Deine Weisheiten und weise Geschichten zum Nachdenken
21.10.2023 um 16:16Kater und Vater
Auf den ersten Blick erinnerte Georg mich an Lennie aus John Steinbecks "Von Menschen und Mäusen". Als Gott, Mutter Natur oder wer auch immer diesen mächtigen Körper konstruierte, blieb einfach nicht genug Material für das Gehirn übrig.
Georg hatte kein Zuhause. Er hatte ein Heim. Zeitlebens. Von der Geburt bis zum Tod gefangen in Betreuung. Seine Mutter schob ihn nach der Geburt ab. Glück hat er gehabt. Glück im Unglück. Wer um 1950 in einem Kinderheim aufwuchs, erst recht, wenn er als "zurückgeblieben" galt, bekam, anders als ein paar Jahre vorher, wenigstens etwas zu essen.
Das Personal hatte zwar sein Parteibuch abgegeben, nicht aber die Ideologie. Lernen brauchst Du nichts, aber arbeiten musst Du. Sonst gibt's was!
Georg kann nicht lesen und nicht schreiben. Aber arbeiten. Jetzt allerdings nicht einmal mehr das. Kaputt an Geist und Körper. Ein Händedruck irritiert doppelt. Der rechten Hand fehlen Ringfinger und kleiner Finger - aber mit dem Rest kann er Dir noch locker die Hand zerquetschen.
Dabei würde Georg so gern streicheln. Am liebsten kleine Tiere. Aber die halten es einfach nicht aus und sterben. Nach zahllosen zu Tode geliebten Nagern durfte sich Georg in seiner Einrichtung einen Kanarienvogel halten. Hansi!
Georgs Betreuer erzählte mir die ganze Geschichte: Georg wollte Hansi im tiefsten Winter die Gelegenheit bieten, am Futterhaus im Hof die Bekanntschaft mit anderen Vögeln zu machen. Er öffnete Käfig und Fenster und Hansi flog. Flog und kam nie wieder. Eine Woche lang hat Georg am offenen Fenster ausgeharrt und gerufen. Im Winter. Hansi kam nicht. Da hat Georg eine Woche lang geweint.
In der Zeit beschafften die genervten Betreuer Hansi II. Annähernd ähnlich. Aber er sang anders. Das hat Georg gemerkt. Da haben sie ihm erzählt, dass er das wohl bei den anderen Vögeln im Futterhaus gelernt hätte. Georg kann man sowas ja erzählen. Der ist ja doof.
Ist er nicht. Hat sich nämlich gemerkt, dass das Fenster zu sein muss, wenn der Käfig auf ist. Und die Zimmertür muss auch zu. Darf keiner rein. Hat Georg mir gesagt. Dann sitzt Hansi auf Georgs Kopf und zieht an dessen spärlichen fettigen Haaren. Das findet Georg lustig. Aber Hansi darf er nicht anfassen. "Geht sonst kaputt", sagt Georg.
"Hast Du auch ein Tier?" will Georg von mir wissen.
"Ja, mehrere. Katzen! Meistens kümmert sich meine Tochter um sie." antworte ich.
Georg denkt lange nach.
"Katzen? Stimmt das, dass die was sagen, wenn man sie anfasst?"
"Na ja, sagen tun sie eigentlich nichts. Aber die schnurren, wenn man sie streichelt."
"Schnurren?" Georg guckt ungläubig. "Wie geht das?"
"Das klingt ungefähr so: Murr! Murr! Murr!" Ich schaue Georg unbeholfen an. Beobachter würden sich jetzt fragen, wer von uns beiden der arme Irre ist.
"Oh, das würde ich gern mal hören. Kann ich 'ne Katze?"
"Georg, die verträgt sich nicht mit Hansi. Die frisst den. Das gibt auch nur Stress in Deiner Wohngruppe."
"Die frisst Kanarienvögel?"
"Ja, Katzen fressen Vögel."
"Auch Hansi?"
"Wenn sie ihn kriegen - ja!"
Ende des Gesprächs.
Georg wirkt verängstigt. Ich muss trotzdem gehen.
Nächster Tag.
"Du, Anders? Kann ich 'n Bild von Deiner Katze?"
"Klar, Georg, kriegst Du."
Zu Hause drucke ich vom Rechner meiner Tochter ein Dutzend Katzenbilder aus. Die hat genug davon. Ich überreiche sie anderntags Georg.
"Soooo viele Katzen. Soooo schön sind die! Und die schnurren alle? Die machen alle Murr, Murr, Murr?"
Georg kann es nicht fassen, dass ich ihm die Bilder schenke.
Nach einigen Tagen ist Georg wieder bei mir und erzählt stolz, dass er die Bilder alle über sein Bett gehängt hat. Sein Betreuer fragt mich, ob ich ihm die Bilder geschenkt hätte und was der Quatsch solle. "Nö, das war nicht ich, das war Catwoman!". Manche Betreuer hiessen treffender Bevormunder und verdienen einfach keine bessere Antwort.
Georg fragt mich jeden Tag, an dem wir uns sehen "Kann ich 'ne Katze?"
Ich überlege. Ich lasse mir von einer Kollegin sein Geburtsdatum geben. Ich will Georg überraschen. Noch vierzehn Tage. Zeit für einen Familienrat.
"Caitlin, ich brauche eine Katze. Leihweise." Ich erzähle von Georg. "Stabil muss sie sein. Und Auto fahren können." Catwoman überlegt.
"Die dicke Bertha? Die ist stabil."
"Aber die pinkelt vor Angst."
Geht also nicht.
"Moro!"
Moro ist ein schwarzer Kater. Ohne Schwanz. Der musste nach einem Autounfall ab. Trotzdem fährt Moro gern Auto. Moro geht an der Leine. Und Moro hat jeden lieb und kann vor allem sehr laut schnurren.
