@OddThomas Hier nachstehend einiges Interessantes zum Thema Waffenläger/Fememorde am Beispiel Oberschlesien.
Z.T. erschreckende Parallelen, Verhaltensmuster und "Misch-Motivationen", wie wir sie aus HK kennen.
Quelle: Schwarze Reichswehr und Fememorde, Bernhard Sauer, ISBN 3-936411-06-9
Eine Milieustudie zum Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik
Anmerkung: Fett-Markierungen erfolgten durch mich.
Grüße aus Gröbern
„Verräter waren bei uns in Mengen erschossen worden.“
Die Fememorde in Oberschlesien 1921
Die Kämpfe zwischen Deutschen und Polen nach dem Ersten Weltkrieg über den
zukünftigen Grenzverlauf in den ehemaligen deutschen Ostprovinzen Posen,
Westpreußen, Oberschlesien und Ostpreußen waren für die junge Weimarer Republik
eine erstrangige innenpolitische Herausforderung. Dabei erwiesen sich die
Auseinandersetzungen in Oberschlesien von besonderer Heftigkeit und Bedeutung.
Gerade hier mischten sich unter die ortsansässige deutsche Bevölkerung die
Freischärler aus dem gesamten Reich und gaben den Kämpfen bald ihr Gepräge. Alle
relevanten Freikorps, von denen es hieß, sie seien längst aufgelöst, waren plötzlich
wieder zur Stelle und bildeten in Oberschlesien geschlossene Kampfverbände. Zu
nennen sind insbesondere die ehemaligen Freikorpsangehörigen aus dem Baltikum1
sowie die Organisationen Roßbach,2 Aulock,3 Heydebreck,4 Pfeffer,5 Consul,6 Heinz7
und das aus Bayern kommende Freikorps Oberland.8 Die Freikorps unterstellten sich
zwar formell dem Oberbefehl des Selbstschutzes-Oberschlesien (SSOS), verfolgten
aber im Verlauf der dramatischen Kämpfe zunehmend ihre eigenen Ziele. Auf diese
Weise entwickelte sich in Oberschlesien – ähnlich wie 1919 im Baltikum – ein
Gefahrenherd für das Reich selbst.
Während der Kämpfe in Oberschlesien hatte sich innerhalb der Freikorps ein
Phänomen entwickelt, das dann später zum Vorbild für ähnliche Vorkommnisse in fast
allen rechten Verbänden wurde: die Beseitigung von „Verrätern“ und „Spionen“ durch
die Anwendung des Fememordes.9 In Oberschlesien, so schrieb der preußische
Innenminister Carl Severing, trat „zum ersten Male eine Erscheinung auf, die sich in
den späteren Jahren geradezu zu einer Volksgeißel entwickelt und offenbar als Vorbild
für bedenklichste Erscheinungen der Folgezeit gedient hat, die sogenannte Femejustiz
in den Reihen derartiger Verbände“.10 Im Gegensatz zum politischen Mord am Gegner
richtete sich der Fememord gegen die Mitglieder aus den eigenen Reihen, gegen
diejenigen, die in den Verdacht des „Verrats“ an den Zielen der eigenen Organisationen
geraten waren. Es ist ein Phänomen jener Zeit, dass der Fememord, der seit dem
Mittelalter kaum noch praktiziert wurde, nach dem Ersten Weltkrieg plötzlich wieder
auftauchte und besonders in Oberschlesien eine massenhafte Anwendung fand. Hier
wurden Hunderte – nach einzelnen Unterlagen sogar Tausende – Fememorde begangen,
wobei häufig der Verdacht, „mit den Polen gemeinsame Sache zu machen“, für die
Liquidation ausreichte. Die Opfer wurden in Nacht- und Nebelaktionen umgebracht.
Die Freikorpsführer sahen in diesen Tötungen notwendige Maßnahmen im „deutschen
Freiheitskampf“. Verräter seien damals auf die einzig mögliche Weise ihrer gerechten
Strafe zugeführt worden. So schrieb Friedrich Wilhelm v. Oertzen, Freikorpsführer und
einer der wichtigsten Chronisten der Freikorpsbewegung, der sich später dem
Nationalsozialismus anschloss:
„Es ist sicherlich richtig, daß durch die Selbstjustiz der deutschen Selbstschutzformationen
in streng juristischem Sinne eine Reihe von Leuten vom Leben zum Tode
befördert worden sind, die unter normalen Umständen ihre Vergehen mit einer kürzeren
oder längeren Freiheitsstrafe hätten sühnen können. Aber bei der Beurteilung dieses
Komplexes, der später in den sogenannten Fememordprozessen eine große Rolle
gespielt hat, wird man zu bedenken haben, daß langwierige, ins Einzelne gehende
Untersuchungen überhaupt nicht möglich waren. War jemand verdächtig, so mußte das
bedauerlicherweise genügen. Er verschwand und tauchte in den meisten Fällen nie
wieder auf. Es ist natürlich auch vorgekommen, daß auf Grund absolut falscher Denunziationen
ganz Unschuldige Opfer dieser Selbstjustiz geworden sind. Aber diese
Fälle sind tatsächlich ungemein selten, denn der Denunziant hatte, wenn bei irgendeiner
Gelegenheit sich die Unschuld seines Opfers herausstellte, ganz selbstverständlich die
gleiche Strafe zu gewärtigen. Der Respekt vor der Unantastbarkeit eines
Menschenlebens ist in diesen wilden und eigentlich mit kaum etwas anderem
vergleichbaren Zeiten nicht sehr groß gewesen. Der Kampf, den die wenigen Tausende
zu allem entschlossenen deutschen Männer damals gegen die Polen, die Franzosen und
teilweise sogar gegen die Laschheit der eigenen Führung und Regierung zu führen
hatten, konnte keinen Raum für sentimentale Humanitätsüberlegungen lassen.“11
Ein anderer Freikorpsangehöriger äußerte sich so: „Verräter verfallen der Feme!
Wenn es sich möglich machen ließ, wurde sogar eine Kugel für dieses Gesindel gespart.
