@jerry142 Ich bin kein Freund von der Verkürzung gewisser Begebenheiten. Bei Postels "Karriere" wird meinem Eindruck nach immer so getan, als hätte er jahrelang völlig unauffällig und unentdeckt gewirkt, bis eines Tages ein Komet vom Himmel fiel und alle waren geschockt, dass er ein Hochstapler war. So war es eben nicht.
Gern wird der "Beginn" seiner Karriere bei den "dummen Sachsen" verortet - wo ja klar sei: In einer Gegend, in der Menschen einen Dialekt sprechen, der auf geringe Intelligenz schließen lasse, fällt man auch noch auf einen Dummschwätzer herein. Natürlich! Aber: Dann waren die Flensburger scheinbar auch nicht viel heller. (Dort war er zuvor Amtsarzt und hat u.a. Menschen zwangseinweisen lassen^^)
jerry142 schrieb:Aber die Frage sei gestattet: Hat man die Beschwerden der Patienten ernst genommen?
Meiner Information nach wurden die Beschwerden in der Form ernst genommen, als dass man zumindest Einigen einen anderen behandelnden Arzt zuwies (ob es bei allen so war, weiß ich nicht), dass veränderte Medikationen im Hintergrund erneut angesetzt wurden und dass das Munkeln, das bereits zuvor bestand (^^), noch bekräftigt wurde. Und hieran kann man gut erkennen, dass Postel einen Aspekt der hierarchischen Struktur gut ausgenutzt hatte und ausnutzen konnte: Man stellt einen hierarchisch höherstehenden Kollegen nicht offen zur Rede. Schon gar nicht ohne Beweise für dessen Beschuldigung.
Derjenige, der es diesem ungeschriebenen Gesetzt nach hätte tun können, wäre Postels Chef gewesen. Nur: der war auch derjenige, der für dessen Einstellung gesorgt hat^^. Über das Munkeln im Hintergrund ist man da leider nicht hinausgekommen.
Um nicht selbst strafrechtlich belangt werden zu können für z.B. Verleumdung und Rufschädigung hätte man als Beweis die Richtigkeit seiner Urkunden in Frage stellen müssen. Zum Kontext hierzu:
Das sächsische Sozialministerium hatte die Bewerbungsunterlagen zu prüfen. Hätte dort 1995, fünf Jahre nach der Wende, auffallen müssen, daß eine Behörde wie der Generalbundesanwalt, Dienststelle Bundeszentralregister in Berlin, Postels falsche Urkundskopien nicht beglaubigen darf? "Wir hatten keinen Zweifel, es war doch eine Bundesbehörde, das ist doch nicht irgendwas", sagte der zuständige Ministerialrat als Zeuge. Eher Beleg für den Mangel an Orientierung in den neuen Rechtsverhältnissen der Bundesrepublik als Leichtsinn. Von einem Oberarzt wurde damals in Sachsen noch kein polizeiliches Führungszeugnis verlangt. Das hatte Postel rechtzeitig ausgekundschaftet. Sogar Chefarzt an einer sächsischen Maßregelklinik hätte er werden können, wenn es nach dem Ministerium gegangen wäre, so froh war man um ihn. Dafür allerdings hätte er ein Führungszeugnis gebraucht. Also kam diese Stelle nicht in Frage.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8541460.html(Anm.: Ich bin kein Freund des Spiegels, aber leider ist er eines der wenigen Printmedien, in denen Informationen zu Kontexten des Falls publiziert wurden, die in anderen Medien zugunsten der Begeisterung für Postel gern verklärt oder weggelassen wurden. Zu empfehlen ist die Doku, die am Ende meines Postings aufgeführt ist)
2 Jahre leitender Oberarzt in der Psychiatrie ist keine lange Halbwertszeit - ebensowenig das eine Jahr als Amtsarzt in Flensburg. V.a. dann nicht, wenn die Hälfte der Zeit mit Gutachter-Tätigkeit zugebracht wird. Ich spreche dieses Aspekt lediglich aus dem Grund an, um aufzuräumen mit dem Anschein, den Postel auch heute noch gern erwecken möchte, er habe "erfolgreich" und gefühlte Jahrzehnte das Psychiatriewesen infiltriert und unterhöhlt. Dem ist nicht so. Er hat erfolgreich dessen Strukturen ausgenutzt - mit Inhalten hat er sich weder beschäftigt noch an ihnen gearbeitet.
