nachtigaller schrieb am 12.10.2018:Bezieht er in dem Buch den Kyschtym-Unfall ein? Die Tatsache, dass der sich nur anderthalb Jahre vor dem Dyatlov-Vorfall ereignete und wohl Krivonischenko als auch Slobodin in Majak gearbeitet haben, finde ich sehr interessant. Das wäre ein handfestes Motiv für ein gesteigertes Interesse an einigen der Mitgliedern der Dyatlov-Gruppe und ggf. deren Ausschalten seitens Militär/KGB. Aus den (leider spärlichen) Informationen, die man über die Familien erhalten kann, zeichnet sich ab, dass es sich um recht angesehene und privilegierte Leute handelte. Ein einfaches Verschwinden der Gruppe, wie es oft unter Stalin geschah, wäre da vermutlich zu brisant gewesen. Das hätte hohe Wellen geschlagen, auch bei den Studenten und Professoren des UPI, deren Loyalität und Systemtreue wichtig für die lokale Atomindustrie war. Berichte jenseits der Akte, u.a. von Mitgliedern der Suchmannschaft passen zu einer Theorie, bei der Militär/KGB beteiligt waren. Da wird bspw. mehrfach geschildert, dass Ermittler vor Ort waren, die nicht in der Akte erwähnt werden. Es kann natürlich trotzdem sein, dass die Gruppe verunglückte, jedoch deren Hintergrund gewisse Autoritäten auf den Plan gerufen hat, weil Spionage oder Auswanderung befürchtet wurden.
Ja, und er kommt überhaupt sehr ausführlich auf die Atompolitk der SU zu sprechen, da dies das Gerüst seiner These ist.
Achtung, ab hier SPOILER-WARNUNG!
Rakitin meint, dass zu der Zeit in der Rüstungspolitik der SU signifikante Umstrukturierungen stattfanden. Dies betraf insbesondere die Kriegsmarine. Beim U-Bootbau wollte man von Stahl auf Titan umsteigen. Dies sollte vor den feindlichen Mächten, also im wesentlichen der NATO, verborgen bleiben. Dazu plante man ein Programm der gezielten Desinformation: Der Feind sollte zu der Annahme verleitet werden, dass die SU weiter und in großem Umfang U-Boote aus Stahl baue. Für U-Boote aus Stahl brauche es als Korrosionsschutz eine Legierung, bei der Strontium ein elementarer Bestandteil ist. Strontium käme in der Natur in zu geringen Mengen vor, um den Bedarf hierfür auch nur annähernd zu decken, man wäre also auf große Mengen des Strontiums angewiesen, das als radioaktiver Abfall in der Atomindustrie anfällt bzw. auf ein bestimmtes Isotop davon. Man plante also eine "kontrollierte Übergabe" von mit diesem bestimmten Isotop kontaminierten Dingen an feindliche Aufklärungsagenten, die sich, laut Rakitin, in großer Zahl im Lande befanden. Zu diesem Zweck wurden Solowtarjow, Kriwonischtschenko und noch jemand, ich glaube Kolowatow, als "KGB-Maulwürfe" in die ansonsten ahnungslose Djatlov-Gruppe geschleust. Diese sollten den feindlichen Agenten die mit dem bestimmten Isotop kontaminierten Dinge, konkret Kleidungsstücke, also zwei Pullover und eine Hose, übergeben. Der Feind sollte durch den Fund dieses Isotops zu der Annahme verleitet werden, dass die SU weiter an U-Booten aus Stahl baue, während tatsächlich ein Umstieg auf Titan geplant war. Das Treffen mit den Agenten und die"kontrollierte Übergabe" sollte auf dem Cholat Sjachl stattfinden. Dabei müssen Dinge schiefgelaufen sein, so dass die Feindagenten verdacht schöpften, bemerkten dass es sich um eine KGB-Operation handelte, wähnten, man habe sie in eine Falle gelockt usw. was dazu führte, dass sie die Gruppe eliminierten, wobei sie es so aussehen lassen wollten, als wäre eine Naturgewalt, bzw. eine nicht genau bestimmbare Ursache, verantwortlich, weshalb der Einsatz von Schuss- oder Stichwaffen unterblieben ist. Rakitin führt das ganze für den Laien wirklich sehr schlüssig und überzeugend auf, weiß für jedes Phänomen eine Erklärung und gewinnt insbesondere dadurch, dass er sich nicht auf den fraglichen Tag beschränk, sondern ausführlich in die militärisch-geheimdienstlichen Hintergründe und die Biographien der Schlüsselpersonen dringt, so dass dem Leser seine Hypothese geradezu "zwingend" als einzig wahrscheinliche Erklärung erscheint. Er führt z.B. aus, dass die radioaktiven Kleidungsstücke, die man bei den Toten gefunden hat, nur Beta-Strahlung aufwiesen, weshalb die Strahlung nicht natürlichen Ursprungs gewesen sein kann, da in der Natur immer eine Mischung aus Alpha-, Beta- und Gammastrahlung vorliege. Zwar sei die nach dem Fund festgestellte Strahlung nur schwach gewesen, da die kontaminierte Kleidung aber dem Wasser des Baches über Wochen ausgesetzt gewesen wäre (nach Rakitin waren also sämtliche strahlenden Kleidungsstücke bei den Toten in der Schlucht und dort im Wasser, wenn ich das richtig erinnere), könne man davon ausgehen, dass die Strahlung ursprünglich erheblich gewesen sein müsse usw. Natürlich sehe ich das nicht unkritisch. Mir ist klar, dass ein versierter Autor, noch dazu Russe mit Einblick in bestimmte historische und politische Hintergründe, aus dem, was zu dem Fall vorliegt, locker eine Geschichte konstrueiren kann, in der scheinbar alles zusammenpasst, ohne dass es wirklich so gewesen sein muss. Gerade dass er zu allem eine Erklärung hat und alles seinen Sinn und Zweck im Rahmen der Story ergibt, wirkt irgendwie romanhaft. Die Realität zeichnet sich ja dadurch aus, dass sich die Dinge oft nicht so doll reimen...;-)
Ansonsten habe ich Rakitin hier nur grob zusammengefast wiedergegeben, was nicht heißt, dass ich zu 100% seiner Meinung bin. Wer trotzdem meint, er müsste jetzt irgendwelchen Blödsinn von wegen Nazi-Flugscheiben drabhängen, der soll das halt tun, wenn er das braucht und wenn ihm das hilft. :-D