Man kann sonst über den Wert eines Menschen denken wie man will, aber für eine
solche Gemeinheit war ein rascher Tod fast zu schade!“ Die Freikorpsangehörigen
hätten den Ausdruck „Fememord“ damals nicht gebraucht, „aber Verräter waren bei uns
in Mengen erschossen worden“.12
Über die meisten der Morde können keine näheren Angaben gemacht werden, da
Taten und Täter am 21. Juni 1922 amnestiert und die gerichtlichen Untersuchungen
daraufhin eingestellt wurden. Doch sind einzelne Ermittlungsunterlagen erhalten
geblieben. Sie geben einen ausgezeichneten Einblick in die Kampfweise und das Milieu
der damals in Oberschlesien operierenden Wehrverbände und können zugleich die
Frage beantworten, ob damals in Oberschlesien tatsächlich nur „ganz selten“
Unschuldige vom „Leben zum Tode befördert worden sind“.13
Relativ gut lassen sich die Morde an dem Ehrhardt-Mann Fritz Köhler und an Kurt
Herrmann von der Arbeitsgemeinschaft Roßbach-Meyer dokumentieren, die sich im
Juli oder August 1921 und im Juni 1922 ereigneten.
Fritz Köhler hatte den Feldzug im Baltikum mitgemacht. Zusammen mit einer
Gruppe anderer Baltikumer hatte er sich danach in Oberschlesien der
„Selbstschutzorganisation Ehrhardt“ angeschlossen und war bei dem Rittergutsbesitzer
Ulrich Freiherr von Richthofen in Klein-Wandriß, Kreis Liegnitz, als „Feldhüter“
untergebracht. Er wurde im Forsthaus des Kohlhöher Waldes mit der Aufsicht betraut.
Die Baltikumer auf Kohlhöhe hatten sich falsche adlige Namen zugelegt. Fritz Köhler
nannte sich „von der Lanken“.14 Aus unbekannten Gründen geriet er in den Verdacht,
ein Verräter zu sein. Die Mannschaften, als Arbeitskommandos auf verschiedene Güter
verteilt, hatten Waffen in geheimen Lagern untergebracht.15 Der Kompanieführer Karl
Ernst Schweninger sowie die beiden ihm unterstellten Offiziere, Martin Lampel und
Veit Ulrich von Beulwitz, hatten zusammen mit Fritz Köhler alias „von der Lanken“
eines dieser geheimen Waffenlager aufgesucht. Als Köhler am Boden lag, um zu hören,
ob Grundwasser im Waffenlager sprudle, nahm v. Beulwitz eine Rodehacke und schlug
Köhler auf den Kopf. Dann schoss Lampel mit einer Pistole auf Köhler. Nach anderen
Aussagen war es v. Beulwitz, der den Schuss abgab.16
Gegen Schweninger, Lampel und v. Beulwitz wurde Anklage wegen
gemeinschaftlicher vorsätzlicher Tötung erhoben. Freiherr Ulrich von Richthofen soll
diesen Mord angeordnet haben.17 Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 28.
November 1930 auf Grund des Gesetzes über Straffreiheit vom 14. Juli 1928 in der
Fassung des Gesetzes vom 24. Oktober 1930 eingestellt. Die Tat geschah wohl – so
hieß es – „zur Sicherung eines deutschen Waffenlagers“.18
Nähere Aufschlüsse über das Milieu der Wehrverbände in Oberschlesien gibt der
Fall Herrman. „Die Angeklagten“, so schrieb der Vorwärts, „waren sämtlich ehemalige
Angehörige der ‚Arbeitsgemeinschaft Rossbach‘. Der Prozeß führte tief in das
politische Bandenwesen der Nachkriegszeit hinein. Die Angeklagten gehören zu den
hinreichend bekannten Existenzen, die sich nach dem Kriege nicht von ihrem
militärischen Handwerk trennen konnten, die dem Grenzschutz, den Baltikumkämpfern,
den Kapp-Truppen und dem oberschlesischen Selbstschutz angehört haben und
schließlich bei militärischen Geheimorganisationen landeten.“19
Was war geschehen? In der Nacht vom 6. auf den 7. Juni 1922 wurde der 25 Jahre
alte Zigarrenkaufmann Kurt Herrmann in seiner Wohnung getötet. Die Täter waren in
seine Wohnung eingedrungen, hatten ihre Gesichter mit schwarzen Tüchern verdeckt
und gewartet, bis Herrmann eingeschlafen war. Dann fielen sie über ihn her, betäubten
ihn mit Chloroform und Faustschlägen und erstickten ihn schließlich in seinem Bett
durch gewaltsames Bedecken von Mund und Nase.20 Offenbar sollte ein Raubmord
vorgetäuscht werden, denn verschiedene Schmuckgegenstände wurden entwendet,
andere aber zurückgelassen.
Kurt Herrmann hatte zusammen mit dem Oberleutnant a. D. Andreas Mayer21 die
Wachgesellschaft „Schlesien“ gegründet, die Grundbesitzern die Überwachung ihres
Eigentums gegen Entgelt anbot. Der Wachgesellschaft gehörten ferner Otto Gebauer22
sowie der Kaufmann Hans Spöhrer und der in Kurland geborene Robert Tippel an.
Andreas Mayer hatte zuvor als Führer eines Bataillons der „Eisernen Division“ den
Feldzug im Baltikum mitgemacht, sich anschließend der „Arbeitsgemeinschaft
Roßbach“ angeschlossen, in der er zunächst Kreisleiter in Saazig in Pommern und dann
Gauleiter in Schlesien wurde. In der „Arbeitsgemeinschaft Roßbach“ hatte er auch
Gebauer, Spöhrer und Tippel kennen gelernt, die zuvor ebenfalls an den Kämpfen im
Baltikum beteiligt waren. Als Oberleutnant a. D. Mayer sich mit Oberleutnant a. D.
Roßbach verfeindete, verließ er zusammen mit Gebauer, Spöhrer und Tippel dessen
Organisation und gründete seine eigene.
In der Wachgesellschaft „Schlesien“ fungierte Herrmann als der Geldgeber, er war
es auch, der in seiner Wohnung in der Goethestr. 42/44 die Räume für das Büro der
Gesellschaft zur Verfügung stellte. Nachdem Herrmann in seiner Wohnung tot aufgefunden
worden war, wurde als erster Otto Gebauer verhaftet, der schließlich auch
gestand, dass der Mord „auf höheren Befehl“ von den Angestellten der
Wachgesellschaft Spöhrer und Tippel verübt worden sei.23 Beide leugneten jedoch, die
Tat begangen zu haben. Zugleich wurde ein Steckbrief gegen Oberleutnant a. D.
