shionoro schrieb:Klasse 7 nehme ich hier, damit man ein Bild von dem Grundwissen hat, was ich durchaus noch zwingend vermitteln würde.Und die begründung ist NICHT nur kurzfristig. Sie ist langfristig, dass wir da charakterstärkere und glücklichere Menschen haben, die eben dann letztendlich auch zu einer besseren Gesellschaft führen.
Dir ist aber schon klar, dass die Mehrzahl der Schüler, die das Schulsystem durchlaufen, glückliche und charakterstarke Menschen werden? Und wenn nicht, nicht immer die Schule dafür verantwortlich ist?
shionoro schrieb:Das ignoriere ich nicht. Nur erkläre ich es eben nicht damit, dass das system gut ist. Menschen können sich an allerlei dinge anpassen und auch das gesellschaftssystem passt sich ja an die Schulen an.
Das Leben ist kein Ponyhof ... Du wirst ja auch in deinem Erwachsenenleben von Steuererklärung bis Zahnarztbesuch mit Elementen konfrontiert, die du vermutlich nicht gut findest. Irgendwann im Leben muss man diese Dinge auch mal aushalten.
Finde mal jemand, der 40+ Jahre täglich im Job glücklich arbeitet. Täglich. Soll Schule nicht auch aufs Leben vorbereiten?
shionoro schrieb:Dazu passen wir studiengänge und ausbildungen an das schulniveau an, wir nutzen nachhilfe und anderweitige hilfsmittel für die schüler und da sind ja auch immer noch eltern, die ausgleichend wirken.
In deiner Welt gibt es Eltern, die auch bereit sind, Geld für Nachhilfe zu berappen. In meiner beruflichen Welt gibt es Haushalte, wo Kinder mehr Störfaktoren sind - wir haben Eltern, die sich nur um sich selbst kümmern. Wie haben Kinder, die nach Jahren aus dem Haushalt zum "Erzeuger", den sie oft schon Jahre nicht mehr gesehen haben, entsorgt werden, wenn ein neuer Job oder eine neue Beziehung für das bisher erziehende Elternteil vielversprechend scheint. Bei uns kannst du den Faktor Eltern knicken.
In meiner Klasse sitzen 30 Schüler, das ist unser Klassenteiler. Ich schaffe es oft, nach einzelnen Schülern individuell zu schauen, oft aber auch nicht. Wer soll dein Nachhilfesystem denn finanzieren? An welche Ratio Betreuer und Schüler denkst du? Welche Qualifikation haben die Betreuer?
Bei uns in der Stadt kannst du für 12,97€ brutto die Stunde als "pädagogischer Assistent" in der Grundschulganztagesbetreuung anheuern -hui ... da sind Leute angestellt, da bin ich froh, dass meine Kinder nie länger mit ihnen konfrontiert waren. Die schleppten ihre Gruppe monatelang jeden Mittag auf den nächsten Kinderspielplatz (der weder alters- noch quantitätsmäßig für diese Kids + normalen Spielbetrieb konzipiert war), wo die Kids "chillten" und alle Spielgeräte blockierten - und nichts vernünftiges machten - während die Betreuer auf der Bank chillten und sich freuten, dass sie das Geld leicht verdienten. Tat schon beim Hinsehen weh - konnte aber nicht geändert werden, weil die sogar noch offene Stellen hatten - d.h. die Betreuer konnten niedrigste Qualität abliefern und mobbten fleißig Leute, die sich anstrengten, aus dem Job raus. Wie stellst du sicher, dass das in deinem Jugendzentrum nicht passiert? Wer ist für die Pädagogik und das Konzept verantwortlich? Wie machst du die Qualitätskontrolle?
shionoro schrieb:Die Frage ist ja, warum trotz alle dem immer mehr verhaltensauffällige kinder da sind und ausbilder und professoren unzufriedener mit den Schülern sind als früher.
