Ich muss gestehen, dass ich auch schon kurz Angst hatte, ich kriege jetzt vielleicht Post, dass ich mich lieber nicht so genau mit der Sache beschäftigen soll. Aber ich kann angesichts dieser verzwickten Story gar nicht mehr aufhören, weiterzudenken. Heute morgen dachte ich schon, bei mir wäre der "finale Groschen gefallen" und ich hätte den ultimativen Plot aufgedeckt, aber mittlerweile glaube ich, ich bin einfach nur total übermüdet.
Leider konnte nämlich mein Gehirn nicht abschalten. Es ratterte und ratterte. Ich fühlte mich, als hätte mich jemand auf eine Schnitzeljagd durchs Internet geschickt. Was will der guiltyascharged-Blog? Ist er pro oder contra JS? Neulich wurde deutlich auf das Buch „Mortal Thoughts“ hingewiesen. Wäre der Blogeintrag nicht gewesen, dann hätte ich das Buch gar nicht gelesen (siehe JS-Wiki, Link oben). Ich hatte plötzlich das Gefühl, hier winkt jemand mit einem sehr, sehr großen Zaunpfahl. Aber mein Gehirn hatte jetzt schon um viel zu viele Ecken gedacht. Ich wusste gar nicht mehr: Kommt da noch eine Ecke oder bin ich am Ende der Schnitzeljagd angelangt oder schieße ich geradewegs übers Ziel hinaus?
Ich sah in seinem Buch (bzw. generell) zwei Ebenen:
1. Was angeblich geschah (= JS Geständnis, er tat es alleine, Widerruf, er ist unschuldig, sie war es allein => alles Bullshit)
2. Versteckte Anspielungen, was wirklich geschah (= sie taten es gemeinsam) und was ihre Motive dafür waren
Es waren für mich zwei ganz große Fragen offen:
- WIE taten sie es?
- Warum gestand ER die Tat und nahm die Schuld auf sich?
JS winkte mit dem Zaunpfahl: Die Lösung liegt bei Macbeth und "A tale of two cities".
Man musste blind sein (oder ein "Yokel"), wenn man in Macbeth nicht die offensichtlichen Parallelen sieht:
- Vorverlegung des Alibis
- Zurücklegen der Messer an den Tatort
- Anstiftung durch Lady Macbeth
- teuflische Symbole
- ...
Das beantwortete so halbwegs den ersten Teil der Frage. Staatsanwalt James Updike hatte möglicherweise die "Shakespeareschen" Anspielungen gar nicht gesehen, sondern sich einfach nur von der offensichtlichen Tatsache, dass Lady Macbeth die Anstifterin und Macbeth der Mörder ist, leiten lassen, siehe Englade:
“Your Shakespeare is certainly much better than mine,” said Updike, whose undergraduate degree was in English literature, “but it seems to me, if I recall, that Lady Macbeth encouraged old Macbeth to commit murder, didn’t she?” The replies came like gunshots.
“Yes, she did,” agreed Elizabeth.
“Persuaded him—”
“Yes.”
“Encouraged him—”
“Yes.”
“And that’s how you saw yourself,” Updike said, making his point, “with reference to Jens Soering.”
(Quelle: Ken Englade, Beyond Reason, Kapitel 47)
JS beschrieb selber, dass beide sehr viel lasen und evtl. in Büchern nach Inspirationen für einen perfekten (theoretischen? tatsächlichen?) Mord-Plan suchten. Laut „Mortal Thoughts" schrieb JS Mitte März ein Theaterstück über einen Mord mit einem exotischen Gift:
„Separating from Liz, even if only for the nine days of spring break in March, seemed too painful to contemplate. But we had no choice: I had to catch up on all the schoolwork I had neglected, and she had commitments with her family. As soon as Elizabeth left I threw myself into work, convinced that this was the only cure for the agony of being without my love. My main project was to complete two thirds of a film script for my creative writing course. (…) Now I just needed to supply a corpse for my script's hero, a detective who used the philosophy of Zen to solve crimes. Dozens of devilishly ingenious plans for the perfect murder landed in my trash can before I finally settled on a slow poison made from the skin of a tropical fish or frog found in the far east. Of course my Zen detective missed none of the tiny important clues which cleared him and pointed to the real murderer. This was a movie, after all, not reality!“
(Quelle: „Mortal Thoughts“, Kapitel 3, S. 55+56,
http://web.archive.org/web/20100126235232/http://lucy.ukc.ac.uk:80/Soering/chapter03.html#55)
MOOOMENT! Gerade, bevor ich dieses Posting final abschicken will, sehe ich die (jetzt von mir fettmarkierten) Sätze. Ist das eine versteckte Anspielung? Sagt er hier indirekt, dass in etwas, was er schreibt, kleine Hinweise auf den Mörder enthalten sein werden? Winkt er hier mit dem Holzpfahl oder sehe ich schon Gespenster?