Andreas Mayer erstellt, der daraufhin bald ausfindig gemacht werden konnte, weil er
Ende November 1923 auf Grund eines Haftbefehls des Untersuchungsrichters des
Staatsgerichtshofes Köslin wegen Hochverrats und Vergehens gegen das Gesetz zum
Schutz der Republik in Untersuchungshaft genommen worden war.24 In seiner
Vernehmung sagte Mayer aus, dass er Spöhrer und Tippel lediglich den Auftrag
gegeben habe, Herrmann einen Denkzettel in Gestalt einer Tracht Prügel zu
verabreichen.25 Dies sei so üblich gewesen; schon im Baltikum habe er oft missliebige
Personen, die sich der Disziplin nicht fügen wollten, „verrollen“ lassen.26 An Mord
habe er dabei nicht gedacht.
Die umfangreichen Ermittlungen geben ein überaus verworrenes Bild. Warum
Herrmann getötet wurde, geht aus ihnen mit letzter Klarheit nicht hervor. Fest steht
lediglich, dass alle restlos untereinander zerstritten waren und Herrmann in den Tagen
vor der Tat Todesangst gehabt hatte. Als seine Schwester, Margarete Herrmann, ihn
fragte, warum er so elend aussehe, antwortete er, das sei „die Angst vor dem Tode“.
Offenbar hatte Herrmann mit dem Gedanken gespielt, „auszusteigen“, jedoch
gegenüber einer Cousine betont, ein „Zurück gäbe es jetzt nicht mehr“, sonst würde es
ihm so wie den anderen ergehen, die seien „von Seiten der Organisation weggeschafft“
worden.27 Tatsächlich waren kurz vor Herrmanns Tod vier junge Selbstschutzleute, die
offenbar die Organisation Roßbach verlassen wollten, bei Sibyllenort im Kreis Oels
durch Kopfschüsse ermordet worden.28
Standen diese Morde im Zusammenhang mit Herrmanns Tod? Die Frankfurter
Zeitung schrieb, dass der Anlass für die Ermordung Herrmanns „die Kenntnis gewisser
Vorgänge in den rechtsradikalen Geheimorganisationen war“.29 Für diese Behauptung
lieferten die Ermittlungen gewisse Anhaltspunkte. So sagte Spöhrer in der
Untersuchungshaft aus: „Wenn ich durch die Anderen belastet werden sollte, so werde
ich erzählen, dass Mayer und Gebauer in Bankau 3 Personen ermordet und ihre
Gesichter mit Salzsäure unkenntlich gemacht haben.“ Ferner drohte Spöhrer, dass
„Gebauer noch eine andere Mordsache auf dem Gewissen hätte“.30 Mayer, so die
weiteren Ermittlungen, soll den Befehl zum Erschießen eines gewissen Boy gegeben
haben, wovon Herrmann wusste.31 Ein weiterer Zeuge bekundete, dass Herrmann von
der Ermordung der Selbstschutzleute und des Einzelmordes zu viel gewusst habe. Es sei
nun befürchtet worden, dass Herrmann „hiervon etwas ausplaudern, ihn (Mayer)
‚verpetzen‘ könnte“.32 Die weiteren Nachforschungen ergaben allerdings keine
gesicherten Nachweise über die Beteiligung von Mayer und Gebauer an den genannten
Morden.33
Mayer und Gebauer wiederum behaupteten, Herrmann habe „mit den Polen“ in
Verbindung gestanden und illegale Waffengeschäfte gemacht. Oberleutnant a. D.
Mayer sagte aus, dass er von dem Baron von Rübnitz 10 000 Mark für den Selbstschutz
zum Kauf von Waffen erhalten habe, die er dem Herrmann gegeben habe, damit dieser
die Waffen besorge. Auf sein wiederholtes Fragen, wo denn die Waffen blieben, habe
Herrmann immer nur geantwortet, dies gehe nicht so schnell, „er müsse die Leute erst
noch schmieren“.34 Es sei der Verdacht entstanden, dass Herrmann das Geld
unterschlagen habe.
Nach den Ermittlungen war Herrmann tatsächlich an dubiosen Waffengeschäften
beteiligt. So soll er einmal dem Selbstschutz Waffen angeboten haben, die er durch
Bestechung von Beamten der Reichstreuhandgesellschaft erlangt haben soll.35 Aber
offenbar war an solchen Waffengeschäften nicht Herrmann allein, sondern die
Wachgesellschaft insgesamt beteiligt. Fest steht ferner, dass Herrmann kurz vor seinem
Tod der Arbeitsgemeinschaft eine größere Summe zwecks Pachtung einer Gärtnerei zur
Verfügung stellen sollte, was Herrmann jedoch verweigerte.36
Für die Behauptung, dass Herrmann zu „den Polen“ Kontakte gepflegt habe, fanden
die Kriminalbeamten keine konkreten Anhaltspunkte.37 Herrmann stand der
Organisation Roßbach nahe und galt als sehr „national“. Vor allem hasste er die Juden.
