Der Fall Sonja Engelbrecht
24.05.2013 um 23:50
25.07.2000
Süddeutsche Zeitung
Warten auf die Rückkehr der verlorenen Tochter
Vor fünf Jahren ist Sonja Engelbrecht auf mysteriöse Weise verschwunden – und noch immer hoffen ihre Eltern, sie lebend wieder zu sehen
Von Eva-Maria Graw
und Sylvie Menning
Seit dem 10. April hat Harry Engelbrecht nicht mehr aufgehört, Briefe zu schreiben. Dicke, dunkelgraue Aktenordner stapeln sich in der engen Wohnung. Fünf Jahre seines Lebens hat der Münchner Rentner sorgsam abgeheftet – Korrespondenz mit Polizei, Justiz, Ministerien, durch Klarsichthüllen geschützt, mit Eingangsdatum versehen. Fünf Jahre ist es her, dass seine 19-jährige Tochter Sonja auf mysteriöse Weise verschwand.
Harry Engelbrecht ist ein schmächtiger Mann. Bis zu seinem 65. Lebensjahr arbeitete der Diplomingenieur in der öffentlichen Verwaltung für das Verteidigungsministerium. Vielleicht, so hoffen der 67-Jährige und seine Frau Ingrid, landet eines seiner Schriftstücke auf dem richtigen Schreibtisch, und sie erhalten einen Hinweis. Einen winzigen Hinweis, der zu Sonja führt.
Sonja – hübsch, schlank, mit langen blonden Haaren – hinterließ nichts, kein Lebenszeichen, keine Spur eines gewaltsamen Todes. Sie ging abends mit einem Freund aus und kehrte nie wieder heim. Sie wollte, so der Bekannte, sich nachts von ihrer Schwester Silvia am Stiglmaierplatz abholen lassen. Aber bei der hat das Telefon nie geläutet.
Schleppend langsam, frustrierend verliefen die Ermittlungen der Polizei für die Eltern. Harry und Ingrid Engelbrecht sind sich sicher, dass ihr Kind lebt. „Das weiß ich gefühlsmäßig”, sagt die Mutter. „Sie haben ja keine Leiche gefunden”, argumentiert der Vater.
Eigene Recherchen
Irgendwann haben sie sich E-Mail zugelegt, ein Fax gekauft – für eigene Recherchen. Das hat seinen Platz im Wohnzimmer, gegenüber dem Klavier. Der Raum in dem Wohnblock an einer vierspurigen Straße ist nicht mal 15 Quadratmeter groß. Über dem Instrument hängt eine kleine Marienstatue neben einer selbst gemalten Landschaft ohne Rahmen und einem Kalender. Platz für Gäste gibt es kaum: ein Zweiersofa, ein Sessel, der Klavierhocker, in der Ecke noch ein Stuhl. Ausgefüllt wird die Wohnung von der Person, die nicht da ist, von der verschwundenen Tochter.
Die Privatsphäre der Engelbrechts wurde aufgefressen von der zähen Suche. Von „Bitte melde dich” über „Hans Meiser” bis hin zu „Fliege” haben sie keine Talk-Show ausgelassen. Die Zeitungsartikel über den „Fall Sonja E. ” füllen einen Extra-Ordner. Gleichzeitig versuchten sie, alle Hebel im Staatsapparat in Bewegung zu setzen. „An den Stoiber haben wir als Erstes geschrieben”, erklärt der Vater, „weil ich mir dachte, der ist der Chef vom Ganzen hier. ” Die Antwort enttäuschte ihn: „Es sind immer nur dieselben warmen Worte: Wir tun unser Möglichstes, es ist noch kein Täter auszumachen. ” An den ehemaligen Innenminister Manfred Kanther wandte er sich ebenfalls. Der habe nicht mal geantwortet. „Das macht nichts, man sieht ja, was aus dem geworden ist”, fügt der Vater hinzu und lacht.
Mindestens 16 000 Mark haben die Eltern an zwei Betrüger verloren. Einer gab sich als Jugendpsychologe aus, ein anderer wollte Sonja in Ungarn gesichtet haben. Beide brauchten dringend Geld für geheimnisvolle Informanten. Besonders Frau Engelbrecht glaubte an die Hinweise. „So spontan wie meine Frau wäre ich nicht gewesen”, meint der Vater. Nimmt sie dann sofort in Schutz: „Aber es war ja eine Verzweiflungstat. Das ist auch die Schuld der Polizei, weil das Vertrauen erschüttert war. ”
Und zwar gründlich. „Wir haben in den ersten zwei Wochen oft gehört: ,Lassen Sie uns mit der Ausreißerin in Ruhe, wir haben Wichtigeres zu tun‘!”, empört sich die Mutter. Auch habe die Polizei ihnen zu verstehen gegeben, wenn jemand, so wie Sonja , nachts in dieser Art Lederkleidung herumstehe, müsse man sich über ihr Verschwinden nicht wundern. Verständnislosigkeit bei den Eltern: „Dabei war das eine ganz normale, moderne Lederjacke, wie sie alle jungen Leute heute tragen. ” Sie fühlen sich von der Polizei verraten.
