@traces Vielen Dank für Deine ausführliche und aufschlussreiche Antwort.
traces schrieb:gründet sich auf die wiederholten Telefonkontakte, die er Täter zuließ, unter der Prämisse, er wollte sich damit Zeit verschaffen, seine Identität sowie seine eigene Entdeckung verschleiern.
Unter dieser Prämisse ist das, was Du schreibst, sehr überzeugend. Ich gehe jedoch von anderen Voraussetzungen aus.
Du nimmst, glaube ich, an, die 1. SMS sei freiwillig von FL versandt worden.
Der Täter hat es bis jetzt geschafft, der Polizei zu entgehen, und ich kann deshalb nicht glauben, dass er so dumm war, zu glauben, die Herkunft dieser 1. SMS könne nicht ermittelt werden - zumal das auch 2006 bereits Alltagswissen war.
Der Täter wäre also in Deinem Szenario nach meiner Auffassung bereits sofort nach der Entführung/dem Festhalten zu Verdeckungshandlungen genötigt gewesen und hätte nicht erst 48 Stunden nach FLs Verschwinden reagiert. Selbst wenn FL am Mittwoch noch nicht in der Lage gewesen wäre, ein Telefonat zu führen, hätte der Täter doch am Mittwochmorgen eine SMS versenden können in der Hoffnung, die Angehörigen und Freunde noch etwas länger hinzuhalten. Gerade nach Deinem Täterprofil hätte es ihm doch nicht entsprochen, einfach untätig so lange abzuwarten?
Außerdem: FLs Handy wurde nach dem Versand der 1. SMS erst wieder für das Telefonat am späten Donnerstagabend eingeschaltet. Für den Täter wäre doch der gesamte Inhalt dieser SMS (eventueller Hinweis auf ihn) von elementarem Interesse gewesen. Warum wurde also das Handy vom Täter nicht noch mal eingeschaltet, um diese von FL freiwillig versandte SMS zu lesen?
Natürlich ist nicht auszuschließen, dass es ihm während des Schreibens gelang, den Text mitzulesen. Das wäre aber nicht so einfach gewesen, denn FL war eine sehr versierte und sehr flinke Tipperin.
traces schrieb am 17.07.2019:Der Dreh- und Angelpunkt ist die erste SMS. Mit ihr entscheiden sich alle in Frage kommenden Szenarien.
Hier kann ich wieder Dir nur zustimmen.
Ich habe mich aus drei Gründen gegen die Annahme eines freiwilligen Versands entschieden:
1. Der Inhalt der SMS passt überhaupt nicht zu der Situation und zu FLs Charakteristik, wie sie übereinstimmend von ihrer Familie und ihren Freunden gegeben wurde.
2. Wenn FL mitten in der Nacht und unter diesen Umständen (leerer Akku, kein Geld, wartender Chris, die Aussicht, am nächsten Morgen früh aufstehen zu müssen) in die Nieheimer Gegend gefahren wäre, hätte diese Person ihr näher stehen müssen. Und da FL ständig und leidenschaftlich gern simste, wäre es extrem unwahrscheinlich gewesen, dass es zu dieser Person keinen nachweisbaren Kontakt gegeben hätte. (Alle Personen, zu den FL Email-, SMS- und Telefonkontakt hatte, wurden von der Kripo überprüft.)
3. Trotz sehr aufwändiger Ermittlungen wurde in der Nieheimer Gegend nicht die geringste Spur gefunden.
Deine Überlegung, der Täter sei mit FL durch die Gegend gefahren, um mit ihr zu reden, finde ich zwar plausibel, glaube aber nicht, dass die Fahrt bis Nieheim geführt hätte. Fl war nach den Aussagen ihrer Bekannten außerordentlich hilfsbereit, aber auch selbstbewusst und durchaus imstande, Grenzen zu setzen. Ein Durch-die-Gegend- Fahren-und-Reden wäre auch innerhalb PBs möglich gewesen. Eine so weite Entfernung von PB mitten in der Nacht mit einer ihr nicht näherstehenden Person (s. Überprüfung der Kontakte), ohne Geld und funktionierendes Handy? Das kann ich mir bei FL nach dem, was wir von ihr wissen, nicht vorstellen.