Wiederholt bekundete er öffentlich, „die Juden müssten tot geschlagen werden“.38
Herrmann war aber auch eitel und prahlerisch. Er ließ sich eine Leutnantuniform
anfertigen, obwohl er nie Soldat gewesen war, behing sich mit Schmuck und nannte
sich „Direktor“ der Wachgesellschaft.39 Auch sonst galt sein Lebenswandel als
unsolide. Oft trank er mehr, als er vertrug, und wenn er so richtig in Stimmung war,
sang er „stets sein Lieblingslied vom Selbstschutz und Stahlhelm“ und rühmte sich
allerlei Beziehungen.40 Seine Ehefrau Anna Herrmann bezeichnete ihn dagegen als
„schwächlich“; er neige oft zu Ohnmachtsanfällen.41
Ansonsten war die Ehe der Herrmanns alles andere als glücklich. Er schlug seine
Ehefrau, auch in der Öffentlichkeit, und zumindest einmal würgte er sie derartig, dass
andere Personen ihr zu Hilfe eilen mussten. Bekannt war zudem Herrmanns Umgang
„mit übel beleumdeten Frauenpersonen“.42 Eine Reihe von Zeugen bezeichnete
Herrmann hingegen als „Weiberfeind“, der nur gelegentlich mit Frauen verkehrte,
ansonsten aber homosexuell gewesen sei.43 Jedenfalls wurde Herrmann wiederholt in
einschlägigen Lokalen der „Breslauer Lebewelt“ gesehen.44
Die Ehefrau wiederum soll ein Verhältnis mit Otto Gebauer und – wie verschiedene
Zeugen bekundeten – mit Andreas Mayer gehabt haben. Jedenfalls wurde Mayer
wiederholt „Arm in Arm“ mit der Ehefrau Herrmanns gesehen.45 Andere Zeugen
dagegen hielten ein Verhältnis für sehr unwahrscheinlich, denn Mayer galt ebenfalls als
homosexuell und „Weiberfeind“.46
Aufgrund dieser persönlichen Verstrickungen kamen den Kriminalbeamten Zweifel
an den politischen Motiven der Tat: „Ob der Mord aus politischen Gründen erfolgt und
auf eine Art geheime Fehme zurückzuführen ist oder ob […] Mayer und Gebauer sich
um die Gunst der Frau des Herrmann bemühten und Mayer seine Angestellten unter
Vorspiegelung politischer Verfehlungen Herrmanns veranlaßte, den Herrmann zu
beseitigen, wodurch er gleichzeitig seinen Nebenbuhler unschädlich zu machen glaubte,
ist zur Zeit Gegenstand der Ermittlungen.“47 Diese Zweifel wurden noch verstärkt, als
die Ermittlungen ergaben, dass Mayer sich damals in Geldschwierigkeiten befunden
und deshalb dem Herrmann wertvolle Ringe verkauft habe, die diesem dann in der
Mordnacht gestohlen worden waren.48
So ergaben die Ermittlungen gleich ein ganzes Bündel an Motiven für den Mord an
Herrmann. Die Frage, ob er aus persönlichen oder politischen Gründen getötet wurde,
konnte letztlich nicht geklärt werden.49 Die Staatsanwaltschaft beantragte gegen die vier
Angeklagten die Todesstrafe wegen Mordes, die Verteidigung hielt dagegen, dass die
Angeklagten wegen ihres „nationalen Idealismus“ durchweg milde Strafen verdienten.50
Das Schwurgericht Breslau verurteilte die Angeklagten am 13. Oktober 1924 nicht
wegen Mordes, sondern wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu fünf- bis
siebenjährigen Freiheitsstrafen, die aber durch Beschluss der VI. Ferienkammer des
Landgerichts in Breslau vom 15. August 1928 mit der Begründung aufgehoben wurden,
dass das Reichsgesetz über Straffreiheit vom 14. Juli 1928 auch auf Oberleutnant a. D.
Mayer und die übrigen Verurteilten Anwendung finde, wodurch die politische
Motivation der Tat anerkannt wurde.51
In einen der Fememorde war kein Geringerer als der spätere Oberste SA-Führer
Pfeffer von Salomon verwickelt. Es handelte sich um den Mord an dem Leutnant
Alfons Hentschel. Das 8-Uhr-Abendblatt schrieb hierzu: „Leutnant Hentschel war
Zugführer in der Kompanie des Hauptmann v. Mauritz, der auch unter dem Namen
Pfeffer und Schmidt in den putschistischen Verbänden des Baltikums tätig war. Er
verkehrte viel mit dem Leutnant Fischer, der eines Tages in den Verdacht geriet,
kommunistischer Spitzel zu sein. Fischer verschwand eines Tages, und Hentschel
bekam den Befehl, Oberschlesien zu verlassen. Er ging nach Breslau und soll hier eine
Unterredung mit dem Zigarrenhändler Herrmann gehabt haben, der später vergiftet
wurde. […] Hentschel kam nach Oberschlesien zurück und wurde auch wieder in das
Freikorps aufgenommen. […] Eines Tages nun hörte der etatmäßige Feldwebel dieses
Freikorps, ein gewisser Wagner, wie der angebliche Hauptmann v. Mauritz und ein
Oberleutnant Link sich über Hentschel unterhielten und Mauritz äußerte: ‚Dieser
Hentschel kann uns gefährlich werden.‘ Am Tage darauf forderte Oberleutnant Link
Hentschel zu einem Patrouillengang auf. Sie waren erst einige Schritte in ein Kornfeld
dicht beim Gute gegangen, als mehrere Schüsse fielen und Link mit dem Ruf
‚Hentschel ist von den Polen erschossen worden‘ zurückkam.“52
Der erwähnte Wagner schilderte später dem Volksblatt weitere Details: Er habe sich
in Breslau zur Verteidigung Oberschlesiens gemeldet und sei zunächst dem Freikorps
Roßbach zugeteilt worden, später aber in die Formation v. Mauritz übergewechselt, in
der sich auch Oberleutnant Link befand.
„Diesem teilte ich mit, daß ich Herrn v. Mauritz vom Baltikum aus kenne. Jedenfalls
ließ mich v. Mauritz am nächsten Tage kommen und fragte mich, wo ich ihn im
Kurland gesehen habe. Jetzt kam mir zu Bewußtsein, daß er in Wirklichkeit Hauptmann
Pfeffer war. Er verbot mir, anderen Leuten seinen wirklichen Namen zu nennen.“ Kurz
darauf sei er von Herrn v. Mauritz alias Pfeffer verhaftet und zur Schreibstube gebracht
worden. „Auch ich“, so Wagner weiter, „sollte ihm sehr verdächtig sein. Am Abend
entließ man mich aber und verfolgte mich bis zum Quartier. Ich wohnte mit Henschel
zusammen. Ich erzählte ihm alles, und wir beschlossen, am nächsten Tage
Oberschlesien zu verlassen. Kommenden Tages begaben wir uns zum Herrn v. Mauritz
und kündigten. Mauritz versuchte, uns mit seiner ganzen Redekraft zum Bleiben zu
bewegen. Er versprach mir, die Dienste weiter machen zu lassen. Ich jedoch fuhr mit
dem Mittagszug nach Breslau. Henschel blieb dort. Link verfolgte mich bis zum
Bahnhof. Am selben Abend wurde Leutnant Henschel erschossen. Dieses erfuhr ich
