Bei der Lektüre von Arthur Koestlers "Pfeil ins Blaue" stieß ich auf eine Passage, in der er die Fronarbeit der "unbedeutenderen unter den ausländischen Journalisten" in Paris schildert, "die man 'Neger' nennt". Das erinnerte mich an eine Stelle in den "Heimlichen Erinnerungen" meines Vaters, der etwa zur gleichen Zeit – Anfang der 1930er Jahre – Arbeit in einem Pariser Architekturbüro suchte. Als er bei Charles Siclis angestellt wurde, rief der große Mann in sein Zeichenbüro: "J'ai ici un jeune nègre boche." Ich habe hier einen jungen deutschen Neger.
Sollte man heute bei der Übersetzung Rücksicht auf verständliche Empfindlichkeiten nehmen und Siclis sagen lassen, er habe einen jungen deutschen Schwarzen angestellt? Natürlich nicht. Denn die Tatsache, dass damals offensichtlich jede Art untergeordneter Tätigkeit von "Negern" ausgeführt wurde, sagt einiges aus über den alltäglichen Rassismus der damaligen Zeit.
Aber wie ist es mit folgendem Beispiel? In seiner großen Rede vom 28. August 1963 am Lincoln-Denkmal in Washington, in dem er von seinem Traum eines gerechteren Amerika sprach, verwendet Martin Luther King durchweg das Wort "negro" – nicht "black" oder gar "Afro-American". Ich habe in meinem neuen Buch über John F. Kennedy die Übersetzung verwendet, die damals vom US-Informationsdienst herausgegeben wurde, wo es etwa heißt: "Einhundert Jahre nach der Sklavenbefreiung ist der Neger noch immer nicht frei. Einhundert Jahre danach wird das Leben des Negers immer noch von den Handschellen der Rassentrennung und den Ketten der Diskriminierung bestimmt...."
Erst James Brown war stolz, ein Schwarzer zu sein
Man stolpert über dieses Wort. Und das soll man auch. Denn erst 1968 – im Jahr der Ermordung Martin Luther Kings – wird James Brown singen: "Say it loud – I'm black and I'm proud." Es ist ein Zeichen der Demut Kings, dass er das damals unter Weißen gesellschaftsfähige Wort "Neger" verwendet; und ein Zeichen des revolutionären Aufbegehrens, wenn James Brown verlangt, das bis dahin abfällig benutzte Wort "Schwarze" mit Stolz zu verwenden. Wegen seiner Demut und Geduld wurde King von den zornigen jungen Männern der "Black Pride"-Bewegung als "Onkel Tom" bezeichnet. Zensiert man seine Reden nachträglich, indem man das Wort "Neger" eliminiert, erschwert man das Verständnis für Kings Leistung und der Zeit, in der er kämpfte und litt.
Ich schreibe das unter anderem auch deshalb, weil ich kürzlich in der "Heute-Show" von Oliver Welke süffisant angegriffen wurde, nachdem ich bei Beckmann ein paar deutsche Touristen auf dem Petersplatz zitiert hatte, die sich "einen Neger als Papst" gewünscht hatten. Anscheinend darf man nicht einmal im Zitat das N-Wort benutzen. Dabei drückten die Touristen mit ihrem unfreiwillig komischen Wunsch etwas Wichtiges aus: Noch ist in manchen Ecken der deutschen Provinz der Umgang mit anders aussehenden Menschen ein wenig unbeholfen; und doch ist man auch dort so weit, sich einen Schwarzen als Oberhaupt der eigenen Kirche wünschen zu können. Der Widerspruch zwischen dem unglücklichen Ausdruck und dem fortschrittlichen Wunsch markiert den Fortschritt in der deutschen Kirche; eine sprachliche Beobachtung, die wohl für den öffentlich-rechtlichen Holzhammerhumor eines Herrn Welke zu hoch ist.
Kinder sind nicht so dumm, wie manche denken
Will sagen: Man muss auch aushalten können, dass die Leute früher nicht so herrlich aufgeklärt waren wie heute. Auch Kinder können das begreifen. Als Achtjähriger las ich Mark Twains "Huckleberry Finn", wo Huck meint, der entlaufene Sklave Jim sei zwar ein Nigger, aber doch der beste Mensch, den er kenne. Ich war kein besonders helles Kind, aber dass Huck mit der Benutzung des Worts Nigger nicht Jim herabsetzte, sondern seine eigenen Vorurteile in Frage stellte, das verstand sogar ich. Die nachträgliche Säuberung der Kinderliteratur hat nicht nur etwas von Big Brother, sie verrät auch eine bedenkliche Unterschätzung der Kinder und ihrer Fähigkeit, die Welt und die Literatur zu verstehen und zu beurteilen.
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http://www.welt.de/kultur/article113932215/Manchmal-muss-man-Neger-sagen.htmlEin grossartiger Artikel, genau auf den Punkt, ich bitte sich das mal ernsthaft durchzulesen! Grade die Betroffenheitsfraktion, bitte.