Leon (6) in Tiroler Ache ertrunken
30.07.2024 um 12:52
Hallo miteinander!
Bin bereits lange Zeit im Forum als stiller Mitleser aktiv, vorrangig zu Kriminalfällen aus Österreich, wo ich auch lebe. Da es hier kaum brauchbare True Crime Formate in den Medien gibt (den Kurier-Podcast und die ATV-Serie halte ich leider für sehr schlecht und gar reisserisch gemacht, im ORF gibt es nur sehr vereinzelt Sendungen, die dafür qualitativer gestaltet sind), bin ich dankbar, hier immer wieder spannende Ergänzungen zu finden.
Ich habe es bisher nicht für angebracht gehalten, selbst aktiv etwas beizutragen, grundsätzlich da die Nation wohl nicht noch einen weiteren Bundestrainer braucht, der alles besser zu wissen meint, und mir persönliche Laien-Urteile bei Sachverhalten, wo es um höchstpersönliche Lebensbereiche und Schicksale geht, wo durchaus auch Angehörige mitlesen, die ohnehin schon eine persönliche Hölle durchmachen, tendenziell höchst unangebracht scheinen.
Dieser konkrete Fall hat in Österreich von Anfang an sehr viel mediale Berichterstattung erfahren und beschäftigt mich seit jeher. Ich habe mir in den letzten Tagen mal alle Seiten seit Prozessbeginn durchgelesen und denke, nun doch etwas hinzufügen zu wollen. Ich möchte das mit der höchstmöglichen Sachlichkeit und Pietät versuchen, und bitte um Verzeihung und gerne auch Korrektur, sollte mir das womöglich an bestimmten Stellen nicht gelingen.
Zum juristischen Sachverhalt an sich muss ich festhalten, dass ich über keine juristische Ausbildung oder Praxis verfüge, und auch nur widergeben kann, was ich mir als True-Crime-Interessierter bisher so zusammengereimt habe - Expertise schaut sicher anders aus. Was mir bei vielen Beiträgen bisher aber eher falsch verstanden vorkommt, ist die Diskussion rund um den Zweifel. Es mag sein, dass sich die deutsche und österreichische Rechtssprechung da unterscheiden, aber gerade in Österreich habe ich schon oft genug (Indizien-)Prozesse und Urteile beobachtet, bei denen auch nach der Beweisaufnahme nicht alle Umstände restlos geklärt waren, ich erinner mich z.B. an den letztlich als solchen verurteilten Mord an einer Tanzlehrerin in Gmunden. Bei diesen Urteilen war letzten Endes nicht ausschlaggebend, dass es noch irgendwelche alternativen Möglichkeiten gegeben hätte, sondern, dass das Gericht keinerlei ihrer Ansicht nach berechtigten Zweifel hat, dass der Sachverhalt sich wie angeklagt verhalten hat. Es geht da also so wie ich das sehe nicht darum, jegliche alternative Möglichkeit gänzlich auszuschließen, sondern darum, dass das Gericht von der Plausibilität einer Variante überzeugt ist, und sich nicht vorstellen kann, dass es sich anders zugetragen haben könnte. Mag man als Bürger nun gut finden oder nicht, so scheint mir jedenfalls die Sachlage.
Dass die Verteidigung sich da an jedwelchen Strohhalm festklammert, um an der Plausibilität des angeklagten Sachverhalts zu rütteln, ist dahingehend vollkommen verständlich und wahrscheinlich die beste oder gar einzig erfolgsversprechende Strategie. Ob das oder inwieweit das nun moralisch vertretbar scheint oder nicht, ist eine Diskussion, die vollkommen überflüssig ist - in der Rechtsstaatlichkeit hat nunmal jede:r Angeklagte das Recht, sich zu verteidigen, das ist meiner Meinung nach gut und richtig, und diese Verteidigung hat wiederum das Recht, alles zu tun, was der Verteidigung zugunsten kommt.
Was hier bisher seitenweise an Zweifeln oder alternativen Erzählungen diskutiert wurde, in einem Ausmaß und einer Intensität, wo andere User meiner Meinung nach richtig anmerken, mit sowas wäre noch nicht mal die Verteidigung aufgefahren, halte ich schon stellenweise für sehr absurd. Beispielsweise mag ich hier den Zigarettenstummel mit der DNA eines amtsbekannten Suchtkranken nochmal auflesen. Dass der vermeintliche Tatort dermaßen detailliert untersucht, der Zigarettenstummel mitgenommen und die DNA festgestellt wurde, und es eine Einvernahme der Trefferperson gegeben hat, spricht für mich mal für eine ziemlich detaillierte und organisierte Ermittlungsarbeit (und das sage ich als jemand, der dem Polizeiapparat höchst kritisch gegenübersteht). Die Einvernahme scheint keinen weiteren Tatverdacht erbracht zu haben, warum wissen wir aus der medialen Rezeption nicht und geht uns auch nichts an, genauso wie die Handydaten dieser Person. Zu der Einvernahme wird es Protokolle geben, und ich denke, diese wären dem Gericht bei Bedarf zugänglich?