einen Tag später. […] Es hieß einfach, Henschel wäre von den Polen erschossen
worden. Das ist gänzlich ausgeschlossen, da die Front zehn Kilometer entfernt war. […]
Henschel erhielt fünf Schüsse. Drei davon am Hinterkopf, der durch die Stichflamme
vollständig verbrannte. Hauptmann v. Mauritz verschwand mit seinen
Anhängern. […]
Heute behaupte ich mit Bestimmtheit, dass er von Link erschossen worden ist. […]
Als Zeugen könnte ich ungefähr 50 Mann aufbringen. Erwähnen möchte ich noch, dass
Henschel vor dem Tode zu seinen Anhängern sagte, dass er seines Lebens nicht mehr
sicher ist.“53
Pfeffer von Salomon äußerte sich später im Völkischen Beobachter zu den
Vorwürfen. Zunächst schilderte er, wie schwer damals der „schlesische Freiheitskampf“
gewesen sei: „Denn Juda war dort allmächtig. Der ungekrönte König war Herr Loebe,
Breslau, Reichstagspräsident. Der militärische Oberbefehlshaber Höfer war von einem
parlamentarischen deutschfeindlichen Beirat abhängig, der zu zwei Drittel aus Juden
und zu einem Drittel aus Zentrumsbonzen bestand. Das gesamte Verpflegungsgeschäft
machte ein Jude. […] Vor sich hatte man die weit übermächtigen Polen, im Rücken
Severing mit Polizei und Schupo, zwischen der Bevölkerung ungezählte Polenverräter
und Severingsche Geheimagenten und Lockspitzel, über dem ganzen schwebte der
famose Joseph Wirth als Reichskanzler, Braun als Ministerpräsident, Ebert als
Reichspräsident. So schwer war der schlesische Freiheitskampf.“
Von einer „Judenfirma“ sei ihm schließlich „eine militärisch unmögliche
Betrügerbande“ ehemaliger Arbeitsloser zugeschoben worden. „Man hatte der Bande,
ich glaube es waren 100–200 Mann, zum Schein ein paar Offiziere beigegeben: Ein
Rittmeister von Heydebrand und der Lasa, der froh war, sich bei meiner
Kommandoübernahme aus der Affäre ziehen und verschwinden zu können. Ein
Kavallerie-Reserveleutnant, ein unfähiger, haltloser Trinker, den ich bald abschob. Als
dritter der bewußte Infanterie-Leutnant Hentschel.“ Hentschel sei von allen noch der
Fähigste gewesen, deshalb habe er auch dessen Tod außerordentlich bedauert. Die
feindliche Propaganda habe dann allerlei unsinnige Gerüchte verbreitet, z. B. dass
Hentschel von den eigenen Leuten erschossen worden sei, weil man ihn fälschlich für
einen Polen hielt. Er – Pfeffer von Salomon – sei jedenfalls für dessen Tod nicht
verantwortlich.54
Ein Ermittlungsverfahren war von der Oberstaatsanwaltschaft in Oppeln 1927
eingeleitet worden, wobei die Ermittlungen bestätigten, dass bald nach dem Tode
Hentschels das Gerücht aufgetreten sei, Hentschel sei von den eigenen Leuten
erschossen worden. „Der verantwortlich vernommene Hauptmann a. D. Pfeffer von
Salomon bestreitet, einen Befehl zum Erschießen Hentschels erteilt zu haben. […]
Einen Leutnant Link will er nicht gekannt haben.“55
Der Zeuge Wagner, der Pfeffer von Salomon schwer belastet hatte, konnte nicht
ermittelt werden, da er sich „umhertrieb“.56 Auch andere Zeugen wurden erfolglos
gesucht, so dass schließlich das Verfahren eingestellt wurde.
„Ein zur Erhebung der öffentlichen Klage“, so wurde festgestellt, „hinreichender
Tatverdacht besteht weder gegen den Beschuldigten Pfeffer von Salomon, noch gegen
den nicht ermittelten Oberleutnant Linck, noch gegen eine andere bestimmte Person.
Im Übrigen würde, selbst wenn man unterstellt, dass Hentschel nicht im Kampf
gefallen, sondern in der behaupteten Weise erschossen worden ist, zugunsten der Täter,
wie im Zweifel bei allen mit dem Aufstande in Zusammenhang stehenden Handlungen,
so auch hier anzunehmen sein, dass die Tat aus politischen oder überwiegend aus
politischen Gründen begangen ist, so dass Art. I § 1 des deutsch-polnischen
Amnestievertrages vom 21. 6. 1922 Anwendung finden würde.“57 So blieb auch der
Tod des Leutnants Hentschel unaufgeklärt.
Ein anderer Mord ereignete sich in Plinkenau. Der etwa 38 Jahre alte Sigulla war mit
seinem Fahrrad aus seinem Heimatort im Kreis Oppeln nach Plinkenau in
Oberschlesien gefahren. Dort zechte er mit einigen Roßbachern in der Wirtschaft.
Plötzlich kam das Gerücht auf, der Fremde sei ein entlaufener Roßbacher und
polnischer Spitzel. Die misstrauisch Gewordenen unterrichteten einen bayerischen
Leutnant, der „Seppl“ genannt wurde und die Kommandogewalt ausübte, ohne offiziell
dazu bestimmt zu sein. „Seppl“ war damals 23 Jahre alt und gehörte dem Freikorps
Oberland an. Er kam sofort in die Wirtschaft und brachte Sigulla in den Wald. Spät am
Abend kehrte er zurück und forderte die Roßbacher auf, „das Maul zu halten“. Wer es
auftun würde, „dem würde es dreckig gehen“. Dabei spielte er mit seinem Stoßmesser.
Später fiel auf, dass „Seppl“ viel Geld hatte und im Besitz eines Fahrrads war. Die
Leiche des Sigulla wurde sieben Tage später im Wald gefunden, seine Kehle war mit
einem Dolch von hinten nach vorn durchschnitten. „Seppl“ wurde verhaftet, als die
Ententetruppen Ende 1921 sich zurückzogen, aber wieder aus der Haft entlassen.
Seitdem lebte er unbehelligt in Plinkenau.58
Zuweilen gab es einen fließenden Übergang von politischen zu gemeinen Morden.
So verübten zwei Angehörige der Selbstschutzformation, Felix Kaczmaryk und Johann
Hauke aus Mislowitz, zusammen mit einem Dritten unter dem Deckmantel der
Formation Raubüberfälle und Einbrüche. Als der Mitwisser ihnen unbequem wurde,
ermordeten sie ihn und plünderten die Leiche.59
Fememorde kamen in fast allen Freikorps in Oberschlesien vor, aber eine
Organisation hatte sich geradezu auf die Liquidation von „Verrätern“ spezialsiert: die so
genannte deutsche Spezialpolizei unter Heinz Oskar Hauenstein.
Die „deutsche Spezialpolizei“ war eine Geheimorganisation, die, versehen mit
gefälschten Pässen und geheimen Waffenlagern, einen „Krieg im Dunkeln“ gegen
Polen, Franzosen und „deutsche Verräter“ führte, der – wie v. Oertzen dies ausdrückte –
„zum mindesten in der deutschen Geschichte seinesgleichen wohl kaum je gehabt hat.