Sonja könne gar nicht ausgerissen sein, sagt das Ehepaar. Sie hatte nur etwas Kleingeld dabei, ihre Ersparnisse aber in der Schreibtischschublade zurück gelassen. „ Sonja hat immer wissen wollen, wo wir sind. Wenn wir wegfuhren, mussten wir einen Zettel hinlegen”, erinnert sich die Mutter. „Umgekehrt hat sie auch immer gesagt, wo sie hingeht und wann sie wiederkommt. ”
Zweifel an Zeugenaussagen
Sie tragen bis heute unermüdlich Beweise zusammen. Und so sind dann eigene Theorien entstanden. Darüber, was wirklich passiert sein könnte. „ Sonja ist nie an der Telefonzelle aufgetaucht”, sagt Vater Engelhard. Das passe schon von den Uhrzeiten her nicht zusammen. Robert, dem einzigen Zeugen, der den Verlauf des Abends geschildert hat, misstrauen sie sowieso. Mehrmals habe er seine Aussagen korrigiert, sich in Widersprüche verstrickt. Nach Meinung der Eltern hat er die Tochter ihren Kidnappern ausgeliefert: „Ein Judas ist der, er hat sein Geld bekommen, und das war’s”, sagt die sonst so ruhige Ingrid Engelbrecht erregt. Das Ehepaar glaubt, Sonja sei auf Bestellung in arabische Länder entführt worden. Und dass wichtige Leute damit zu tun haben, eine deutsche Variante des Falls Dutroux.
Die Mutter mutmaßt, Satanisten könnten ihre Hände im Spiel haben. Freunde ihrer Tochter hatten, so Ingrid Engelbrecht , Kontakt zu dunklen, spiritistischen Kreisen. Beweisbar ist das nicht, aber in diesem komplizierten Fall kann sowieso niemand irgend etwas mit absoluter Sicherheit behaupten. Nicht die Polizei, nicht die Staatsanwaltschaft.
Für die Ermittler ist Robert glaubwürdig und Sonja sehr wahrscheinlich tot. Vielleicht Entführung, vielleicht ein Sexualverbrechen. „Beweisen kann ich es nicht”, sagt Udo Nagel, Leiter des Münchner Morddezernats, fünf Jahre nach Sonjas Verschwinden. „Weil der Fall auch für uns so mysteriös ist”, meint der Beamte, „konnten wir die Eltern nie zufrieden stellen. ” Jährlich verschwinden in München etwa 1600 Menschen. Statistisch gesehen sind nach drei Tagen zwei Drittel wieder da, nach einem halben Jahr mehr als 99 Prozent. Nur jeder Tausendste bleibt länger als ein Jahr spurlos verschwunden.
„Es ist schon fast schön, mit der Ungewissheit zu leben”, sagt die Mutter. Und fügt schnell hinzu: „Schlimm ist es dann, wenn man weiß, das Kind wurde brutal umgebracht. ” Die schmale Frau mit den dunklen, stark ausgeprägten Augenbrauen war immer für die Kinder zuständig. Etwas anderes als Hausfrau und Mutter wollte sie nie sein. Natürlich ist sie oft verzweifelt. Aber ihren Glauben daran, dass Sonja lebt, kann nichts erschüttern: „Immer wenn ich ein Foto von ihr angeschaut habe, spürte ich eine Botschaft darin. ” Wie ein Blitz habe es sie durchzuckt, es war, als rede die Tochter mit ihr: „Ich komme ja wieder. ” Und auf Gottes Hilfe hofft sie. Vielleicht ist es eine Art Bestimmung. Eine Prüfung, an der sie nicht zerbrechen darf. „Es kamen schließlich immer irgendwoher Zeichen – neue Hinweise oder Informanten – wenn ich mal wirklich mutlos war. ”
Ingrid Engelbrecht redet darüber, wie es sein wird, wenn Sonja wieder da ist. Ihr Mann mag dagegen nicht „über ungelegte Eier” sprechen. Und tut es dann, viel später und in anderem Zusammenhang, doch. Er sucht nach rettenden, unverbindlich klingenden Worten, die ihm sonst leicht von den Lippen gehen. Und findet sie nicht. Verheddert sich. Spricht davon, was Sonja widerfahren sein könnte. Dass sie sich möglicherweise ganz erheblich verändert hat. Äußert Zweifel, ob sie wieder zurück ins normale Leben finden kann. Sieht sich in seinem Wohnzimmer um und sagt: „Ich meine, falls sie in einer pompösen, kriminellen Umgebung gelebt hat. ” Zwischendrin sein gequältes Lachen und gleich dreimal der Tabu-Nebensatz: „Falls sie noch lebt. ”
Bis auf die großen Posten und ein paar Kleinigkeiten ist Sonjas Zimmer so, wie sie es zurück gelassen hat. Der kleine Blechkalender, vor -zig Jahren in einem Souvenirgeschäft in Berchtesgaden gekauft, ist beim 10. April stehen geblieben. Auf einem Regal steht ein Sonja -Porträt zwischen Bildern von Maria und Jesus. Die mystischen Darstellungen mit den verschwommenen Konturen haben für die Engelbrechts große Bedeutung: „Sie sind eine gute, weiße Macht, die Sonja schützt, wenn ihr Foto dazwischen steht. ” Der Schrank ist voll mit ihren Kleidungsstücken: „Ich wollte die Sachen in einen Koffer packen”, sagt die Mutter. Geschafft hat sie es nicht. Wenn Sonja wieder kommt, soll sie sich in ihrem alten Zimmer wohl fühlen.
Denise, das Kind der älteren Schwester Silvia, hat es zu „ihrem Studierzimmer” gemacht. Die Engelbrechts nennen die Achtjährige manchmal „unsere kleine Sonja ”. Sie ist der verlorenen Tochter nicht nur äußerlich sehr ähnlich. „Sie stellt auch so viele Fragen, ist auf dieselbe Art bockig”, sagt die Oma. „Sie identifiziert sich stark mit ihrer Tante und weiß alles von ihr. ” Vor kurzem hat Denise ihren Großeltern ein Saftgebräu vorgesetzt. „Süß, sauer, da war alles drin”, erinnern sie sich. Und habe gedroht: „Wenn ihr das nicht austrinkt, kommt Sonja nie zurück. ”