Venice2009 schrieb:Dass man es besser als die Ermittler weiß, ohne einen Einblick in die Ermittlungsakten gehabt zu haben.
Was meinst du damit? Welche Ermittlungsakten meinst du?
Es ist doch sehr viel im Wiki verlinkt.
Englade und Lemley haben ihr Buch bzw. ihren Artikel 1990 verfasst, waren also sehr nah dran und hatten Einblicke.
Der guiltyascharged-Blog hat sehr viel Material veröffentlicht und zum Beispiel den JS-Weihnachtsbrief geleaked.
(Aber man kann sich ja auch mal fragen, was der Blog NICHT geleaked hat, nämlich die komplette EH-Seite, wie zum Beispiel den oben erwähnten "Colorado-Brief" eine Woche vor der Tat.)
Der Terry-Wright-Bericht stammt offensichtlich aus derselben Quelle.
Wenn der Terry-Wright-Bericht tatsächlich das Denken der Ermittler widerspiegelt, dann brauche ich auch keine weiteren Ermittlungsakten. Es wurden doch alle Ergebnisse in der Richtung (er Alleintäter, sie Anstifterin) interpretiert. Dieser Gedankengang entsprang der Tatsache, dass er freiwillig alles gestanden hatte.
[Und dieses Geständnis ist das große "Logikloch", siehe unten]
Wie ich oben schon schrieb, gibt Terry Wright selber zu, dass die TatZEIT aufgrund der Aussagen von EH und JS festgestellt wurde.
Ansonsten verweise ich einfach mal auf mein eigenes Posting:
Beitrag von Melusine (Seite 1.301)monstra schrieb:Vor Gericht ist keine offene geisteswissenschaftliche Analyse möglich und nützlich, in der verschiedene Hypothesen dargelegt und abgewogen werden. Diese Möglichkeit gibt es aber hier und @Melusine hat davon in höchst anerkennenswerter Weise Gebrauch gemacht.
Monstra, offenbar ist die studierte Geisteswissenschaftlerin mit ihrer Vorliebe für Textquellen zu deutlich hervorgetreten, auch wenn ich es nie erwähnt habe ;-)
Ich kann mir übrigens auch nicht vorstellen, dass niemand die Bücher gelesen oder die Filme angesehen hat, die beide in ihren Briefen erwähnt haben. Gerade die Parallelen zu Macbeth sind so gravierend, da wird einem ja die Vorverlegung der Uhrzeit direkt auf dem Silbertablett serviert.
Ich war übrigens neulich zu einem Abendessen eingeladen. Plötzlich erzählte mir der Gastgeber sinngemäß: An Tag X war es so warm, da hat der Alkohol noch viel mehr reingeknallt. Ich war verblüfft und fragte nach (da ich keinen Alkohol trinke). Er meinte sinngemäß: Ja, es war warm und ich hatte viel mehr Durst und weil ich dann (statt Wasser) viel mehr Alkohol in kürzerer Zeit getrunken habe, war ich total schnell dicht.
Wie ich schon mehrfach schrieb, war es an dem Tag für einen Frühlingstag außergewöhnlich warm: 28° C.
https://www.wolframalpha.com/input/?i=lynchburg+virginia+weather+30.03.1985Steht auch bei Ken Englade, dass es die ganze Woche sehr heiß war, das heißt, der Kreislauf der Eltern war bestimmt geschwächt. An dem Samstag war es 29 Grad warm:
"A few miles away, in Lynchburg, the weather bureau’s protected thermometer was pushing eighty-four [=84 Grad Fahrenheit, das sind 29 Grad Celsius]. But it was hotter than that in the shadeless garden where Derek and his wife, Nancy, had been working since early that morning. It was much too hot, Derek thought, for March 30. (...)
But 1985 was an exception; the sun had been beating down relentlessly all week. It was particularly hard on Derek, who was accustomed to cooler climes."
(Quelle: Ken Englade, Beyond Reason, Amazon Kindle-Ausgabe, Cloud Reader, S. 1/375)
calligraphie schrieb:Um was , meinst du , geht es ihm als freier Mensch, derzeit ?
Ich glaube, er ist froh, erstmal draußen zu sein. Nun muss er überlegen, was er als nächstes macht.
