@shionoro shionoro schrieb:Im endeffekt würde sich gar nichts ändern, wir würden weiterhin so leben wie vorher, wir würden lediglich einen gedankenschritt versuchen zu tätigen, den wir, praktisch anwendbar, nicht brauchen, der uns sogar stört und den wir nicht wirklich begreifen können.
Er nutzt uns nichts.
Ganz im Gegenteil, ich würde das gerne mal mit diesem kurzen Abschnitt aus einem Essay von Dr. Michael Schmidt-Salomon erläutern:
"Die herrschende Ideologie unterstellt, dass die Menschen weitgehend frei entscheiden, was sie wollen, was sie konsumieren und produzieren wollen, wie sie ihren Alltag einteilen, ihr Leben gestalten. Das Problematische hieran ist, dass die Menschen sich selbst dafür verantwortlich machen, was sie in ihrem Leben erreicht bzw. nicht erreicht haben. Im Zeitalter der "Institutionalisierten Individualisierung" (s.o.) wird allgemein davon ausgegangen, dass jeder Mensch es in gewissem Rahmen "zu etwas bringen" kann, wenn er es wirklich will. Für den eigenen Willen wird das Individuum jedoch selbst verantwortlich gemacht.
Diese Perspektive hat -wie wir sehen werden- verheerende Folgen auf allen Ebenen des menschlichen Lebens, auf den wechselseitig sich bedingenden Ebenen Mikrokosmos, Mesokosmos und Makrokosmos.
a) der Mikrokosmos (Ebene des Individuums):
Wenn das, was ich erreicht habe, von mir und meinem freien Willen abhängt, so bin ICH voll verantwortlich, für das, was ich tue und getan habe. Wenn ich es zu etwas gebracht habe, dann deshalb, weil ICH es zu etwas bringe. Wenn ich versagt habe, so nur deshalb, weil ICH ein Versager bin. Da ich das gleiche Verantwortungs- und Leistungsprinzip auf die Anderen anwenden muss, bedeutet das, dass derjenige, der es zu mehr bringt als ich, nicht nur ein glücklicherer, sondern auch ein besserer M ensch ist, weil ER/SIE es zu mehr bringt, und derjenige, der es zu weniger bringt, ein (noch grösserer) Versager ist, weil ER/SIE es nicht schafft, das zu erreichen, was ICH kraft meines freien Willens bereits erreicht habe. Das auf der Annahme des freien Willens aufbauende Wettbewerbsprinzip führt, fällt mein Vergleich zu den Anderen für mich negativ aus, bei mir zu Minderwertigkeits-, Scham-, Schuld- und Peinlichkeitsgefühlen. Sieht meine Bilanz hingegen positiv aus, so bin ich erfüllt mit Stolz und mustere die Anderen arrogant und überheblich, denn schliesslich hätten sie es ja auch zu mehr bringen können, wenn sie nur gewollt hätten.
Sowohl die hier angedeutete negative (schuldbeladene) als auch die positive (stolzgeschwängerte) Bilanzierung eigener Leistungen hemmt die anzustrebende Veränderung des Individuums hin zu grösserer Humanität, denn das Individuum bleibt Ich-fixiert, gefangen in selbstwertdienlichen Wahrnehmungsverzerrungen in Bezug auf die Umwelt und die eigene Person. Es versucht, sich selbst über die eigenen Schwächen hinwegzutäuschen, retuschiert die eigene Biographie, um misslichen Min derwertigkeitsgefühlen zu entgehen. Misslingt dieser Versuch, versinkt das Individuum in Ohnmachtsgefühle und Selbstmitleid. Zu kritischer Selbst- und Fremdanalyse ist das Individuum unter dieser Voraussetzung kaum fähig. Die durch die Idee des freien Willens erzwungene subjektive Verantwortung für die eigene Vergangenheit führt also dazu, dass das Individuum sich in Gegenwart und Zukunft kaum objektiv (Definition s.o.) verantwortlicher verhalten wird.