[…] Das Geld mußte ihnen genau so locker sitzen wie der Revolver. Denn eine
übertrieben große Auswahl an Menschen stand diesen Männern nicht zur Verfügung.
Wer kam, seinen Revolver zu benutzen verstand und vor keiner Gefahr zurückscheute,
war willkommen“.60
Wie dieser „Krieg im Dunkeln“ konkret aussah, belegen die Akten: „Hauenstein gibt
an, daß die Beseitigungsbefehle der Spezialpolizei unwiderruflich ausgeführt wurden
und zwar 2–3 Tage nach dem Datum des veröffentlichten Befehls.“61 Dabei behauptete
er, im Einvernehmen und im Einverständnis mit dem zuständigen Staatskommissar für
Oberschlesien, dem Zentrumspolitiker Dr. Karl Spiecker, gehandelt zu haben.62
Beim Oberpräsidium in Breslau war eine besondere Stelle des preußischen
Staatskommissars zur Überwachung der öffentlichen Ordnung, Dr. Weismann,
eingerichtet worden, die unter der Leitung des damaligen Regierungsrates Dr. Spiecker
stand. Ihm war zur Erledigung von Nachrichtenaufträgen der frühere Leutnant Hobus
zugeteilt. Dieser gab seine Befehle an Hauenstein. Dazu Hauenstein: „Ich habe alle
Terrorakte und Abwehrmaßnahmen mit ihm durchgesprochen. […] Er sagte zu mir: ‚Da
und dort ist der und der, er hat dies und das gemacht. Wir haben das genau festgestellt.
Er ist zu beseitigen!‘ Dann beauftragte ich einen meiner Stoßtrupps mit der Beseitigung
dieses Mannes und er wurde unter Anwendung aller Mittel, entweder mit Gift oder
Bomben oder Granaten auf irgendeine Weise beseitigt.“63 Den Getöteten seien die
Papiere abgenommen und an das Preußische Staatskommissariat für öffentliche
Ordnung weitergeleitet worden. Regierungsrat Dr. Spiecker widersprach jedoch diesen
Behauptungen stets mit aller Entschiedenheit.64
Im Jahr 1928 wurde im Heines-Prozess65 der gesamte oberschlesische Femekomplex
noch einmal ausführlich erörtert. Die Verteidiger Heines’, denen namhafte
Strafverteidiger wie Prof. Dr. Friedrich Grimm und der Sohn des bekannten Baltikum-
Generals, Rüdiger Graf von der Goltz, angehörten, suchten den Nachweis zu erbringen,
dass zwischen den oberschlesischen Tötungen, die amnestiert wurden, und der Tat
Heines’ prinzipiell kein Unterschied bestehe. Sie beantragten, als Zeugen Oberleutnant
a. D. Gerhard Roßbach und den früheren Leiter der Spezialpolizei Heinz Oskar
Hauenstein zu laden. Der Vorsitzende Richter fragte Hauenstein, ob er wisse, wie viele
Menschen damals in Oberschlesien von seiner Organisation getötet wurden. Hauenstein
antwortete: „Die genaue Zahl kann ich nicht angeben. Aber ich habe mir einen kleinen
Überschlag gemacht, und bin auf die Zahl 200 gekommen.“66 Hauenstein war zu der
Zeit, als er diese Arbeit leistete, 21 Jahre alt.
Im Prozess kam es zu einer erneuten Konfrontation zwischen dem ehemaligen
Ministerialdirektor Dr. Spiecker und Hauenstein. Dr. Spiecker erklärte: „In
Oberschlesien ist mit Wissen und Willen der Regierung kein Mord ausgeübt worden.
[…] Nun ist hier weiter gesagt worden, daß Befehle zum Umlegen ausdrücklich von
mir erteilt worden seien. Ich war dazu gar nicht in der Lage, den militärischen Stellen
solche zu geben. Mir ist auch niemals über die Durchführung irgendeines militärischen
Befehls Bericht erstattet worden.“67 Hierauf folgte eine Gegenüberstellung mit
Hauenstein.
„Vorsitzender: Hauenstein, Sie haben bekundet, Sie seien Vollstrecker von Befehlen
gewesen, die darauf hinausgingen, Missetäter zu beseitigen.
Hauenstein: Jawohl, auch Verräter. Ferner bekam ich Befehle über Verhaftungen,
Wiederbeschaffung von Akten usw.
Vorsitzender: Von wem haben Sie diese Vollstreckungsaufträge erhalten?
Hauenstein: Von Dr. Hobus mit dem ausdrücklichen Zusatz, daß diese Aufträge von
allen zuständigen Stellen gebilligt würden. Schriftliche Berichte darüber, Akten usw.
mußte ich an Hobus abliefern. Hobus behauptete, diese Berichte und Akten gingen dann
an das Staatskommissariat. […] Ich kann mich nur daran halten, daß mir von meinem
Vorgesetzten gesagt wurde, der Staatskommissar sei der Auftraggeber, und daß ich
persönlich auch in Verbindung mit dem Staatskommissariat stand.“
Daraufhin meldete sich Rechtsanwalt Bloch zu Wort: „Ich habe hier einen Auftrag,
wonach ein gewisser Christ in ‚zweckentsprechende Behandlung‘ genommen werden
sollte. Die einzigen Unterlagen für diese Behandlung, die natürlich in den Tod mündete,
war ein Blatt Papier, ein Wisch, auf welchem lediglich die Aussage eines gewissen
Jegor Urbanczyk aus Rybnik verzeichnet steht. Nach dieser Aussage soll der Christ
geäußert haben: Ich bin ganz genau darüber unterrichtet, daß das Geld für unsere
Organisation nicht an die zuständigen Stellen kommt. Es ist genug Geld da, nur wir
bekommen es nicht. Es bleibt oben, damit die oberen Vorgesetzten gut leben können.“68
Hobus habe Christ in die „zweckentsprechende Behandlung“ genommen, die Leiche
wurde später mit durchschossenem Kopf gefunden.69
Darauf Dr. Spiecker: „Wenn solche Dinge vorgekommen sind, sind sie skandalös in
schlimmster Art. Es handelt sich hier um einen Mann, der schon im unbesetzten Gebiet
war, der selbstverständlich den ordentlichen Gerichten vorgeführt werden mußte. Dieser
Mann ist ermordet worden.“ Eines Tages sei Hobus in seinem Büro erschienen und
habe ihm ein Ausweispapier überreicht. „Ich frage: Was ist das? Er antwortet: Das ist
der Mann in Kreuzberg. Spiecker: Wie sind Sie dazu gekommen? – Den Mann haben
wir umgelegt. – Spiecker: Ich habe daraufhin Herrn Hobus sofort gesagt: Von heute ab
ist Ihre Abteilung aufgelöst. Sie bekommen nicht einen Pfennig mehr, und was hier
geschehen ist, ist ein Mord, und ein stumpfsinniger Mord überdies.“
Rechtsanwalt Bloch fragte den Zeugen Dr. Spiecker, von wem die Aufträge an
Hobus erteilt worden seien. „Spiecker: Ich kann mir nicht denken, daß die militärische
Leitung die Befehle an Hobus gekannt und gedeckt hat, denn das würde einen offenen
Widerspruch zu dem gebildet haben, was mit der politischen Leitung verabredet worden
war.