Auf jeden Fall hatte er offensichtlich tausend Ideen. EH wusste immerhin, dass sie einen Mittäter brauchte. Und sie wusste, dass ihr Plan genial sein musste, damit sie damit durchkommt. Warum also nicht mit einem superschlauen Typ einen Plan aushecken? Möglicherweise wusste JS nicht, dass sie es dann später tatsächlich in die Tat umsetzen wollte. (Im Weihnachtsbrief sieht man, dass JS ein Meister der Gedankenspiele und unendlich umständlichen Gedankengänge ist.)
Vielleicht dachten sie aber auch, dass sie zusammen superschlau hoch 2 sind ... und sind dann am Tachostand gescheitert.
Man sieht ja, dass er, während er Briefe schrieb, nebenbei verschiedene Bücher las und dann „Gedankenblitze“ einwebte. An einer anderen Stelle fragt er sich zum Beispiel beim Lesen des Buches "Humboldt's Gift", ob „Gift“ im Yiddischen „Poison“ bedeutet, so wie es im Deutschen ist:
„Below is jewish -- I wonder whether Gift means poison in Yiddish as it does in German? I wonder whether this is important (implied no)? Odd choice of words, anyway. In the book it's always referred to as "the legacy", never the gift.”
(Quelle: Weihnachtsbrief, S. 17,
https://soeringguiltyascharged.files.wordpress.com/2019/06/jens-soering-letter-dec-jan-1984-85-complete.pdf)
Wäre beim Mord Gift verwendet worden, hätte man sich vermutlich gefragt, ob das hier eine versteckte Anspielung ist.
Okay, genug dazu.
Ich habe gestern Nacht beschlossen, in „A tale of two cities“ reinzuschauen. (Ein Code funktioniert nicht, wenn das Gegenüber ihn nicht versteht.)
Ich hatte bis jetzt noch nie von diesem Buch gehört. Die Zusammenfassung bei Wikipedia klang verworren und kompliziert.
JS erzählte immer wieder von „Sidney Carton“, der am Ende sein Leben opfert. Der Artikel über "Sydney Carton" auf Wikipedia ist kurz und nur auf Englisch.
Sydney Carton, Sydney Carton … also was ist mit dem?
Also fing ich an, „A tale of two cities“ (auf deutsch) zu lesen. Der Text ist bei gutenberg.org zu finden, sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch.
Das Buch besteht aus 3 Teilen und war damals (1859) eine (laaange) Fortsetzungsgeschichte in Zeitschriften. In England kennt die Geschichte jeder (also auch EH, die in englischen Internaten aufwuchs), laut Wikipedia ist das eine der berühmtesten Geschichten der Weltliteratur. JS könnte annehmen, dass andere Menschen dieses Buch ebenfalls kennen. (Nur ging das mal wieder daneben, ich kannte das Buch nicht und verstand daher die Anspielungen nicht und tue es auch wahrscheinlich immer noch nicht.)
Die Story ist lang. Ich sah zwar immer wieder Parallelen („A tale oft wo cities“ spielt teilweise in London, wo sie verhaftet wurden; die Hauptperson heißt Lucie, Lucy war auch der Deckname von EH, als sie geschnappt wurden), aber vielleicht wurde ich schon langsam verrückt?
Irgendwann fing ich an, den Text nur noch zu überfliegen. Irgendwann musste doch dieser Sydney Carton auftauchen?
Schließlich kam er in Kapitel 13: Sydney Carton gesteht Lucy seine Liebe. Sydney Carton kann kein besseres Leben mehr führen, er wird nie mehr besser sein als er ist, er fühlt sich "wie Einer der schon gestorben ist", sein Leben ist vorbei.
Das hier klang doch ähnlich wie ihre Tat (wenn man mal davon ausgeht, dass JS Gewissensbisse hatte. Vielleicht hat EH das Sujet aufgenommen (sie muss das Buch gekannt haben) und ihm solche Passagen vorgelesen? (Ich glaube, hier geht gerade meine Fantasie mit mir durch, wie sie abends im Bett liegen und sie ihm solche Stellen vorliest und ihm einredet, er sei wie Sydney Carton):
"Sie sollen wissen, daß Sie der letzte Traum meiner Seele gewesen sind. In meiner Gesunkenheit bin ich nicht so gesunken, daß der Anblick von Ihnen und Ihrem Vater und dieses Heimwesens und wie Sie es zu dem gemacht haben, was es ist, nicht in mir alte Schatten geweckt hätte, die ich längst für gestorben hielt. Seit ich Sie gekannt habe, hat mich eine Reue gequält, die ich für immer verlernt zu haben glaubte und habe ich alte Stimmen mir zurufen hören, mich zu erheben, von denen ich längst meinte, sie wären verstummt. Es kamen mir halbfertige Gedanken vom Frischen zu streben, neu anzufangen, Trägheit und Sinnlichkeit abzuschütteln, und mich wieder in den aufgegebenen Kampf zu stürzen. Träume, nichts als Träume, die in Nichts enden, aber ich hege den Wunsch, Sie wüßten, daß Sie dieselben in mir veranlaßt hätten.“"
.