Bildung hat in manchen Gesellschaftsschichten keinen "Wert" bzw. sie erkennen den "Wert" nicht. Bei unseren Schülern sind die Gründe vielfältig - oft sind das z.B. die typischen Klischee Hartz4 Eltern, die immer die Story vom "Pech" erzählen und sich in ihrer Opferrolle fossilieren - wenn nun das Kind problemlos einen Schulabschluss und eine Lehre macht, fühlen sie sich vorgeführt - unglaublich, aber die Gruppe sabotiert sogar das schulische Weiterkommen des Kindes.
Dann gibt es die Verzweifelten - Migranten, die zum Mindestlohn jobben, die Kinder müssen bei Haushaltsabläufen mithelfen, die Alleinerziehenden, die sich aufreiben und finanziell auf keinen Nenner kommen - die Kinder aus "schwierigen Verhältnissen". Wir haben Kinder, die gehen im Winter nach Schulschluss nicht heim, weil es da kalt ist und das Schulgebäude geheizt ist, wir haben Kinder, die essen nur 1x am Tag warm in der Schule ... da fällt Bildung hinten runter.
shionoro schrieb:Eigentlich müssten unsere schulen doch viel besser sein als früher. Viel mehr kinder auf dem gymnasium, tolle neue pädagogische konzepte, keine prügelstrafe mehr, leichter verfügbares digitales wissen, mehr nachhilfeangebot als jemals zuvor.
Es gibt ja auch Schüler, die mit dem heutigen System gut klar kommen. Wogegen du heute konkurrierst, ist die Freizeitgesellschaft - unsere problematischen Schüler zeichnen sich z.B. z.T. durch einen extrem hohen Medienkonsum aus - die spielen auch mal 18 Stunden Fortnight am Stück. FSK ist ein Fremdwort. D.h. sie sind Reize gewohnt - dauerhafte Reize - im RL haben sie große Probleme, sich zu konzentrieren. Sie sind auch sehr einseitig fokussiert.
shionoro schrieb:Insofern: Meine These ist ja, dass die Kinder, die heute gut angepasst sind, das auch ohne schule wären. Denn sie sind das, weil sie sich eben anpassen können (und das tun sie auch in der schule, weil ihre eltern es ihnen so beibringen). Sie würden sich auch an eina nderes System gut anpassen.
Das unterschreibe ich. Bei Ann-Sophie ist das kein Problem - die geht auch ihren Weg, wenn sie die Waldorfschule besucht, weil sie zwei liebevolle Eltern hat, daheim viel liest, die Klavierstunde besucht und ein "geordnetes Familienleben" hat. Sie wird mit ihren Eltern die Kurswahl besprechen, die Kurse zuverlässig besuchen, die Eltern sind am Kind dran und wenn es Probleme gibt, wird in Nachhilfe investiert, um das Problem zu lösen - das ist vermutlich das Klientel, das du kennst.
Was ist mit Anna (ich verzichte nun mal auf einen Namen aus dem Chantalismuspool) - lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter, die arbeitet Schichten, d.h. Anna sieht sie nur jede zweite Woche (das haben wir tatsächlich oft) - die Familie hat auf finanzielle Probleme - Anna ist oft allein, trifft im Internet auf einen Loverboy oder eine Clique, die oft in der Stadt abhängt und auch mal Alkohol oder anderes konsumiert? Oder gleiche Konstellation Anton - der lebt mit Mama auf dem Dorf, weil es dort billiger ist, er kennt aber niemanden - daher kommt er heim, wärmt das Essen auf und fängt an, sich mit einem Computerspiel in eine Parallelwelt zu beamen. Die Mutter weiß das, weiß aber nicht, wie sie das Problem lösen kann. Ich garantiere dir - ohne pädagogische Arbeit lockst du weder Anna noch Anton hinter dem Ofen vor. Wenn Anton die Wahl hat, bleibt er eingeigelt daheim. Und Anna stylt sich auf um die Anerkennung zu bekommen, die daheim fehlt. Darauf liegt deren Fokus. Hier setzt ein Großteil unserer Arbeit an.
shionoro schrieb:Der Punkt hier ist ja, dass man eben NICHT so wie in meinem sytem konkret jederzeit schritte einleiten kann um auf eine bestimmte berufung hinzuarbeiten.