Spekulation, aber m.E. ist es kein Zufall, dass Postel stets Posten und Aufgaben innehatte, in denen er möglichst wenig am Menschen arbeiten musste. Seine Gutachtertätigkeit macht da keine Ausnahme. Wenn man böse sein möchte, könnte man auch unterstellen: Wer an Gutachten arbeitet, hat wenig Zeit, um in der Praxis Schaden anzurichten, also spielt man den Ball mal an die Juristen weiter.
Interessante Anekdote am Rande zum Prozess und was die Juristen, die seine Gutachten in Auftrag gaben und durchgewunken haben, zu sagen hatten:
Gerichte haben ihn, zum Teil aus nichtigen Gründen, als psychiatrischen Sachverständigen bestellt und honoriert. Sie haben nicht an ihm gezweifelt. Was wäre, hätte man sich nicht auf eine "Bereinigung der Anklage und der Beweismittel" und eine Beseitigung der "Nebenkriegsschauplätze" verständigt, alles zu hören gewesen.
Staatsanwalt Michael Dahms sprach einmal davon, als er sich gerade wieder um "Prozeßökonomie" bemühte, daß man andernfalls vielleicht sogar Justizpersonen vernehmen müßte, Richter also, oder, wenn denen die Erinnerung an den Sachverständigen Postel abhanden gekommen sein würde, gar Staatsanwälte und so weiter.
Die Anklage verzeichnete ursprünglich als Beweismittel 37 Zeugen, unter ihnen 17 Richter und Richterinnen, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen und eine Rechtspflegerin. Sie mußten nicht vor die Öffentlichkeit treten und Rede und Antwort stehen. Das wollte man nicht. Zuletzt war in Leipzig von "Beweismittelbereinigung" die Rede.
Glaubt man den Gutachtern, die Postels Gutachten nachträglich prüften, so liegt der Verdacht nahe, dass seine "Gutachten" noch nicht mal gelesen worden waren:
Was Postel angerichtet hat und daß die Gerichte seiner Inkompetenz sehr wohl auf die Spur hätten kommen müssen, machten die Sachverständigen, die Psychologin Sabine Nowara und der Psychiater Norbert Leygraf deutlich. Unbrauchbare, haarsträubende Gutachten hat Postel abgegeben, ohne Diagnose, ohne Erklärung, warum und wie er zu seinen Feststellungen gekommen ist.
Und wenn sie gelesen wurden und keine Überprüfung erfolgte, dann könnte ich auch hier geneigt sein, zu vermuten, dass man sich keine Blöße geben wollte, indem man offen, z.B. als Richter, sagt: Ich habe keinerlei Ahnung, wovon Sie in ihrem Gutachten sprechen. Auch diesem Schweigen kann mit dem Charakter hierarchischer Strukturen erklärt werden.
Im Übrigen ist nicht bekannt und wird interessanterweise auch nicht erwähnt, ob in einigen der Fälle, in denen Postel Gutachter war, das Gericht seiner Empfehlung folgte. Ich vermute eher nicht. (wie auch, wenn nicht verständlich ist, was Postel da geschrieben hat?)
Dass er ein laut deiner Aussage "gern gesehener" Gutachter gewesen sei, sei dahingestellt.
Gerichte haben ihn, zum Teil aus nichtigen Gründen, als psychiatrischen Sachverständigen bestellt und honoriert.
Da stellt sich mir die Frage: warum bestellt man einen Gutachter, wenn die Fragestellung "nichtig" ist? Dies weist auf Fehler im System hin, die allerdings nicht näher beleuchtet werden können, da sie nicht untersucht wurden. Schade. Das hätte auch uns in der jetzigen Diskussion weiterbringen können.
Wer da gern eine aufschlussreichere Recherche betreiben möchte, dem sei der Doku-Film "Der Unwiderstehliche - die tausend Lügen des Gert Postel" zu empfehlen. Dort bekommt man neben interessanten Zeugen auch interessante Einblicke auf einen demaskierten Gert Postel zu sehen.