Die Strategie, sich weiter als unschuldig zu vermarkten, kann nicht aufgehen. Dafür gibt es zuviele Zweifel.
Wenn er wirklich als Motivationsredner auftreten will, wird er es nicht vermeiden können, kritische Fragen gestellt zu bekommen. Und auch noch "face to face", unvorbereitet, nicht übers Telefon, nicht lange vorbereitet.
Was will er dann machen?
calligraphie schrieb:Siehe Elizabeth Anstiftung 45 Jahre x2 .
Ja, das stimmt, sie ist auch nicht ohne Strafe davongekommen. Deutlich mehr, als sie erhofft hatte. Aber sie steht nun für alle Zeit "nur" als Anstifterin und nicht als Mörderin da.
calligraphie schrieb:Mir erschließt sich eben nicht , wozu man eine 35 Jahre zurückliegende Befindlichkeit zweier junger Erwachsener noch und noch einmal seziert.
Wozu? Was ist das Ziel ? Geht es um das Verstehen der Akteure ?
Ja, mir geht es darum. Als ich den Filmbeitrag bei "Das Versprechen" das erste Mal sah, sah ich das Leuchten in seinen Augen, als er über Elizabeth sprach. Und als ich seinen Weihnachtsbrief las, dachte ich an mein erstes Semester an der Uni zurück, ganz allein auf mich gestellt. Ich geriet auch an einen Menschen, der meine emotionale Bedürftigkeit ausnutzte und mich dazu brachte, Sachen zu tun, die meinen eigenen moralischen Standards widersprachen. Und der mich dazu brachte, so auszuflippen, wie es mir vorher und hinterher nie wieder passiert ist. (Es kam zum Glück nur zu Sachbeschädigung, aber auch ich habe eine Narbe am Arm, die mich immer daran erinnert.)
Hätte ich damals jemanden getötet (schrecklicher Gedanke), würde ich nicht wollen, dass jemand über mich sagt, ich wäre einfach "von Natur aus böse" gewesen. Dann würde ich mir wünschen, dass jemand genau hinschaut und versuchen würde, mich zu verstehen.
Der Blog
http://kriegsursachen.blogspot.com/ und die Bücher über Kriegsenkel und Kindheitsforschung haben mir so dermaßen die Augen geöffnet, dass ich JS eigentlich einen Brief schreiben müsste, in dem ich mich dafür bedanke, dass mich die Beschäftigung mit seinem Fall auf dieses unglaublich wichtige Thema gebracht hat.
----------------------
[Fortsetzung von oben]
Das große "Logikloch" war für mich lange Zeit sein Geständnis.
Warum hat JS die Tat freiwillig gestanden? Warum sollte das jemand tun? Vielleicht würde das jemand tun, der seit 1 Jahr immer wieder mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Der große Schuldgefühle hat (und mit Schuldgefühlen kennt er sich als Kind seiner Eltern gut aus), siehe hier:
"Many of my friends were in open conflict with their parents because of similar family problems. But I always remained aware of the sacrifices my mother and father had made to raise my brother and me properly. They had given us everything we had wanted, and more! Every angry argument was, in fact, a reminder that my parents stayed married primarily "for the sake of the children." So, unlike my friends, I found it difficult to be angry at my parents. Instead I felt torn and unhappy -- and guilty."
(Quelle:
http://web.archive.org/web/20050907103609/http://lucy.ukc.ac.uk:80/Soering/chapter02.html#19)
JS weiß, dass er mit dieser Tat seine eigenen moralischen Standards gebrochen hat. Er wird überführt werden und dann wird er sterben. Aber sterben sie beide oder stirbt nur einer?
@synthia, du hattest vor einer Weile gefragt:
synthia schrieb am 23.01.2020:@Melusine: Du hast mittlerweile schon so viele Dinge im "HandumDrehen" analysiert. Wie siehst Du die Konstellation.
Wie wertest Du das Eingangsstatement "I killed two people, and you know that". Bei Englade klingt das wie Eröffnung zum Mattsetzen beim Schach "Can you top that". a) Oder Pokerface - oder mindgames.
b) Oder ist das Aufopfern? c) Von seiner Freundin ablenken hier ich bins? Oder d) Ok ihr habt mich?