"Aber wie schmuggle ich den rein? Ilsa kriegt 'nen Knall, wenn ich da ein Tier mit reinbringe."
Ilsa ist meine Vorgesetzte. Sie heisst nicht so. Ich nenne sie so nach der Titelfigur eines US-amerikanischen B-Movies "Ilsa - The She-Wolf of the SS" über sadistische KZ-Aufseherinnen. Wer die nicht kennt, kennt vielleicht Sister Ratched aus "Einer flog über das Kuckucksnest". Das könnte sie sein. Ilsa ist der Hausdrachen. Und meine Chefin.
Jetzt ist Eileen am Zuge. Jahrelange konspirative Erfahrungen in einem nordirischen Schützenverein mit drei Buchstaben. Die kriminelle Energie ist geblieben.
"Du lässt Moro im Auto und lockst Georg dorthin?"
"Ja, toll! Auf den Mitarbeiterparkplatz. No-Go-Area für Patienten, seit da mal einer von ihnen fast alle Autoreifen zerstochen hat."
"Ach, Darling, Du schaffst das schon."
Moro und ich probieren es an Georgs Geburtstag.
"Georg, komm' mal mit, da will Dich einer kennen lernen."
Hibbelig folgt mir Georg durch den Personaleingang auf den Parkplatz. Ich schiebe den Beifahrersitz ganz nach hinten, damit Georg reinpasst.
"Mach' mal die Augen zu!"
Dann öffne ich den Transportkorb. Moro kommt heraus und setzt sich sofort auf den Schoss von Georg.
"Augen auf!"
Georg streichelt Moro ganz, ganz vorsichtig. Moro schnurrt. Georg strahlt.
"Katze. Schön!"
Moro schnurrt und Georg ist ganz hin und weg. Zwei glückliche Lebewesen.
Da klopft es vehement an die Scheibe. Da pöbelt es von draussen. Ilsa Ratched!
Brüllt: "Was macht Ihr da? Was soll das?"
Ich fahre die Seitenscheibe ein Stück herunter und lächle in ihr wutrotes Gesicht: "Geburtstagsparty!"
Ilsa Ratched tobt: "Das ist nicht abgestimmt! Das ist verboten!! Der darf das nicht!!! Der darf hier nicht sein!!!!"
Geifer trieft von der Scheibe.
"Ich gehe sofort zum Chef! Das gibt 'ne Abmahnung!!" keift sie weiter.
"Sie wollen zu Dr. Fu Man Chu?" Der heisst natürlich nicht so, stammt aber aus einer Weltgegend, wo die Leute so heissen könnten.
"Da komme ich doch gern mit und erzähle ihm, was Du letzten Freitag Mittag vor meiner Kollegin Frauke und mir über ihn geäussert hast. Stinkendes Schlitzauge - war doch richtig, oder? Auch wenn Dr. Fu Man Chu ein penetrantes Aftershave benutzt, wird er sicher über eine Beleidigungsklage nachdenken. Nachdenken solltest also auch Du, geschätzte Ilsa."
"Also..." der Rest des Satzes geht in Feuerspeien und Rauchwolken unter. Abgang des Hausdrachens mit Theaterdonner.
Georg und Moro lassen sich nicht stören. Moro kommt nach einer Weile zurück in die Box, Georg nach einer Weile zurück in den Knast.
Tage später. Georg übergibt mir eine Dose Katzenfutter und ein selbst gemaltes Bild. Bleistiftzeichnung. Eine Katze? Ein schwarzer Kater? Oder doch eine Kuh?
Auf der Katze ist ein weisser Fleck freigeblieben. Erst beim zweiten Blick erkenne ich: Das ist kein Fleck, das ist eine Hand. Mit drei Fingern.
Oben steht in ungelenken Buchstaben: MORO. Unter dem Tier steht: FUR KATRIN.
Georg sagt: "Das Futter ist für Moro. Das Bild ist für Deine Tochter. Angelika hat mir gezeigt, wie man das schreibt."
Ich danke und verspreche, die Geschenke weiter zu geben.
"Sag' Deiner Tochter, sie ist ein glückliches Kind. Sie hat einen Kater. Und einen Vater. Und ein Zuhause. Sie hat es gut."
Zu Hause gebe ich Caitlin das Bild: "Von Georg."
Caitlin murrt in ihrer typisch pubertären Art: "Ich heiss' nicht Katrin. Ist der denn blöde?"
"Ich soll Dir übrigens noch etwas von ihm ausrichten, Cait: Du bist ein glückliches Kind. Du hast einen Kater. Und einen Vater. Und ein Zuhause. Du hast es gut. Georg muss das wissen. Er hat es nie gut gehabt. Er hatte kein Zuhause. Nur Arbeit und Schläge. Keine Liebe."
Caitlin wird ganz still. Nachdenklich hängt sie Georgs Zeichnung über ihren Schreibtisch.
Vor Weihnachten machen wir das noch mal. Moro und ich. Und Georg. Und wenn der Drache noch so tobt. Dem Heiligen Georg kann kein Drache der Welt etwas anhaben. Mir erst recht nicht. Und Moro? Der liesse sich auch von ihm streicheln und würde ihn totschnurren.
Nachwort: Die Geschichte ist schon etwas älter. Wir haben es in der Tat noch einmal zu Weihnachten wiederholt. Diesmal in Georgs Zimmer. Im Jahr darauf ist Georg plötzlich verstorben. Auch der alte Moro weilt nicht mehr unter den Lebenden. Manchmal stelle ich mir vor, wie die beiden auf einer Wolke in einer fernen Galaxie hocken: Moro auf Georgs Schoss, gestreichelt - und beide schnurren um die Wette.