Philipp schrieb:Wohl deshalb bin ich auch ein Freund der Mitte.
Fragt sich wo die Mitte ist, die bleibt ja nicht konstant. Die ersten Jahrzehnte lang war das noch einfach: In der Mitte zwischen CDU und SPD, die zunächst die FDP vertrat, ehe sie die Seiten wechselte. Da war die Mitte dann an der linken Seite der CDU, besonders in der Kohl Ära. Um diese Mitte zu ergreifen, bewegte sich die SPD unter Schröder extrem weit nach rechts, was sie sich vorübergehend leisten konnte, da Linke und Grüne relativ stark waren. Das war dann aber doch zu viel für die SPD; man musste sich anschließend auf eine große Koalition einlassen, in der letztmalig die Mitte nach links zog und in diesem Prozess rechts von der CDU einen Haufen unzuriedener Wähler und Nichtwähler, besonders aus dem Prekariat zurück ließ, die eine neue Heimat suchten und solange sie diese nicht fanden überhaupt nicht wählten. Dann kam 2010 Sarrazin mit seinem furchtbar rassistischen Buch und offenbarte, was niemand verwunderte, dass es ein Beststeller wurde, dass ein großer Teil der Bevölkerung, der sich von der Parteipolitik nicht mehr vertreten fühlte, rassistisch und fremdenfeindlich eingestellt war. Diese Erkenntnis koinzidierte mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke, wobei man erkannte, dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus keinesfalls parteipolitisch gebunden war und überhaupt nicht mehr 1:1 übnereinstimmte mit "der Rechten", so wie man sie bisher zu kennen geglaubt hatte, also mit der alten Rechten. Man sprach von einem "Rasissmus aus der Mitte der Geselllschaft", der nicht viel mit dem berüchtigten "Sachsen-Rassismus" zu tun hat, sondern aus allen Schichten kommt. An dieser Stelle wurde man "blind", wenn man versuchte herauszufinden, wo sich denn nun die politische Mitte befand; das wurde noch problematischer, als die FDP in der Bedeutungslosigkeit versank.
Seither ist es einfach nicht mehr richtig möglich, die politische Mitte auszumachen. Die Linke Wagenknecht denkt in wichtigen politischen Fragen wie dem Flüchtlingsthema extrem rechts, die Grüne ist eine nicht mehr identifizierbare Beliebigkeitspartei geworden und nur noch Mehrheitsbeschafferin, wie dies im ersten halben Jahrhundert der Republik die FDP war. Dafür bekamen wir am Ende eine neue rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei, die den Laden kräftig aufmischte, und auch die FDP tauchte wieder auf wie der Phoenix aus der Asche. Richtig linke Positionen vertritt überhaupt keine Parrtei mehr; die SPD versucht gerade, sich weiter nach links als bisher zu orientieren, um dort sich nicht mehr vertreten fühlende ex-Wähler aufzufischen. Die "Mitte" ist plötzlich da, wo Merkel Politik macht, die von der Rechten so sehr gehasst wird. Da Merkel aber entgegen häufiger Behauptungen keine soziale bzw. sozialdemokrtatische Politik macht - die Kaufkraft der Unterschicht wird immer geringer, während das Land immer reicher wird -, sondern im Gegenteil seit 2 Jahren AfD-POlitik light, wie ich es schon häufiger schrieb, in dem Irrglauben von der AfD die abgeluchsten Stimmen wieder zurück zu holen, scheint die politische Mitte so weit rechts zu sein wie in der gesamten Geschichte der Republik noch nie. Doch auch das ist ein Trugschluss, den die CDU/CSU langsam zu begreifen scheint, seit der letzten Wahl, denn es sind einfach nur die seit Sarrazin bekannten antihumanistischen Kräfte in der Wählerschaft, die das Pendel so weit nach rechts getrieben und die reaktionären Kräfte so stark gemacht haben.
Wenn die angenommene politische Mitte aber so weit rechts wie nie steht, ergeben sich Protestbewegungen am linken Rand, der sich politisch schon längst nicht mehr vertreten fühlt. Aber die Linke (nicht die Partei) sucht noch ihre Sprache, hat das ganze Jahrzehnt der sozialen Netzwerke verpennt und muss sich neu sortieren. Eigentlich wäre es höchste Zeit für eine neue linke Partei, die diesen Namen auch verdient. Insgesamt scheint die SPD das Tal der Tränen durchschritten zu haben und könnte sich theoretisch "neu erfinden", wobei ich nicht weiß, ob Martin Schulz der richtige Mann dafür ist. Eigentlich müsste es ein jüngerer, unverbrauchter Charismatiker machen, aber da gibts ja nichts. So wie die SPD ihren Nadir durchschritten hat, scheint die AfD, die sich gerade "zerlegt", ihren Zenit überschritten zu haben. Die "Mitte" dürfte sich daher, den zyklischen Schwingungsverhältnissen entsprechend, in den nächsten Jahren wieder nach links bewegen, die Frage wäre nur wie weit.
P.S. Ich war ja auf vieles vorbereitet, aber dass ich meinen gelibeten alten Paul Watzlawick jemals in einem von mir eröffneten Thread wiederfinden würde, hätte ich mir nie träumen lassen.
:D - R.I.P.