Ich habe lange gebraucht, aber ich denke, der Grund, warum er b) und c) getan hat, waren große Schuldgefühle. (Ich erlaube mir einfach, keinen von Grund auf bösen Psychokiller in JS zu sehen.)
In "Mortal Thoughts" beschreibt JS das sehr eindringlich, aber er setzt diese Suizid-Gedanken an die falsche Stelle in seiner Story, nämlich nach ihr angebliches Geständnis im Hotel-Zimmer. Wenn man gedanklich statt "ihr Geständnis" = "die Tat" einsetzt, wird es klar:
My greatest crisis, and the one I can recollect most clearly, was witnessing the two sets of siblings from Derek and Nancy Haysom's previous marriages meet in a hotel room. Their grief and their love for their parents was so deeply felt that I nearly broke down. So much pain, so many tears, and I was the cause! (...)
I left the room as soon as I could and went to the hotel bar, where I once again contemplated suicide. The police would then have a convenient and penitent murderer, Liz would be safe, and I would have kept my promise to her, though by a different method than the sacrifice we had planned together. Above all my agony would be over, and my failures would be atoned for.
But I could not kill myself. Even if I left a suicide note claiming responsibility for the murders no one would believe that I killed the Haysoms! I was too much of a "wimp," as Elizabeth called me at her sentencing hearing in 1987. To save her life I would have to "confess" live and in person; killing myself now would only throw more suspicion on Liz.
(Quelle: Mortal Thoughts, Kapitel 5, Seite 77;
http://web.archive.org/web/20100126235435/http://lucy.ukc.ac.uk:80/Soering/chapter05.html#77)
--> Wenn er sich umbringt, würde er EH in keiner Weise helfen. Dann wäre er zwar tot, aber die Beweise deuten immer noch auf sie beide. Er kann sie nur retten, wenn er gesteht und die gesamte Schuld auf sich nimmt (und dann selber quasi extern getötet wird, wie zum Beispiel Charles Darnay unter der Guillotine).
Kurzer Exkurs:
Aber damn it, schon wieder eine neue Möhre, was meint er bloß mit "though by a different method than the sacrifice we had planned together"? Hatten sie vielleicht einen Doppel-Selbstmord wie am Ende von "Sophie's Choice" ins Auge gefasst?
Den Gedanken, dass "Sophie's Choice" irgendetwas damit zu tun haben könnte, hatte ich schon eine ganze Weile. Ich habe dann aber in meinem Beitrag nur Sophies Darstellung näher beleuchtet, anstatt auch noch auf "Nathan" näher einzugehen, weil ich keine Belege dafür sah, dass JS sich irgendwie mit ihm beschäftigt hat.
Ich habe gerade nochmal angefangen, das Buch durchzugehen. Wenn man wollte, könnte man das ganze Buch im Hinblick auf die EH-JS-Dynamik interpretieren, vielleicht mag auch noch mal jemand anderes in das Buch reinschauen?)
(Ich beziehe mich wieder auf die Amazon-Kindle-Version:
https://www.amazon.de/Sophies-Choice-Novel-Open-English-ebook/dp/B003JBFCEQ)
Nur zwei Zitate zu Nathan:
- Ein Nachbar sagt über Sophie und Nathan folgendes: "They come back here and hump and fight. Boy, do they fight! Then they go out to dinner. They’re very big on good eating. That Nathan, he makes good money, but he’s a weird one, all right. Weird. Real weird. Like, I think he needs psychiatric consultation.” [Seite 43/562]
- Nachbar denkt, Nathan sei ein Golem: "Anyway, you can’t control him. I mean, sometimes he acts normal, just like a normal human. But deep down he’s a runaway fuckin’ monster." [Seite 63/562]
Und dann ist mir spontan gerade das hier ins Auge gefallen:
- Nach ihrem Zusammenbruch in der Bibliothek wird Sophie von Nathan aufgepäppelt. Er sagt ihr, dass sie nicht sterben, sondern 100 Jahre alt werden wird:
"“you’re not going to die, you’ll live to be a hundred. What’s your name, sweetie? No, don’t tell me now, just lie still and look beautiful." [S. 113/562]
- ...
Ich bin gerade nicht sicher, vielleicht ist das eine Sackgasse. Sorry, bin kurz abgeschweift.
Vielleicht doch wieder zurück zu "pragmatischen" Überlegungen.