Rechtsanwalt Bloch: Danach würden also Hauenstein und Hobus als die alleinigen
Häupter der Mafia hingestellt werden. Entweder handelte Hobus selbständig, dann war
er ein vielfacher Mörder, oder er ressortierte von einer Reichstelle, dann war er straflos.
Spiecker: Ich kann mir überhaupt nicht denken, daß hier klare Befehle erteilt worden
sind, denn die Dinge, die sich ereignet haben, sind so ungeheuerlich, daß doch irgend
jemand hätte sagen müssen, diese Stelle ist meschugge, ist wahnsinnig. […] Ich kann
mir die ganze Sache nicht anders denken, als daß zwischen den Kommandostellen und
Hobus irgendwo ein Vakuum war, eine Stelle, die wahnsinnig gewesen ist.“70
Der Prozess erreichte einen Punkt höchster politischer Spannung, als bekannt wurde,
dass Hobus, angeblicher Doktor oder Leutnant, von dem es hieß, er sei unauffindbar –
„auf Reisen abgemeldet“ oder verschollen –, doch noch als Angestellter einer
mitteldeutschen Brauerei gefunden wurde. Hatte Hobus die Mordbefehle an Hauenstein
auf eigene Faust oder mit Wissen und im Auftrag des Dr. Spiecker gegeben? Der
Prozess nahm eine überraschende Wendung. Der Vorsitzende Richter appellierte an die
Verteidiger, nunmehr auf weitere oberschlesische Zeugen, also auch auf Hobus, zu
verzichten. Große Pause, die Verteidigung erklärte sich nach eingehender Beratung mit
dem ausdrücklichen Wunsch des Vorsitzenden einverstanden. Sollte damit verhindert
werden, dass gegen Beamte und Offiziere, die in die oberschlesischen Morde verstrickt
waren, vorgegangen wurde? Ein Verfahren gegen Spiecker wegen Anstiftung zum
Mord, eingeleitet aufgrund einer Anzeige, wurde von der Oberstaatsanwaltschaft
Breslau am 4. September 1929 eingestellt.71
Wenn auch das meiste im Dunkeln blieb, steht zumindest Folgendes fest: Hauenstein
gab an, dass seine Organisation „ungefähr“ 200 Menschen in Oberschlesien
getötet habe. Den Auftrag dazu will er von seinem „Vorgesetzten“ erhalten haben,
jenem ominösen Dr. Hobus. Dieser habe ihm gesagt, die „zuständigen“ Stellen billigten
die Taten, der Staatskommissar sei der Auftraggeber. Also nahm Hauenstein an, dass
auch er persönlich mit dem Staatskommissariat in Verbindung stehe. Dr. Hobus war
dann erst einmal verschwunden. Der zuständige Staatskommissar mochte aber von
solchen Aufträgen nichts wissen. Er bezeichnete die Tötung des Aufsehers Peter Christ
als stumpfsinnigen Mord. Das Ganze sei so ungeheuerlich, dass die Stelle, die solche
Aufträge erteilt habe, nur als „wahnsinnig“ bezeichnet werden könne. Wer aber hat nun
die Aufträge für die Taten gegeben? Haben Hobus und Hauenstein eigenmächtig eine
Vielzahl von Menschen umgebracht? Waren deren Aussagen, die Morde seien im
Auftrag der „zuständigen“ Stellen erfolgt, reine Schutzbehauptungen? Fest steht
jedenfalls, dass Dr. Spiecker von dem Mord an Christ erfahren hat. Danach will er
Hobus’ Abteilung aufgelöst und ihm keinen Pfennig mehr zur Verfügung gestellt
haben. Wenn diese Aussage den Tatsachen entsprach, bedeutete das aber auch, dass bis
dahin diese Abteilung ziemlich ungestört arbeiten konnte, dass sie Geld bekam, ohne
kontrolliert zu werden. In diesem Fall hat zumindest Dr. Spiecker äußerst fahrlässig
gehandelt. Insgesamt bleibt sein Verhalten undurchsichtig und widersprüchlich.
Wie die „zweckentsprechende Behandlung“ in Oberschlesien konkret aussah,
schilderten am 30. April 1928 in der Welt am Abend die Söhne von Josef Nowak, der
1921 wegen Spionageverdachts ermordet worden war. Am 4. Juni 1921 erschien der
Gendarmeriewachtmeister Schweighart aus St. Annaberg mit acht Angehörigen des so
genannten Selbstschutzes:
„Der Gendarm erklärte im Beisein unserer Angehörigen, daß er den Befehl erhalten
habe, unseren Vater wegen Spionageverdachts zugunsten der polnischen
Aufständischen zu verhaften. Wir wissen ebenso wie alle Einwohner des Dorfes, daß
unser Vater unschuldig war, da er sich als alter Mann um Politik überhaupt nicht
kümmerte und erst recht nicht daran dachte, für Polen Spionagedienste zu leisten. Er hat
sich lediglich wiederholt dahin geäußert, daß der gegenseitige Brudermord in
Oberschlesien sinnlos wäre, da das Volk sowieso verraten und verkauft sei. Man könne
das gegenseitige Morden unmöglich als einen Kampf um die Freiheit bezeichnen.