Die Idee, dass diese Person etwas mit dem Fall zu tun hat, ist eben schon sehr an den Haaren herbeigezogen. Ich habe nur drauf gewartet, dass irgendjemand vielleicht noch Aliens mit ins Spiel bringt, und war amüsiert und dankbar, dass User Rick_Blaine das auf Seite 177 dann tatsächlich in angemessen sarkastischer Weise getan hat.
Dass das eben für die Verteidigung ein gefundenes Fressen ist, fair enough. Dass das hier im Forum noch großartig diskutiert wird oder gar von einem, Zitat, "Justizskandal" gesprochen wird, das halte ich für höchst bedenklich. Der Suchtkranke ist ein Bürger wie jeder andere auch, für ihn gelten dieselben Rechte, und er ist, solange wir nichts anderes wissen, genauso verdächtig oder unverdächtig wie jeder andere. Dass marginalisierte Gruppen wie Suchtkranke oder gerne auch Ausländer:innen schnell mal als Sündenbock bemüht werden, um aus strategischen Motiven Narrative und Emotionen zu schaffen, und dafür ein leichtes Opfer sind, da sie über keine entsprechende Lobby verfügen, das lässt sich leider gerade in Österreich gar zu oft beobachten - jene Partei, deren ziemlich einzige Kommunikationsstrategie genau das ist, wird bei den kommenden Nationalratswahlen voraussichtlich die stimmstärkste werden und stellt bereits den Kanzleranspruch. Umso bedeutsamer erscheint es mir, hier reflektiert und vorsichtig vorzugehen. Nicht zuletzt, weil jene Person, über die hier unbekannterweise seitenweise spekuliert wurde, wozu die denn fähig sein könnte, womöglich selbst mitliest, oder aber auch Angehörige.
Zum angeklagten Sachverhalt an sich (hier kann ich wiederum nur davon ausgehen, was mir durch die mediale Berichterstattung bekannt ist, ich versuche mich also vorsichtig zu halten), da gibt es zwei Umstände, die meiner Einschätzung nach als zweifelsfrei gesichert betrachtet werden können, und wo es mich außerordentlich wundern würde, wenn irgendein Gericht das anders betrachten würde:
Erstens: Der TV hat einen Überfall mit anschließender Bewusstlosigkeit bewusst inszeniert. Das stellt die bisherige Beweisaufnahme meiner Beobachtung nach außer Frage, die Auffindesituation ist da zu eindeutig: Bauchlage mit Muskelspannung, welche bei Bewusstlosigkeit einfach nicht möglich ist, fehlende Unterkühlung, oberflächliche Verletzungen, die absolut nicht zum Narrativ passen, gänzlich unauffälliges CT, keine neurologischen Auffälligkeiten und als "rauchender Colt", eine zerbrochene Flasche, die man aber dokumentierterweise selbst mitgeführt hat. Also was aus medizinischer Sicht da bisher vorgebracht wurde, erscheint mir dermaßen eindeutig, dass es für diesen Umstand keine weiteren Indizien mehr bräuchte. Die Google-Suche, etwaiges Vor-Tat-Verhalten, die Frage nach dem Motiv oder was auch immer, ich sehe nicht was das noch für eine Rolle spielen sollte. Mag natürlich sein, dass sämtliches medizinische Personal, das bisher ausgesagt hat, so richtig gepfuscht hat, aber davon sollten wir nicht ausgehen, das würde ja schon wieder einer absurden und grenzüberschreitenden Unterstellung gleichkommen. Möglich, dass die von TV-Seite bezahlten Gutachten hier am letzten (oder etwaigen weiteren) Verhandlungstag(en) noch neue Fakten auf den Tisch bringen? Das mag ich und wohl niemand von uns recht zu beurteilen.
Zweitens: Zeitnah ist der Sohn des TV in den Fluss geraten und dort ertrunken. Darauf muss ich wohl nicht näher eingehen.
