borabora schrieb: Wenn man so eine Durststrecke hinter sich hat, neigt man dann nicht dazu, mehr zu kaufen, als man braucht? Ich meine, dann über seine Verhältnisse zu leben.
Nee, bei mir ist es eher noch so, dass ich noch so ein "poor mindset" habe. Ich kann unheimlich schlecht für mich selbst Geld ausgeben, obwohl ich rational weiß, dass es Blödsinn ist. Glücklicherweise betrifft das meine Kinder nicht (was dazu führt, dass diese oft einen besseren Lebensstandard haben, v.a. wenn es um technische Ausstattung geht) als ich, da kann ich sehr großzügig sein, einfach auch, weil ich ihnen ersparen will, was ich ein Jahrzehnt erlebt habe. Ich zwinge mich manchmal dazu Geld für mich auszugeben, weil ich dazu neige, in ewigen Kompromissen zu leben, weil es ein Jahrzehnt nicht anders ging. Das ist vermutlich das, was auch vielen aus der Kriegsgeneration passiert ist (wobei ich mich natürlich in keiner Weise mit diesen Menschen und was sie erlebt haben, gleichstellen will).
Nach dem Studium, als ich endlich verdient habe, hatten wir -trotz Gehalt- am Anfang kein übriges Geld zum Ausgeben. Wir hatten praktisch immer Löcher mit Löchern gestopft und es gab sehr viele sinnvolle Ausgaben und Baustellen. Ich hatte z.B. große Teile des Studiums mit einer bzw. zwei Jeans absolviert, von denen eine sehr ausgebeult war, so habe ich vor Arbeitsbeginn 500€ in Arbeitskleidung investiert (Blusen, Stoffhosen, teure Schuhe), damit ich adäquat angezogen war. Ich brauchte auch einen Computer. Dann habe ich mein (mal wieder geklautes) Fahrrad ersetzt. Dann haben wir einige steinalte und unzuverlässige Küchengeräte ersetzt, Mr. Mary brauchte ein paar Schuhe, .... dann haben wir finanzielle Rücklagen gebildet - weil es einfach ein geiles Gefühl war, dass die Zeit des "hoffentlich passiert nichts Schlimmes, ich kann es mir nicht leisten" endlich vorbei war. Das waren so die ersten sechs Monate. Von meinem ersten Gehalt haben wir ca. drei Monate gelebt, weil ich es gar nicht fassen konnte, dass das Geld nun mir gehört und es mir niemand wegnimmt. Ich weiß, das klingt wirklich völlig durchgeknallt, aber wenn 10 Jahre lang Geld ein riesiger Stressfaktor ist, bekommt man ein sehr seltsames Verhältnis zu Geld - vermutlich gibt es die, die dann alles ausgeben und die, die sich weiterhin nicht trauen - ich gehörte zur zweiten Gruppe. In den ersten sechs Monaten haben wir uns einmal Pizza kommen lassen - war witzig, aber wir waren schockiert, dass wir mit einer Mahlzeit ein Wochenbudget in besonders knappen Wochen rausgehauen hatten.
Unser erster echter "Luxuskauf" bzw. unsere erste Luxusausgabe war ein Flug mit Ryanair nach Stockholm. Wir wollten eigentlich gar nicht so unbedingt nach Schweden, es war aber eine günstige Option und es fühlte sich so cool an, in einer fremden Stadt zu sein, Kultur aufsaugen zu können, ohne sich Gedanken ums Ausgeben zu machen (residiert haben wir in der Jugendherberge und dort auch selbst gekocht, damit die Ausgaben gedeckelt waren). Wir waren ganz viel in Museen unterwegs und in der Stadt und ich konnte es gar nicht so wirklich fassen, dass wir wirklich da waren. Schon die Tatsache, dass ich vier oder fünf Tage Zeit hatte, nicht zu irgendwelchen schlecht bezahlten Nebenjobs musste - das ist ja auch was, wenn du so auf Kante lebst, wenn du schon Samstagabends gemütlich auf der Couch liegst und in dem Hotel, indem du jobbst, viel los ist und die anrufen und fragen ob du kurz kommst, kannst du nicht "nein" sagen - das ist ja deine Lifeline. Du bist praktisch immer auf Abruf, was zusätzlich noch Stress bedeutet.
Richtig arm zu sein heißt ja auch, dass du nicht aus deinem eigenen Kiez rauskommst. Mir wurden im Studium unzählige Fahrräder geklaut, was meine Mobilität immer über Monate massiv einschränkte (und das kostet natürlich irre Zeit, wenn du 4km von der Uni wegwohnst und nicht mehr in ein paar Minuten hinradeln kannst, sondern laufen musst). Während des Semesters pendelte ich eigentlich immer nur zwischen dem Hotel, in dem ich arbeitete, meiner Studibude und meiner Uni. Wie gesagt, Distanz Uni - Studibude waren 4km einfach, Uni - Hotel nochmal 3km, so kam ich an den meisten Tagen schon auf 14km und hatte weder Zeit, noch Energie, noch irgendwelche "Spaßausflüge" zu machen. Wenn ich mal einen Tag frei hatte, dann nutzte ich den zu lernen ... Ich war glaube ich ziemlich Angst getrieben, ich hatte immer Panik, dass das mit dem Studium nicht klappt und dass ich mein Leben lang in dieser prekären Finanzlage sein würde.
Drei Sommer lang habe ich in einem Hotel in Schottland gearbeitet, in Küstennähe. Da hatte ich allerdings diese berühmten split shifts, wenn ich im Restaurant eingeteilt war und war den gesamten Tag beschäftigt, so habe ich es meistens nur kurz ans Meer geschafft und fand das schon eine irre Erfahrung, worüber ich immer belächelt wurde, weil meine Kollegen meinten, es gäbe viel coolere Strände und Orte dort. Aber alleine schon das "woanders" sein, war wirklich gut. Damals gab es noch keine Billigflieger, daher bin ich immer mit dem Bus nach Schottland gefahren (Eurolines) und fand das schon toll - einfach was anders sehen, und wenn es die tröge belgische Autobahn war. Ich war auch echt nach Erlebnissen ausgehungert. Auf dem Hin- und Rückweg bin ich oft eine Nacht in London geblieben und hatte davor schon einen mitutiösen Plan gemacht, was ich wie anschauen konnte ... Für einen längeren Aufenthalt hatte ich wieder kein Geld ...