Um Mitternacht des 4. Juni wurde er plötzlich von sogenannten Grenzschutzsoldaten,
die mit ihren blutunterlaufenen Augen wie die Bestien aussahen, aus dem Bett geholt
und wie ein Tier durch das Dorf getrieben, wobei die Soldaten fortgesetzt mit
Seitengewehren und Gewehrkolben auf ihn einschlugen. Mit ihm wurden zugleich
verhaftet Ignaz Kwittek und Ignaz Kwiotek aus St. Annaberg und Anton Wojciedowski
aus Wyssoka. Was nun begann, war so grausam, daß uns heute noch die Tränen in die
Augen treten, wenn wir daran denken. Bei St. Annaberg befindet sich ein
Basalsteinbruch, der eine offene Grube von etwa 50 Meter Tiefe hat. Hierher wurden
die vier Opfer der Femebestien geschleppt. Sie kamen halbtot an, waren unterwegs
infolge der entsetzlichen Mißhandlungen wiederholt zusammengebrochen, bis sie
schließlich nicht mehr weiter kamen. Man packte sie daher an den Beinen und schleppte
sie wie Schleifholz die Erde entlang nach dem Steinbruch. Hier wurden die vier Männer
vollends totgeschlagen. Im Blutrausch gaben die toll gewordenen Bestien noch auf die
toten Körper soviel Schüsse ab, wie in ihren Mehrladepistolen vorhanden waren. […]
Erst am 8. Juni, also vier Tage später, fanden die Angehörigen Gelegenheit, nach den
Toten suchen zu können. Am Abhange des Steinbruchs fanden sie eine Brille, die dem
ermordeten Kwiotek gehörte. Sie stiegen nunmehr in die Tiefe hinab. Aus Schutt und
Geröll ragte ein Bein hervor. Mit bloßen Händen scharrten die armen Angehörigen nun
die Toten aus. Unsere Großmutter, die mit zugegen war, brach vor Schreck ohnmächtig
zusammen und ist durch den Anblick, der sich den Suchenden darbot, geistesgestört
geworden. Die Köpfe waren von Seitengewehren zerhackt wie faulige Kohlrüben. Jeder
Kopf war fünf- bis sechsmal gespalten. Augen und das Gehirn quollen aus den
zerfetzten Knochen heraus. An dem Körper unseres Vaters wurden nicht weniger als
vier Bauchschüsse, zwei Brustschüsse und 73 Bajonett- oder Messerstiche gezählt. Bei
Kwittek waren es ungefähr genau soviel. Die Leichen Kwioteks und Anton
Wojciedowskis waren überhaupt nicht wiederzuerkennen. Aus ihren Körpern war
stellenweise das Fleisch von den Knochen herausgehauen worden.“72
Dies sind die bekannt gewordenen Mordtaten. Auch wenn von ihnen nicht auf alle
der in Oberschlesien begangenen Tötungen geschlossen werden kann, so vermitteln sie
doch einen nachhaltigen Eindruck über die Verbrechen. Die gerichtlich ermittelten
Ergebnisse stehen in Widerspruch zu den Aussagen Glombowskis und von Oertzens.
Die Behauptung, dass nur ganz selten Unschuldige „vom Leben zum Tode befördert“
worden seien, ist nach den vorliegenden Unterlagen umgekehrt richtig: Es waren in der
Regel Unschuldige, die ermordet wurden. Lediglich Kurt Herrmann war allem
Anschein nach in dubiose Geld- und Waffengeschäfte verwickelt. Hierin unterschied er
sich aber nicht von den Tätern. Für die Behauptung, er habe mit den Polen in
Verbindung gestanden, ließen sich nicht die geringsten Hinweise finden. Das heißt
natürlich nicht, dass dann die Hinrichtung gerechtfertigt gewesen wäre. Es wirft aber
ein bezeichnendes Licht auf die Mentalität derartiger Organisationen, wenn einzelne
Mitglieder aufgrund willkürlicher Vorwürfe ermordet wurden. Gerade der Fall
Herrmann offenbarte ein ganzes Bündel persönlicher Motive und Verstrickungen für
den Mord.
Was hatte Alfons Hentschel verbrochen? Ähnlich wie Herrmann wusste er offenbar
zu viel von bestimmten Vorgängen innerhalb der Organisationen. Der Zeuge Wagner
behauptete, dass Hentschel seinem Vorgesetzten – dem Hauptmann Pfeffer v. Salomon
– hätte unbequem werden können, weil er von dessem Vorleben zu viel wusste. Auch
hier haben sich nicht die geringsten Hinweise dafür finden lassen, dass Hentschel mit
den Polen in Verbindung gestanden haben könnte.
Peter Christ wurde in die „zweckentsprechende Behandlung“ genommen, die
„natürlich“ mit dem Tode endete, weil er sich darüber beschwert haben soll, dass das
Geld für die Organisation oben bei den Vorgesetzten bleibe. Grundlage für sein
Todesurteil waren vage Anschuldigungen. Warum Fritz Köhler sterben musste, blieb
völlig undurchsichtig. Wegen „Spionageverdacht“ wurde Josef Nowak ermordet. Dabei
soll er lediglich wiederholt geäußert haben, dass der „gegenseitige Brudermord in
Oberschlesien sinnlos“ sei und nicht als Kampf um die Freiheit bezeichnet werden
könne. Die Willkür wurde besonders bei den von der so genannten Spezialpolizei
vorgenommenen Hinrichtungen deutlich. Hauenstein will irgendwelche „Befehle“
erhalten haben, und schon trat einer seiner Stoßtrupps in Aktion. Der Beschuldigte
wurde „unter Anwendung aller Mittel, entweder mit Gift oder Bomben oder Granaten
auf irgendeine Weise beseitigt“.
Es bleibt festzuhalten, dass alle Mordtaten, über die Angaben gemacht werden
können, völlig willkürlich und aufgrund vager Verdächtigungen erfolgten. Die Opfer
hatten nicht die geringsten Möglichkeiten, sich gegen die erhobenen Beschuldigungen
zu verteidigen. Damit war der Selbstjustiz Tür und Tor geöffnet. Offenbar wurden in
Oberschlesien unter dem Deckmantel der „Vaterlandsverteidigung“ allerlei dunkle
Geschäfte betrieben und persönliche Rechnungen beglichen. Es herrschte ein quasi
rechtsfreier Raum, der allerlei fragwürdige Elemente anzog. Gewiss gab es auch junge
Männer, die aus „nationalem Idealismus“ nach Oberschlesien zogen, der hohe Anteil
zwielichtiger Personen ist aber ebenso wenig zu übersehen wie das über weite Strecken
kriminelle Milieu derartiger Verbände.