben kann und hinterfragt, ob ein System wirklich das beste ist. Natürlich mit wissenschaftlichen Studien, natürlich mit Erfahrungswerten. Keine ideologischen Utopien, aber ernsthafte versuche, jahrzehnte oder jahrhunderte alte systeme zu ändern, um die neuen Herausforderungen die sich uns stellen annehmen zu können.
Ansonsten agiert unser Staat genau wie ich in der Psychiatrie beim Strafrecht.Er verweist auf die entsprechenden Stellen, erklärt sich vielleicht zu kleinen Reformen bereit wie mehr Polizisten oder höhere Strafen, aber eigentlich weiß er insgeheim, dass er gar keine Antworten parat hat. Aber er darf es nicht zugeben.