birkensee schrieb:Dieses Verbrechen ist ja auch deshalb so problematisch in seiner Aufklärung, weil es sehr ungewöhnlich ist. Es fehlen Vergleichsmöglichkeiten. Täter, die nachts Frauen überfallen, halten sie dann in der Regel nicht noch eine Woche fest und fahren sie mehrfach zu einem Ort, um sie von dort aus telefonieren zu lassen.
Das stimmt. Als ich mich vor längerem zum ersten Mal mit FL beschäftigte, war ich davon überzeugt, dass es sich im Fall des Täters um einen psychotischen Liebeswahn gehandelt habe. Als ich jetzt wieder mitlas, bin ich vermutlich mit dieser Vorannahme herangegangen, sodass ich wahrscheinlich einiges an Möglichkeiten von vornherein ausblende(te). (Deshalb diskutiere ich hier sehr gerne - es hilft, blinde Flecken in der eigenen Betrachtung zu entdecken.)
Ich glaube aber immer noch, dass der Täter eine Stalker-Persönlichkeit haben könnte. So erkläre ich mir das Tatgeschehen. Dazu hier einmal ein paar - zugegeben - recht ungeordnete Gedanken zur Diskussion.
Jemand, der F sicher schon kannte - und dem sie vertraute - begegnete ihr zufällig nachdem sie das Pub verlassen hatte. - Wenn sie wirklich so müde war, dass sie unbedingt nach Hause wollte, dann gelang es dem Täter vielleicht an ihre Gefühle zu appellieren. - Mit der Bitte um Beistand oder Hilfe könnte er F, so wie sie von ihren Angehörigen geschildert wird, durchaus dazu bewegt haben, ihn zu sich nach Hause zu begleiten.
Dieses Szenario erklärt recht zwanglos, wieso F noch spät freiwillig und selbstständig mitkam und auch die Nachricht an C versendete. Der Konflikt wurde ihr erst dann deutlich, als sie - vielleicht schon bald nach der Nachricht - aufbrechen wollte und den Täter an sein (evtl. gegebenes) Versprechen erinnerte, sie nun wieder nach Paderborn zurück zu bringen. Von diesem Augenblick an könnte es dem Täter nur noch darum gegangen sein, um jeden Preis zu verhindern, dass die Zeit mit F endet, bevor die Trennung absolut unvermeidbar sein würde.
Mit diesem Motiv hat er daher von nun an auf Hochtouren improvisiert. Dabei verhielt er sich sehr gerissen, in manchem ist er aber trotzdem klar über das Ziel hinausgeschossen, was auf einen exzessiven Zug hindeutet, der für das entworfene Täterprofil ebenso wie für das gesamte Verbrechen bezeichnend scheint. Selbst die häufigen Kontakte zwischen F und Ihren Angehörigen, die er zu organisieren hatte, sind ja nicht zuletzt jedesmal sehr aufregende und stresshafte Situationen, die sich - mit allen Vor- und Nachbereitungen - vermutlich mindestens über 60 bis 90 Minuten hinzogen und die er sich und F dennoch fast täglich zumutete.
Je nach dem, wer wen dazu überreden musste, war sicher auch der Diskussionsbedarf im Vorfeld der Anrufe groß. Und was geschah in der Zwischenzeit? Es ist schwer vorzustellen, dass F nur betäubt in einem verschlossenen Zimmer lag. Immerhin: Sie konnte an nahezu jedem Tag in der ersten Woche ihres Verschwindens nachweislich sprechen - und zwar auf eine Weise, die es für die Angehörigen bis zu letzt nicht eindeutig erschienen ließ, dass F sich in einer Zwangssituation befand. Schließlich konnten an der (zugegeben skelettierten) Leiche und dem, was von ihrer Kleidung übrig geblieben war (immerhin muss man davon ausgehen, dass sie diese während des gesamten Zeitraums getragen hat), keinerlei Spuren von Gewaltanwendung gefunden werden.
Sagt das etwas darüber, wie man sich die Zeit zwischen den Anrufen und damit die eigentliche Situation, in der F steckte, und den Täter selbst vorstellen muss? Ist es realistisch, anzunehmen, F sei in dieser Zeit häufig alleine verblieben, weggeschlossen und/oder sediert? Oder würde man eher annehmen, dass der Täter ohne Arbeit oder im Urlaub war und deshalb rund um die Uhr bei ihr sein konnte? (Könnte ein Urlaubsende aus Tätersicht die Unvermeidbarkeit der Trennung ultimativ markiert haben?)
Wahrscheinlicher als Drogen und Sedation erscheinen mir Schlaf- und Nahrungsentzug. Ersteres setzt - gerade über den langen Zeitraum - vermutlich medizinische Kenntnisse voraus (und an einen Kollegen aus dem Krankenhaus glaube ich nicht) - zumal F bei Gelegenheit immer wieder fit genug sein musste, um im Sinne des Täters - nicht nur anlässlich der Telefonate - zu funktionieren. Zweitens fügt es sich problemlos in das Bild des Stalker-Szenarios: Dieser Tätertyp würde sich und sein Opfer in einen emotionalen Parforceritt hineinsteigern, der keine Pause kennt. ME war der Täter daher vermutlich auch nahezu ständig bei F. Darum muss es ihm ja wohl gegangen sein - bei ihr zu sein bzw. sie so lange wie möglich bei sich zu behalten - vermutlich in der psychotischen Wahnvorstellungen, ihm könne sprichwörtlich die Quadatur des Kreises gelingen, nämlich er könne F noch von sich und einer gemeinsamen Zukunft überzeugen, die es möglich machen würde, den erzwungenen Beginn ihrer ‚Beziehung’ zu vergessen - dafür mE der ganze Aufwand. Daher die Zugeständnisse, die Telefonate und SMS, die alles plausibilisieren und eine gemeinsame,
vor den Augen der Welt unbelastete Zukunft mit F ermöglichen sollten, daher keine Anzeichen von Gewalt, nicht in der Stimme und nicht am Körper, deshalb auch die Ausfahrten, die er mit ihr wagte, weil er zwanghaft an eine Beziehung glaubte und dabei seine eigenen Gewaltaspekte soweit auszublenden vermochte, dass er vielleicht wirklich zeitweise glaubte, alles in der Hamd zu haben, daher auch Fs Vorsicht und Ambivalenz am Telefon, weil es eben dieser Tätertyp war, den sie glaubte, wie die Mutter es in einem Interview formulierte, „noch drehen zu können“ (sinngemäß), um heil aus der Situation entkommen zu können.
Sie glaubte vielleicht wirklich, ihn noch drehen zu können. Gegebenenfalls der Tätertyp, den ich hier entwerfe, trifft ihn etwa zu, dann hieße dies, dass beide, Täter wie Opfer, wechselseitig versuchten psychologisch aufeinander einzuwirken. Eine emotional anstrengendere Situation als diese, noch dazu über den unglaublichen Zeitraum einer ganzen Woche, die weder Tag noch Nacht gekannt haben dürfte, ist vermutlich kaum vorzustellen. Durch diese dauerhafte Überbelastung ließe sich nicht zuletzt auch Fs beschriebene Teilnahmslosigkeit mE mindestens ebensogut erklären, wie durch Drogen, die, wenn sie sie bekam, jedenfalls keinen toxikologischen Abdruck hinterlassen haben.