Dazu brauchst du erst mal eine Personaldecke. Wenn die qualifiziert sein soll, kostet das entsprechend. Meine Tochter besucht ein Gymnasium, wo der Rektor gerade daran scheitert, einige Leistungskurse einzurichten und sich die Haare einzeln ausreißt ... Wer koordiniert denn deine Kurse? Um dir eine Idee zu geben: Wir haben ca. 1200 Schüler und einen "Stundenplaner" - der arbeitet ca 70% seiner Zeit daran, den Vertretungsplan, Stundenplan, Prüfungsplan, etc. zu erstellen. Das ist fast ein Vollzeitjob. Je flexibler du bist, desto komplizierter wird das ... Dann noch die äußeren Zwänge - wir teilen z.B. unsere Schwimmhalle mit sieben weiteren Schulen - da ist nichts mit Flexibilität. Wir haben zwei Morgen, wo die Halle in einem Zeitfenster genutzt werden kann. Gleiches gilt für unsere Schulküche - zwei Küchen - 22 Klassen, die sie jeweils drei Stunden die Woche nutzen ... merkst du was?
shionoro schrieb:In meinem system würde man vor dem 21ten Lebensjahr irgendeinen Aufbaukurs (falls denn nötig) für eine Ausbildung, ein Studium oder einen Beruf machen, damit man diese Chancen ergreifen kann.
In der Realität machen ca. 2/3 unserer Schüler mit 15 oder 16 einen Schulabschluss, beginnen eine Ausbildung und sind mit 18 oder 19 soweit, dass sie ausgelernt Geld verdienen. Da Schule oft nicht das war, was sie uneingeschränkt liebten, ist das für sie so okay. Wenn du ihnen erzählen würdest, das Geld und damit die finanzielle Unabhängigkeit fangen >21 an, würden sie den blanken Horror bekommen.
shionoro schrieb:Ab einem gewissen alter (anwesenheitspflicht bis dahin zumindest für einige wenige, frei auswählbare kurse) vollkommen in Ordnung.
Nun pubertiert Anton mit 16 - beschließt, möglichst wenig zu belegen und dafür Fortnight durchzuzocken. Dadurch, dass er eh kaum da ist, wird der gesamte soziale Bereich (Freunde in der Schule) schwierig und er kommt immer ungerner. Er muss ja auch nicht -so liegt der Fokus auf Fortnight, nicht auf der persönlichen Bildung ... und dann?
Im Gegensatz dazu hast du August, Eltern Bildungsbürger, die mit Druck erreichen, dass er, eigentlich in der gleichen Phase wie Anton, acht Kurse belegt, sich entsprechend qualifiziert und auf das von den Eltern definierte Ziel "Abitur" hinarbeitet. Wo ist da die soziale Gerechtigkeit? August hat vermutlich durch das Elternhaus geprägt einen völlig anderen Erwartungshorizont und eine andere Grundeinstellung.
shionoro schrieb:Wer das will, darf das machen. Er hat eben trotzdem, sobald er denn geld verdienen möchte, die möglichkeit sich genau auf eine bestimmte Berufung vorbereiten zu lassen.
Individuell zugeschnitten. Lass sagen, er will Metzger werden. Lässt sich vorbereiten, beginnt die Ausbildung und wird nach drei Wochen zum Veganer. Dann beschließt er, lieber Erzieher zu werden - da passt dann aber die Vorbereitung nicht. Was machst du dann?
Groucho schrieb:Shionoro schrieb: Das ist schließlich eine festlegung von sinnlosen spezialwissen, was man irgendwann mal für relevant erklärt hat.