b) der Mesokosmos (Face-to-face -Beziehungen)
Die mikrokosmischen Turbulenzen bringen auch den Mesokosmos in Unruhe. Unter der Voraussetzung der Annahme des freien Willens wird der Mitmensch zur ständigen Bedrohung, denn er könnte ja aufdecken, wo die eigenen Schwächen liegen. Schwächen, zu denen das Individuum nicht stehen kann, weil es sich angeblich frei -also ungezwungen- zu ihnen entschlossen hat und sie daher peinlicherweise selbst voll verantworten muss. Kritische Argumente der Mitmenschen sind daher eine grosse Gefahr, ei ne unmittelbare Existenzbedrohung. Es gilt höchste Alarmbereitschaft. Kommando: Augen und Ohren zu und durch! Hoffnung besteht allein darin, dass der Andere auch irgendwo schwache Stellen haben muss. So ist die Diskussion, die die Diskutierenden eigentlich weiter bringen sollte, häufig nichts weiter, als ein Bombardement von Argumenten, die nicht die verhandelte Sache auf den Punkt, sondern den Gegner an seiner schwächsten Stelle treffen sollen. Das Argument ist unter dieser Voraussetzung k ein Geschenk, das ich dem Anderen unterbreite, das ihm wie ein gutes Buch die Möglichkeit bietet, sein Denken zu entprovinzialisieren, es ist eine Waffe, die erbarmungslos eingesetzt wird, um unliebsame Kritik abzuwehren. Das Gespräch wird also nicht bestimmt durch die Suche nach intersubjektiven Wahrheiten, sondern durch Taktik, es ist ein strategisches Spiel um Angriff und Verteidigung, indem man die Fehler des Anderen -wenn nötig- ohne Rücksicht auf Verluste ausnutzen muss, will man nicht selber untergehen.
Aber die Akzeptanz der Willensfreiheit führt nicht nur dazu, dass wir unfähig werden, durch gerechtfertigte Argumentation Diskurse zu führen. Sie verhindert auch, dass wir dem Anderen und uns selbst verzeihen können. Jede Schandtat wird dadurch noch um einiges schändlicher, wenn wir davon ausgehen, dass sich der Täter /die Täterin frei zu ihr entschieden hat. Wie könnten wir jemanden verzeihen, der sich frei dazu entschieden hat, uns zu betrügen, zu berauben, zu verletzen? Wie kann man einem Mörder / einer Mörderin verzeihen? Nur wenn wir die Idee der Willensfreiheit aufgeben, wenn wir einsehen, dass jeder Täter / jede Täterin auch Opfer ist, haben wir die Chance, zu verzeihen und damit aus der Gewaltspirale auszubrechen.
c) der Makrokosmos (Ebene der sozialen Strukturen, die über face-to- face- Kontakte hinausgehen)
Der Spätkapitalismus hat die gesamte Welt mit dem Leistungs- und Wettbewerbsprinzip terrorisiert. Die Idee des freien Willens hat damit nicht zufällig Hochkonjunktur. Sie rechtfertigt die Armut der Armen und den Reichtum der Reichen. Sie macht die Glücklichen glücklicher und die Unglücklichen unglücklicher. Sie zementiert die Gegensätze, denn sie gibt denen Zuversicht, die sie ohnehin haben und nimmt sie jenen, die sie ohnehin nicht besitzen.
Die durch die Idee des freien Willens verursachten Selbstwertkrisen haben verheerende makrokosmische Folgen: Individuen entgehen der Selbstwertproblematik z.B., indem sie durch übermässig gesteigerten Konsum ihr Leid verdrängen (und dadurch das derzeitige, ökologisch und sozial problematische Wirtschaftssystem stützen). Eine andere Möglichkeit, die insbesondere diejenigen nutzen, deren Konsumhunger bereits gestillt oder deren Zugang zu den Konsumgütern beschränkt is t, besteht darin, die eigene Isolation und Ohnmacht gruppennarzisstisch zu überwinden und die eigenen Defizite auf Nicht-Gruppenmitglieder zu projizieren. Dieses letzlich kriegstreiberische Phänomen, das so alt wie die Menschheit zu sein scheint, könnte nur dann aufgehoben werden, wenn es uns gelingt, einen anderen Zugang zu uns selbst und den Anderen zu finden, einen Zugang, der ein höheres Niveau an Selbstreflexion erlaubt. Der Abschied von der Idee des freien Willens ist hierzu unerl ässlich. "