@-9- -9- schrieb: dass das Gericht Ulvi selbst dann freisprechen muss, wenn seine Unschuld nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann.
Ulvi muss seine Unschuld nämlich überhaupt nicht beweisen. Die Ankläger bzw. das Gericht müssen vielmehr zweifelsfrei Ulvi die Tat nachweisen und bisher ist diesbezüglich nahezu nichts ersichtlich.
Im Gegensatz zu
@Radler bin ich von der relativ neutralen Darstellung nicht geblendet und sehe hier massive Ignoranz gegenüber Tatsachen.
Trotz einstmaliger Ankündigung, offen für Informationen zu sein, funktioniert dies offensichtlich nicht mal bei juristischen Dingen.
Mal bei Wikipedia gestöbert findet man:
Wikipedia: UnschuldsvermutungSeine universellste Anerkennung findet der Grundsatz in Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948:
„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“
In den Ländern des Europarats wird er darüber hinaus gewährleistet aufgrund von Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK):
„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
Ich denke, hierin liegt diese ständig wiederholte Verwechslung begründet: ein gesetzlicher Beweis ist nicht mit dem kriminaltechnischen Beweis gleichzusetzen.
Als gesetzlicher Beweis sind ausdrücklich auch Indizienketten erlaubt. Und es gibt im Fall Kulac eine Indizienkette, ob man es glauben mag oder nicht.
Die Indizienkette, wie sie sich dem Gericht 2003/2004 präsentierte, überzeugte das Gericht zweifelsfrei von Ulvis Schuld. Das kann falsch sein, das kann richtig sein. Recht und Wahrheit sind da nicht immer konkruent.
Man kann jetzt Zweifel säen und als Laie von weit weg die Methoden der Polizei kritisieren, die Gutachtenstückchen, die wir kennen, in der Luft zerreisen, den Verteidiger hängen wollen, den Richtern Voreingenommensein vorwerfen, bringt aber nichts. Dafür gibt es einen Revisionsprozess. Aber auch diese Stufe sowie einzelne Strafanzeigen hinterher wurden ohne Ergebnis bzw. abschlägig beschieden.
Ja, ich weiß, die Richter und Ermittler halten zusammen und decken sich gegenseitig, als kleiner Mann hat man keine Chance....
Für mich relativierte sich diese Sicht der Dinge (die ich durch die Doku auch anfangs hatte) etwas, als ich zur Kenntnis nahm, dass das Alles nicht nicht ganz so schwarz-weiß ist.
Den Ermittlern stellte sich damals bzgl Ulvi folgendes Bild:
- erwachsener Mann
- kannte Peggy
- Bezugsperson
- geistig behindert
- hatte gestanden, Peggy missbraucht zu haben (mehrmals)
- hatte gestanden, Peggy am 3.5.2001 massiv missbraucht zu haben
- an die 20 Missbrauchsopfer aus Lichtenberg selbst
- sexualisiertes Verhalten
- unüberwachter Rückzugsort zugänglich
- erheblicher Drogen- und Alkoholkonsum
- ....
Ganz ehrlich: hätten die Ermittler diese Spur nicht verfolgt, wäre heute der Aufschrei auch groß.
Hinzu kamen dann eben einige Indizien, wie z.B. folgende (hier kenne ich längst nicht alle):
- Geständnisse samt Videorekonstruktionen (boten einen unter diesen Umständen logischen detaillierten Tathergang und eine Erklärung dafür, dass Peggy verschwunden blieb)
- Motiv
- Gutachter werteten die Geständnisse und die darin enthaltenen Abläufe als erlebnisbasiert, gerade unter Berücksichtigung von Ulvis Behinderung
- Geständnisse gegenüber Anwalt, Gutachter, Psychologin
- Zeugen, die Ulvi Kulac am Henri-Marteau-Platz gesehen hatten, genau zu der Zeit, als er angeblich mit seinen Eltern zu Mittag ass
- Zeugin wollte Ulvi Kulacin Arbeitsklamotten gesehen haben, wie er mit einem kleinen blonden Mädchen sprach.
- Zeuge bestätigte die Arbeitsklamotten und die Sichtung Ulvis in der Nähe des Krämerladens, wo er um die Zeit laut Eltern nicht sein konnte
- sehr schwammiges Alibi durch die Eltern
- keine Alibibestätigung durch die Schwester
- abgehörte Telefonate, die Ulvi Kulac belasteten (Geständnisse gegenüber Anwalt, unklare Ursachen, Entlastungszeugen, die gewünschte Alibizeiten erfragen)
- unzuverlässige Zeitangaben von Entlastungszeugen
- nachgewiesene Unwahrheiten und fehlendes Alibi des von Ulvi Kulac mitbelasteten Vaters
- angefangene und dann abgebrochene Aussage der Mutter
- Faserspuren im Auto von Ulvi Kulacs Vater, der die Existenz einer grünen Decke nahelegt, die es laut restlicher Familie nie gegeben haben soll
- viele widersprüchliche Zeugenaussagen
- gestandener Wunsch, sich bei Peggy zu entschuldigen
- Peggys Verhaltensänderungen im Einklang zu Ulvi Kulacs frühen Geständnissen eines massiven Übergriffes
- Peggys gleichzeitiger Aufenthalt im Ortskern
- das Nichtankommen zuhause, was den Ort und die Zeit des Verschwindens stark begrenzte
- ...
Es gab einige Dinge, die dagegen sprachen oder auf andere Möglichkeiten hinwiesen:
- knappes Zeitfenster
- viele Sackgassen (rotes Auto etc)
- Sichtungen Peggys noch nach dem vermuteten Tatzeitpunkt
- ...
Das Gericht und die Ermittler hatten die schwierige Aufgabe, aus einem riesigen Haufen von Puzzleteilen ein Gesamtbild herauskristallisieren.
Jedenfalls kam das Gericht 2004 zu der bekannten Entscheidung, weil es offensichtlich keine Zweifel hatte.
Das laute Hinterfragen und der Widerruf von Hoffmann und die unvollständigen Unterlagen, die später zu dem belastenden Gutachten von Kröber führten haben das jetzige Wiederaufnahmeverfahren zur Folge.
Ich denke, der neue Prozess setzt sich nun eben wieder mit all diesen Dingen auseinander. Und wenn dann beim Gericht Zweifel übrig bleiben wird es einen Freispruch geben.
Jedenfalls stimmen all diese Stammtischparolen und Pauschalisierungen einfach nicht. Die Situation war extrem schwierig. Dass die sich das besonders leicht machten, nur weil Ulvi Kulac behindert ist, sehe ich nicht.