Eigentlich wollte ich ja eher still mitlesen, aber hier werden ein paar Dinge angesprochen, die mich dazu animieren, auch mal was zu sagen.
@Kältezeit ist eine von mir extrem hoch geschätzte userin, die ich als sehr ausgewogene und intelligente Diskussionspartnerin kenne und ich denke wir sollten hier wirklich nicht auf irgendeine unangemessene persönliche Ebene gehen.
Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass wir alle hier nur Informationen aus zweiter oder dritter Hand haben. Keiner von uns sass in der Jury. Die Jury hat nicht nur den Angeklagten erlebt, konnte sich selbst ein unmittelbares Bild machen von seiner Glaubwürdigkeit, sie hat auch alle anderen Zeugen persönlich erlebt und die Beweismittel gesehen. Und das alles ohne eindeutig voreingenommene Kommentare dazu gelesen zu haben.
Diese Jury hat nach Diskussion und Überlegung JS für schuldig befunden. Und wie ich es auch drehe und wende, ich kann keinen krassen Fehler hier sehen. Es sind Leute mit weit weniger überzeugenden Indizien schuldig gesprochen worden. Und offensichtlich hat eine ganze Heerschar an Revisionsrichtern auch keinerlei Fehlverhalten der Verfahrensbeteiligten festgestellt. Auch hier haben meine Recherchen kein gegenteiliges Ergebnis gebracht.
Was nun aber passiert ist, dass wir häppchenweise immer mal Teile des ganzen Bildes präsentiert bekommen, und immer von Personen, die ein Interesse an einem bestimmten Ausgang dieser Präsentation haben. So zum Beispiel jener ominöse Sheriff. Es ist ein Fehler, sich von diesem Titel einlullen zu lassen. Er agiert hier keineswegs als Vertreter der Polizei, er agiert hier auch keineswegs als neutraler Gutachter. Er wird von der Verteidigung JSs bezahlt und soll die Dinge für JS positiv darstellen.
Man vergisst hier leicht immer wieder, dass das amerikanische System ein sogenanntes "adversarial system" ist. Das deutsche/kontinentaleuropäische System ist in diesem Punkt ganz anders, und das ist offensichtlich ein grosses Problem bei deutschen Lesern und Zuschauern.
In der Theorie soll im kontinentaleuropäischen System der Richter die Wahrheit irgendwie aus den Verfahrensbeteiligten herausfragen. Der Staatsanwalt soll dabei eine eigentlich unmögliche Doppelrolle spielen: einmal Ankläger sein, aber auch entlastende Dinge vorbringen. Also ein bisschen neutral sein aber auch die Anklage vertreten. Der Verteidiger hingegen lehnt sich im deutschen System oft zurück und muss zusehen, wie der Richter entweder in die "richtige" Richtung läuft oder ganz wo andershin. Man betrachte sich einmal das merkwürdige Schauspiel im NSU Prozess um zu sehen, was ich meine.
Das amerikanisch/angelsächsische Prinzip ist ganz anders. Hier wird keine unmögliche Doppelrolle der Staatsanwaltschaft unterstellt und hier wird vor allem nicht dem Richter eine überhöhte Fähigkeit unterstellt, die richtigen Fragen zu stellen.
Hier ist der Richter weitgehend in der Rolle eines Schiedsrichters wie bei einem Fussballmatch. Er hat sicherzustellen, dass beide Seiten fair behandelt werden und ihre Sichtweise darstellen können, so dass nachher eine neutrale und unabhängige Jury ein Urteil fällen kann.
Da die Jury keine Detektive und keine Juristen sind, wird auch nicht erwartet, dass sie die entscheidenden Fragen findet und stellt, sondern sie soll sich beide Seiten anhören und dann urteilen.
Die Staatsanwaltschaft vertritt die Anklage. Das ist jedem im Gerichtssaal klar: sie ist nicht neutral, sondern ist vor Prozessbeginn zu dem Schluss gekommen, der Angeklagte hat das Verbrechen begangen, und nun muss sie die Jury davon überzeugen. Natürlich wird sie Indizien und Beweismittel in ihrer Richtung interpretieren - das weiss nun auch jeder. Und so müssen sich auch alle Zeugen der Staatsanwaltschaft einschliesslich der Gutachter dem Glaubwürdigkeitstest stellen (das ist der entscheidende Unterschied zum deutschen System, in dem Gutacher zum Beispiel vom Gericht bestellt werden und man ihnen "Neutralität" unterstellt). Daher laufen Vorwürfe, der Staatsanwalt habe Beweismittel einseitig interpretiert oder habe ungeeignete Gutachter (Reifenexperten?) benutzt hier komplett ins Leere: die Verteidigung hat das Recht, die Gelegenheit und die Pflicht, dann eben der Jury diese Unzulänglichkeit zu beweisen.
Denn nach der Präsentation der Staatsanwaltschaft ist die Verteidigung dran. Sie kann, anders als in Deutschland, eigene Gutachter bringen, die, wenn es angebracht ist, genau das Gegenteil sagen. Es ist dann an der Jury zu entscheiden, welche Seite die glaubwürdigeren, stimmigeren Experten präsentiert hat. Es ist dann die Jury, die entscheiden kann ob sie Beweismitteln den "spin" der Staatsanwaltschaft gibt, oder der Verteidigung, oder keinem von beiden.
Dem Beobachter aus einem fremden und anderen Rechtssystem ist daher immer zu raten, die ganze Sache nicht unter falschen Prämissen zu sehen. Weder ist davon auszugehen, dass das was die Staatsanwaltschaft sagt, immer stimmt, noch dass die Verteidigung immer und ausschliesslich die reine Wahrheit verkündet.
Letzteres ist hier natürlich besonders relevant, weil wir die meisten Informationen immer durch die Brille des Verurteilten präsentiert bekommen. Und so bekommen z.B. die Aussagen jenes Sheriffs nun ein ganz anderes, nämlich viel leichteres Gewicht, wenn man sich klar macht, dass er hier eindeutig Partei ist. Wirklich Neues sagt er nämlich nicht. Er versucht den Dingen nur einen anderen "spin" zu geben.