Für mich ist es schon in Bezug auf ein Mordurteil und auch den tatsächlichen Sachverhalt fraglich, inwieweit hier ein kausaler Zusammenhang hergestellt werden kann, welcher auch tatsächlich ohne berechtigte Zweifel für plausibel gehalten werden kann. Sprich, die beiden Umstände, die ich soeben als zweifelsfrei betrachtet hätte, mögen die Vorstellung nahelegen, dass sie mit einer bewussten Platzierung des Kindes im Fluss, im vollen Bewusstsein dass dieses darin ertrinken wird, und somit einer aktiven Tötungshandlung verbunden sind. Ob das so war oder es tatsächlich plausible Szenarien gibt, die diese Kausalität in Frage stellen, mag ich aber mal der Fairness halber in die Diskussion bringen, das wurde meiner Beobachtung nach noch kaum in Betrachtung gezogen. Ich fühle mich nicht wohl damit, hier Spekulationen fortzuführen, deren es hier eh schon mehr als genug gibt, aber nur um meiner Meinung nach nicht gänzlich unplausible Alternativen aufzuzeigen: Könnte sich der Sohn in einem Moment der Unachtsamkeit selbstständig gemacht haben? (inwieweit das aufgrund der Mobilitätseinschränkung möglich und wahrscheinlich ist, kann ich selbst nicht beurteilen, es wäre gegebenenfalls interessant, was die Ermittler:innen und Gutachter:innen dazu meinen) Wurde der Überfall womöglich mit der Intention eines "Hilfeschreis" inszeniert, wobei die Situation außer Kontrolle geraten ist und für den Sohn des TV letal geendet hat? Um es erneut zu betonen: Ich kann und mag weder behaupten, dass es so war oder eben auch nicht. Ich, als Bürger, der den Fall medial mitverfolgt, habe hier aufgrund meines Wissensstandes jedoch Zweifel, die für mich eben nur die eine konkrete Erzählung rund um die von mir als zweifelsfrei erachteten Fakten plausibel machen.
Oder, juristisch gesprochen: An der "Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung" sehe ich, angesichts meines Wissensstandes, wenig bis nichts mehr zu rütteln, beim "Mord" wäre ich mir da weniger sicher.
Abseits der juristischen Sachlage möchte ich abschließend noch etwas zu moralischen Einschätzungen und Urteilen loswerden, welche ich in der bisherigen Diskussion häufig wahrnehme:
Ich kenne die betroffene Familie persönlich nicht, auch nicht über mehrere Ecken, kann und mag insofern nichts über deren Lebensumstände sagen. Ich würde aus grundsätzlich humanistischer Sicht und selbst davon abgesehen im Zweifel davon ausgehen, dass die Eltern ihre Kinder lieben, und unabhängig davon was sich nun genau zugetragen hat, stets in der Überzeugung gehandelt haben, das Beste für die Gesamtsituation zu tun. Schützt das gegebenenfalls vor Strafe? Nein, sicher nicht. Aber es ist eine Überzeugung, die mir bedeutend erscheint, da ich hier und in vielen Diskussionen rund um Kriminalfälle tendenziell nur zwei Extreme wahrnehmen kann: Entweder die fürsorglichen und deshalb partout nicht schuldfähigen Eltern (oder in anderen Fällen, sonstige Mitmenschen), oder aber die schuldfähigen und somit monströsen Eltern (oder in anderen Fällen, sonstige Mitmenschen). Um diesem Gedankengang vollumfänglich gerecht zu werden, müsste ich nun wohl unter anderem Foucault's Gesamtwerk bemühen, was in der Annahme, dass wohl kaum jemand diesen Monolog bis hierher verfolgt hat, sämtliche Grenzen sprengen würde. Ich möchte nur die Überzeugung deponiert haben: Delinquenz und die Überzeugung und der Wille, bestmöglich zu handeln, widersprechen sich meiner Meinung nach nicht.
Eins scheint mir gewiss, und zwar, dass die Familie bislang unbeschreibliches Leid durchmacht und wohl auch noch durchmachen wird. Ich lebe selbst ein modernes Leben im Jahr 2024, aber ohne beispielsweise Familie, ohne Kinder, ohne Selbstständigkeit, und das allein ist schon oft genug hart. Das Leben mit Familie, mit Kindern, mit Selbstständigkeit, ist in der heutigen Zeit (und war es wohl auch immer) ebenfalls hart, mit noch gänzlich anderen Aspekten. Das Leben nun mit einem Kind, das eine äußerst seltene Krankheit hat, auf die unsere Gesellschaft schlicht nicht ausgelegt ist, ist dann faktisch ein richtig hartes Los, das sich wohl schwer jemand vorstellen kann, der davon nicht betroffen ist (mir inklusive, ich würde es anmaßend finden anderes zu behaupten). Dieses Kind nun, unabhängig des Grades des Eigenverschuldens, nun verloren zu haben, mit der juristischen und moralischen Frage nach Schuld und Sühne befasst zu sein, das gesamte Leben dadurch verändert zu sehen und noch dazu in der medialen Öffentlichkeit damit zu stehen, ein weiterer Umstand, dessen Schwere ich mir gar nicht vorstellen mag.
Angesichts dessen, möchte ich der Familie, ungeachtet dessen was tatsächlich passiert ist und welche Konsequenzen sie dadurch erfahren wird, nur das allerbeste wünschen, und dass sie jene Hilfe erhalten kann, die sie in weiterer Folge brauchen wird.