Mal ein paar Sachen, die es die Woche in meinem Unterricht gab: 2. Weltkrieg und die Folgen, Kommasetzung in Klasse 10 (da dort viele eine Büroausbildung machen), im Englischunterricht: aktuelle Stunde: Was passiert gerade in England?, in Deutsch Klasse 7: Werbeanalyse und wie funktioniert Werbung und wie manipuliert sie den Menschen, IT Unterricht: Formatieren eines Word Dokuments ... alles "Sinnloses Spezialwissen?"
shionoro schrieb:Und warum glaubst du fassen die dieses Wissen nochmal zusammen (und das mit viel Aufwand. Die haben da ernsthaft tutoren für, die du kontaktieren kannst per telefon und machen da gruppenforen wo leute zusammen aufgaben lösen), wenn sie annehmen würden, dass das in der Schule rumkommt für leute, die sich für MINT interessieren?
Unser Tutor an der Uni hatte für zwei (!) Stunden pro Woche Zeit. Nicht für die Person, für den Kurs. Da ca 50% der Leute das Fach nicht ernst nahmen, hatten wir den Tutor vor uns - davon war er aber auch öfters nicht da, da er selbst an seiner Karriere bastelte. Hätte jemand nach Bruchrechnung gefragt, wären schon die anderen über ihn hergefallen, da der Tutor keine Einzelnachhilfe gab, sondern sein Job war, dass die Anforderungen des laufenden Semesters - Hausarbeiten, Literaturrecherchen, kleine Forschungsaufträge und Klausurvorbereitungen laufen. Du hast da etwas falsche Vorstellungen, wie so eine Uni gestrickt ist - die Uni ist nicht individualisiert - wissenschaftliches Personal kostet Geld. Das muss sich rechnen.
shionoro schrieb:Das heißt sogar, dass es sie niemals gab. Allgemeinbildung ist ein konzept, um die unteren Klassen aus den höheren Zirkeln herauszuhalten. So vonwegen 'ach, du kennst das sinnlose spezialwissen nicht, das ich kenne? Dann bist du wohl dumm'.
Ist das echt deine Meinung? Ui ui ui .... Wissen - auch der von dir verteufelte Allgemeinwissensteil - ist macht und öffnet einfach Türen. Es ist einfacher, mit Abi arbeitslos zu sein als ohne Hauptschulabschluss. Und das, obwohl du bis dahin nur "Allgemeinwissen" erworben hast.
shionoro schrieb:Allgemeinbildung ist und war auch schon immer eine Lüge. Eine Lüge, die vor einigen Jahrzehnten durchaus noch sinnvoll war (man konnte ungefähr absehen, wer auf die schule geht und wohin er damit wohl ungefähr gehen wird), heute aber vollkommen absurd ist.
Das wird auch nciht davon wahr, dass du es gebetsmühlenartig runterbetest. Ohne ein gewisses Maß an Allgemeinbildung kannst du gar keine sinnvollen Verknüüfungen herstellen zu Dingen, die du hörst, siehst oder aufschnappst. Du brauchst dann Leute, die für dich denken - denk mal an Phishingopfer. Oder Opfer von Betrügern. Oder ... Ohne Allgemeinbildung verstehst du deine eigene Kultur nicht. Du wirst im Handyladen über den Tisch gezogen, weil du den Vertrag nicht lesen und verstehen kannst. Du bekommst deinen Haushalt finanziell nicht auf die Kette ....
shionoro schrieb:Aber Jugendliche wissen das eigentlich schon ganz gut, worauf sie keinen Bock haben.
Ich lebe in meinem Haushalt mit zwei Jugendlichen in der Höhe der Pubertät. Die haben Stimmungsschwankungen, da zieht es dir die Socken aus. Alleine die Leistungskurswahl meiner Tochter brachte mich um den Verstand, weil sie so unentschlossen war - nein - die weiß nicht, was sie will. Und wenn dann Freundin X beschließt, dass Franz LK cool sei, dann macht sie das auch. Und entscheidet dann nochmal um, wenn die Euphorie verflogen ist ....