Atrox schrieb:Sich mit einer Gruppe zu identifizieren ist nicht unbedingt sozialpathogen (schönes Wort, by the way). Wenn ich mich jetzt als Anhänger einer Bundesligamannschaft mit den anderen Fans identifizieren kann, ist das nicht wirklich verwerflich. Aber auch nicht soviel anders als wenn man alle vier Jahre mal die deutsche Nationalmannschaft anfeuert.
Sich mit einer Gruppe zu identifizieren ist in der Tat erstmal nicht in diesem Rahmen problematisch. Nur sind nationale Kollektive und nationale Identitäten nicht dasselbe, wie beispielsweise ein solidarischer Verein. Das die Fans mit Flaggen rumrennen, ist auch nur Audruck dessen, was problematisch ist.
Atrox schrieb:Halte ich ebenfalls so nicht für korrekt. Was ist ein nationaler Rausch und warum sollte man währenddessen keine Gesellschaftskritik äußern können?
Hier kommen wir zum Kern. Das Ding ist nicht das "nicht äußern können", sondern das nichtWahrnehmen können. Gemeint ist, dass strukturelle Ungleichheiten von den Nationalfarben einfach verschleiert werden, wenn du mir diese bildliche Formulierung erlaubst. Eigentlich hat man nämlich mit seinem Chef nichts gemeinsam, bis auf das Deutschlandtrickot (wie es sinngemäß in einem KIZ Song heisst). Das Bedürfniss, nach Gemeinschaft wird durch nationale Identifizierung einfach falsch kanalisiert. Man feiert beim Public Viewing die Nationalmanschaft ab und will das "wir" gewinnen, während gleichzeitig der Prozess der sozialen Atomisierung unaufhörlich voranschreitet.
Beim Nationalismus des 20. Jahrhunderts können wir eine übersteigerte und dadurch eindeutigere Form dieses Mechanismus ausmachen. Die soziale Frage wurde dort einfach wegdefiniert, da man ja nun eine "Volksgemeinschaft" war und jeder Einzelne nur eine Zelle in einem Organismus, der genau dort war, wo das Volk und die Nation ihn gebrauchen konnte. Nationale Identifizierung fetischisiert (oder essentialisiert, was dir lieber ist) sozusagen gesellschafltiche Widersprüche (zusätzlich).
Atrox schrieb:Ich persönlich fühle mich nicht wirklich als Patriot. Ich habe unglaubliches Glück in Deutschland geboren zu sein und hier zu leben. Ich bin glücklich darüber in einer Gesellschaft zu leben, die sich auf eine Verfassung geeinigt hat. Und ich weiß, dass ich als Deutscher niemals Gefahr laufe in echter Armut zu leben, sondern immer ein Dach über dem Kopf und was zu essen haben werde. Ich bin glücklich, dass ich keine existenziellen Ängste ausstehen muss.
Das ist ja auch dann etwas anderes, da in dem Fall auch keine identitätsstiftenden Mechanismen wirken.