Die Fallanalyse kam zwar zu dem Ergebnis eines freiwilligen Versands, aber sie wurde zu Beginn der Ermittlungen durchgeführt (während wir heute das Ergebnis kennen) und da war es - soweit ich weiß, auch statistisch - wahrscheinlich, dass der Täter aus ihrem engeren Umfeld stammte. Zudem sind nach einer vom BKA herausgegebenen Studie (die ich hier schon mehrfach zitierte, bei Bedarf auch gern wieder) ca. ein Fünftel aller seriös durchgeführten Fallanalysen falsch - nicht wegen der Inkompetenz der Fallanalytiker, sondern aufgrund der unvermeidlich fehleranfälligen Methodik.
Ich halte es daher für weitaus wahrscheinlicher, dass die SMS vom Täter geschrieben und versendet wurde - um eine falsche Fährte zu legen. Dieses sehr kalkulierte und gezielt auf eine bestimmte Wirkung berechnete Vorgehen passt für mich weitaus eher zu dem späteren Verhalten des Täters. Ist Dir eine solche Möglichkeit grundsätzlich unvorstellbar?
Und zu den Telefonaten: Auch hier sehe ich keine - zumindest durchgängige - Verdeckungsabsicht gegeben. Nach meiner Auffassung verändert sich die Intention des Täters während der Telefonate.
Das 1. Telefonat vom späten Donnerstagabend fand statt, nachdem öffentlich an FL appelliert wurde, sich zu melden. Diesem Appell konnte der Täter nach meiner Ansicht entnehmen, dass die Polizei von einer Entführung zumindest noch nicht überzeugt war, und ich vermute, erst dieser Appell hat den Täter zu dem Anruf "inspiriert".
FL sagt in dem Gespräch nur wenige Sätze und legt dann sofort auf, ohne irgendeine Reaktion von Chris zuzulassen. Vom Inhalt her war dieses Gespräch das "beruhigendste" von allen. (Ich nehme nicht an, dass der Täter die Bedeutung von "Christos" gekannt hat.)
Mit den täglichen und nicht eingehaltenenen Rückkehrankündigungen wurde ein beruhigender Effekt nicht erreicht. Und das letzte Gespräch, das deutlich länger als die vorangegangenen dauert, lässt an dem furchtbaren Ernst von FLs Lage keinen Zweifel mehr.
Warum wurde dieses Gespräch noch geführt? Warum hat der Täter im Gegensatz zu den früheren ein so langes Gespräch zugelassen, in dem FLs desolate Verfassung immer klarer wurde?
Eine Überforderung des Täters kann ich nicht erkennen, denn FL respektiert auch in diesem Gespräch Grenzen und unterlässt Hinweise auf den Täter. (An dieser Stelle bin ich mir allerdings nicht sicher: Das dreimalige "Mama" könnte ein Hinweis auf Bad Driburg oder die Umgebung gewesen sein. In diesem Fall hätte der Täter aber den Hinweis offensichtlich nicht erkannt - was allerdings eine spätere Recherche nicht ausschlösse.)
Und was ich in dem letzten Gespräch ebenfalls für sehr wichtig halte: Eine weitere Rückkehrankündigung unterbleibt - zum ersten Mal.
Wie erklärst Du Dir dieses Gespräch?
Es gibt noch etwas, was ich für außerordentlich wichtig halte: Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Täter - nach meiner Wahrnehmung - das Bemühen um den Eindruck eines freiwilligen Verschwindens vernachlässigt und schließlich aufgibt, hat die Polizei ihre Ermittlungen eingestellt. Das kann ich nicht für Zufall halten.
Und ich bin überzeugt, dass der Täter die letzten beiden Orte für die Telefonate niemals gewählt hätte, wenn er nicht von dieser Einstellung aller polizeilichen Ermittlungen gewusst hätte. Hätte die Polizei ihre Ermittlungen fortgesetzt, wäre die Wahrscheinlichkeit außerordentlich hoch gewesen, den Täter zu fassen.
Und an diesem Punkt stimme ich wieder mit Deiner Bemerkung überein, dass es doch sehr bedenkenswert ist, dass die ganze Zeit nur Chris angerufen wurde. Ich vermute, dass FL den Täter nur mal flüchtig, aber in einem vertrauenswürdigen Kontext kennengelernt hat und der Täter vielleicht einen Kontakt zu Chris' engeren Freunden hatte, über die er - zuverlässig, aber unverdächtig - von der Einstellung der polizeilichen Ermittlungen erfahren konnte.
(Um Missverständnisse zu vermeiden: Chris und seine Freunde wären völlig ahnungslos gewesen.)