Tussinelda schrieb:da hier viele schon deutlich älter sind als Jugendliche stellt sich mir die Frage, wie wir denn denken, argumentieren, Informationen suchen, verarbeiten, Meinung bilden etc. gelernt haben. Wie hast Du es denn gelernt? Also ich war schon gebildet, hatte eine eigene Meinung und konnte die auch vertreten, habe Informationen gesammelt etc. ganz ohne Internet. Weder bin ich total verblödet, noch haben ich (oder meine Eltern) Probleme mit dem Internet. Oder ein Problem mit dem Leben/Wissen heute, weil es jetzt Internet gibt und es das früher nicht gab. Wie erklärst Du Dir das?
Auch der post wird leider wieder lang, aber das ist eine interessante frage:
Natürlich bist du/ihr nicht verblödet. Es gibt aber einen unterscshied zwischen 'mit etwas aufwachsen' und 'es nutzen lernen'.
Du kannst das internet nutzen, für das, was du tun möchtest. Ich weiß nicht genau wie alt du bist, aber ich gehe davon aus, dass soziale Medien kein Fremdwort für dich sind und so.
Du kannst im Internet recherchieren, diskutieren, bilder teilen und sehen, kommunizieren. Es ist ein funktionales Tool für dich.
Das ist bei vielen Leuten ü40 so, wohl bei den meisten (bei ü65 sieht das schon wieder anders aus).
Aber du hast (vermutlich, manche älteren haben es) nicht die erfahrung gemacht, wie es ist, stundenlang auf einem teamspeak oder discord server rumzuhängen. Wie es ist, wenn soziale Medien zu einer zweiten Realität für dich in deiner Klasse werden. Du hast das Internet in der Schulzeit nicht als Fenster nach draußen kennen gelernt, wo es viel mehr gibt, als das, was sich in deiner Klasse abspielt.
Dir wurden nicht von Alex gute Nacht Geschichten vorgelesen, du hattest nicht mit zehn ein Tablet oder Smartphone, mit dem du immer erreichbar warst und immer alles aufnehmen konntest. Mit dem du schon in sehr jungen jahren auf nicht altersgerechte videos (und damit meine ich keine softcore pornos und teenie horrorfilme) gestoßen bist.
Du hast nicht dein ganzes leben in jeder sekunde mit deinen freunden geteilt. Du hast vllt stundenlang mit denen telefoniert, aber das ist etwas anderes, als etwas zu erleben und es in einer sekunde mit ihnen zu teilen.
Du hast nicht schon als kind täglich stundenlang Youtube konsumiert und dich daran gewöhnt, alles genau dann zu sehen und zu erfahren, wenn du es willst, alles pausieren, alles verändern zu können.
Du weißt, dass alle diese dinge existieren und erlebst jetzt ein paar von diesen, aber das ist etwas anderes, als damit aufzuwachsen.
Früher konnten wir Leuten etwas beibringen,indem wir sie alle in einen raum gesetzt haben und es ihnen erzählt haben. Oft mit mitschreiben oder auswendig lernen. Die Leute, die es dann gut können wollten, mussten natürlich schon damals eigenarbeit und eigenrecherche leisten, aber so haben wir den kindern etwas beigebracht. Und sie haben das dann angehört, ob es sie interessiert hat oder nicht (die meisten, ein bisschen).
Ein Kind, das aber daran gewöhnt ist, alles selbst innerhalb von sekunden zu recherchieren, aber eben nur das, was es interessiert, und alles andere zu blockieren und wegzuklicken, bei dem geht das nicht mehr.
Der kann vielleicht noch gerade so im unterricht still sitzen, weil er gut erzogen ist, aber wirklich dem ganzen aufmerksamkeit und bedeutung beizumessen, das wird immer schwerer, gerade bei denen, die jetzt in die weiterführende Schule kommen.
Um mal das Beispiel von mir zu nehmen:Ich bin ja eine Schnittstellengeneration. Auf der Grundschule hatte ich mit Internet nichts zu tun, das mit youtube fing dann so langsam auf der weiterführenden schule an, genauso wie soziale medien und das smartphone kam, als ich fast von der schule runter war.
Und ich war ein guter schüler, ich hab still gesessen, mir das angehört (weil mich vieles davon ernsthaft interessiert hat) und mich gemeldet. Aber ich hab dann irgendwann schon auch die grenzen der schule gesehen.
Ich war schon früh als jugendlicher auf allmy und hab da diskutiert (zum glück unter einem anderen account
:) ), weil ich mich damals viel mit Religion beschäftigt habe (weg vom gläubigen zum atheisten, dann auseinandersetzung mit religion). Das war ein thema, das mich stark interessiert hat, da hab ich überhaupt erst angefangen, diskutieren und recherchieren und sowas zu lesen, mich auf argumente anderer einzustellen. In der Schule habe ich das nicht gelernt. Wie soll man das auch in Form von Unterricht groß beibringen? Auch die ältere Generation hat sowas autodidaktisch gelernt, wenn sie es wollten, in irgendwelchen Diskussionszirkeln oder eben einfach über diskutieren. Nur ohne internet und factchecking, aber in jedem fall nicht in der schule (früher hat man sich auch nicht wie wir heute 24/7 im netz gestritten , auch nicht offline).
Da gab es themen, die mir sehr wichtig waren und wo der lehrer mir nicht wirklich etwas bieten konnte, was ich nicht selbst gelesen hatte. Der musste ja seinen unterricht durchziehen. der kann mal kurz 5 minuten diskutieren, der könnte sich nach der stunde hinsetzen und einem materialgeben. Aber der kann nicht, was allmy kann: 24/7 Diskussionsgegner bieten, die einem in dem thema weiterbringen, weil sie einem widersprechen, sodass man bessere argumente bzw. gegenargumente finden muss (bis es sich halt wiederholt). Und darum war schon früh klar, dass themen, an denen ich wachsen will, nichts in der schule zu suchen haben.
Auch auf der Uni sehe ich mich als schnittstelle. Der Realunterricht steht noch im vordergrund, aber man verteilt schon die meisten aufgaben, lösungen und scripte online.
In meinem Mathestudium war ich nie in der Vorlesung nach dem ersten Semester. Weil da im endeffekt einer das script erklärt, das ich mir auch online , zu hause, mit was zu essen dabei und in jogginghose, durchlesen kann. Und dabei googeln kann, wenn ich was nicht verstehe, musik hören kann, pausen machen kann wie ich will usw.
Andere aus meienr Generation konnten noch 90 Minuten der Vorlesung folgen, so wie die Generation früher. Ich konnte das nicht mehr. Ich konnte das alles verstehen, was da passiert, wenn ich es portioniere, wie ich es für richtig halte und ich war dann auch letztendlich gut in meinem studium. Aber mir ist vollkommen klar, wie es sich anfühlt, die aufmerksamkeitsspanne nicht zu haben, etwas langweiligem 90 Minuten lang die volle aufmerksamkeit zu schenken (und dafür reicht es, wenn mal 2-3 minuten dazwischen langweilig sind, immer mal wieder, und danach es wieder ok ist).
Die ältere Generation konnte das noch einigermaßen. Je weiter wir runter gehen, desto weniger können das die kinder. Weil sie gewöhnt sind, wie gesagt, alles zu portionieren, zu ändern, zu kontrollieren. Und das genau so, wie es auf sie persönlich am besten zugeschnitten ist. Und das können die Lehrmethoden der älteren Generation nicht leisten. Sie erreichen die Kinder nicht mehr, obwohl beide guten Willen haben mögen (die kinder und die lehrer).