(Quelle:
https://www.gutenberg.org/files/58145/58145-h/58145-h.htm#Zweites_Buch_Dreizehntes_Kapitel (Archiv-Version vom 26.10.2018))
Könnte es das sein? JS wollte sich opfern, weil sein Leben sowieso vorbei war? Er könnte seinem Leben, in dem andere immer nur "Potential", aber keine wirkliche Schaffenskraft sahen (siehe Weihnachtsbrief), endlich einen Sinn geben. Er könnte seinem Leben einem Sinn geben, indem er sich für die Frau, die er liebt, opfert. (Vielleicht könnte das ein verwirrter 19-jähriger wirklich glauben??)
Ich las weiter: Sydney Carton konnte nur deswegen mit einem anderen den Platz und die Kleidung tauschen (= Gefängnis auf dem Weg zur Guillotine), weil sie sich sehr ähnlich sahen. Und die Fußabdrücke von EH und JS sahen sich sehr ähnlich! Letztendlich wurden sie ihm zugeordnet (und ich glaube, sie stammen auch tatsächlich von ihm).
Ich las weiter und weiter. Bis ich am Ende ankam und den Satz sah. Er stand direkt neben dem anderen ("A far, far better thing", das ist der Titel eines JS-Buchs). War das eine Botschaft? Ich habe den ganzen heutigen Tag darüber nachgedacht. Ich weiß es nicht:
„Ich sehe das Kind, das an ihrer Brust lag und meinen Namen trug, zum Manne werden, und sich glücklich auf der Lebenslaufbahn vorwärts arbeiten, die einst die meinige war. (…) „Was ich thue ist etwas viel, viel Besseres, als ich jemals gethan; die Ruhe zu der ich eingehe ist viel seliger, als ich sie jemals gekannt habe.“
(Quelle: Eine Geschichte von zwei Städten, Vierter Teil, Kapitel 15, ganz am Ende:
https://www.gutenberg.org/files/58145/58145-h/58145-h.htm#Vierter_Teil_Fuenfzehntes_Kapitel)
Englisch:
„I see that child who lay upon her bosom and who bore my name, a man winning his way up in that path of life which once was mine. (…) It is a far, far better thing that I do, than I have ever done; it is a far, far better rest that I go to than I have ever known."
(Quelle:
https://www.gutenberg.org/files/98/98-h/98-h.htm#link2H_4_0048)
Ich weiß, es klingt verrückt, aber könnte das ein Hinweis sein? Könnte eine Schwangerschaft ein mögliches Motiv für das Geständnis sein? Ken Englade schreibt in „Beyond Reason“ (und da hatte ich mich schon gewundert, warum er das überhaupt erwähnt), dass JS im Februar große Panik schob, das EH evtl. schwanger sei:
„Wright noted that there were only a couple of entries left in the journal and they had not yet described how they developed the idea to defraud Marks & Spencer. Unhappily, the document that started so interestingly ended on a whine. On February 18, Jens wrote that he was worried that Elizabeth was pregnant. On February 21 he seemed close to panic. Then, on February 23, he wrote with obvious relief that it had all been a false alarm.“
(Quelle: Ken Englade, Beyond Reason, Kapitel 22).
Eine Schwangerschaft auf der Flucht wäre eine Katastrophe gewesen. Würde sich ein Mann dann nicht doch vielleicht „opfern“ für seine Frau, so wie Sydney Carton es für seinen Freund sowie dessen Frau und KIND tut?
Ich weiß nicht, wie man im Jahr 1986 eine Schwangerschaft hätte feststellen können. Laut Wikipedia wurde der erste Heim-Schwangerschaftstest von Clearblue 1985 auf den Markt gebracht, siehe Wikipedia: Clearblue_(Marke)
Bestimmt schieße ich gerade kilometerweit über das Ziel hinaus, aber für mich wäre das ein starkes Motiv, die Tat auf sich zu nehmen. Es würde vielleicht auch erklären, warum die Ermittler die Tonbänder ausschalteten?
Mal angenommen, die beiden hatten nach dem 23. Februar weiterhin Sex, dann hätte sie am 30.4. bei ihrer Verhaftung schwanger sein können. Evtl. könnte man den Satz im Liebesbrief vom 28.5.1986
„My dearest Jens, Have you forgiven me yet? I've grown up lots!“
(Quelle:
https://killingforlove.com/love-letters/ (Archiv-Version vom 26.11.2019))
als geheime Botschaft verstehen? Am 8.6. legte er sein erstes Geständnis ab.
Aber nein, das kommt jetzt selbst mir zu abgefahren vor.
Vielleicht dachte JS einfach doch "nur", er müsste sich opfern wie Sydney Carton es tat. Ohne tieferen Sinn dahinter.