Ich denke, JS konnte die Tat nicht mit seinem Selbstbild in Einklang bringen. Möglicherweise kam er dann zur Überzeugung, dass er, wenn er schon stirbt, wenigstens EHs Leben retten könnte. Weil sie sich durch seine(!) Messer-Fantasien gegenseitig angeheizt hatten (die waren sein geistiger Beitrag zur Tat). Weil er den Plan mit der Vorverlegung der Zeit ausgetüftelt hatte ("My God, how I've got the dinner scene planned out.", Weihnachtsbrief S. 10), der dann dazu führte, dass alles so wunderbar klappte, dass ihnen ihr Washington-Alibi teilweise bis heute geglaubt wird.
Und in "Schuldgefühlen" war er ganz groß, dafür hatten schon seine Eltern gesorgt. Seiner Alkoholiker-Mutter konnte er nicht helfen, aber EH konnte er mit seinem "Superbrain" "helfen", eventuell mit dem perfekten Mord davonzukommen und gleichzeitig seine schon lange in ihm vorhandenen Hassgefühle auszuleben. Und diese Hassgefühlen waren eventuell hervorgerufen durch die emotionale Prägung in seiner Familie (Vater: Flüchtlingskind aus Ostpreußen) PLUS die ständige Betonung seines "Deutsch-Seins" und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit der "deutschen Kollektivschuld") . Dummerweise war es dann nicht so wie "in the movies", die er immer geschaut hatte. Da floss plötzlich echtes Blut und da lagen am Ende zwei Menschen tot im Raum, die nicht wieder aufstanden, wenn man "Cut" rief.
JS selber setzte sich im Gefängnis mit diesem gewalttätigen Anteil seiner Persönlichkeit in einem Brief an Neil Woodall (den er erst im Gefängnis kennengelernt hatte) auseinander:
"Before he ended the letter, he threw out one more intriguing thought: a hint that he was examining, perhaps at a level he did not yet want to admit, his own potential for violence. He decided that he was going to have to examine his inner feelings more closely to see where this wellspring of possible violence lay and how it manifested itself, that is, whether it came out in actions, thoughts, or attitudes."
(Quelle: Ken Englade, Beyond Reason, Amazon Kindle-Edition, S. 169/375)
Und er hat selber erkannt, dass nur ihre gemeinsame Dynamik die Tat möglich gemacht hatte und dass alles erst ins Rollen gekommen war, als sie sich begegnet waren:
"On 14 June 1986, from prison, well into the body of a long letter, Jens Soering wrote this to Elizabeth Haysom:
“Excuse my inadequacy. Which reminds me – although there are no “if onlys,” I do regret having done this very much. Inadequacy does not begin to describe it; though I don’t regret meeting you, it would have been better for you had you not met me. Enough self-recriminations – they are so bloody useless and beside the point, they make me smile. I’m not asking for forgiveness. I don’t deserve it, and I certainly don’t want a letter from you taking it all on yourself. Such a letter would piss me off tremendously. All along, I made the mistakes – and more or less willingly, you were dragged along…“
https://soeringguiltyascharged.com/2018/01/17/the-letters-and-diary/Und es war eindeutig eine gemeinsame Dynamik: EH wusste schon, welche Knöpfe sie bei ihren besoffenen Eltern drücken musste, damit diese ihre üblichen Beleidungen gegen Homosexuelle, persons of color, Deutsche, etc. rauslassen. Da musste sie bestimmt nur das Thema Heiraten oder Nazis (oder beides) anschneiden und schon ging die Tirade der besoffenen Eltern los.
Vielleicht ähnelte DHs verbale Angriffstaktik sogar den Beschimpfungen seiner Eltern (siehe Weihnachtsbrief S. 22 und Geständnis Dr. Frieser), er wurde angeschrieben und geschubst:
"This was a combination of being yelled at and pushed (...) with my psychriatrist I dwelled a long time upon this point in time, about my relationship to my father, perhaps I need not do it here. A collective rage arose which resulted from the situation which was already months if not years old. That all erupted now."
(Quelle: Geständnis Dr. Frieser, S. 35)
--> Die "Gesprächs-Taktik" seiner Eltern hat er im Weihnachtsbrief S. 22 so ausführlich beschrieben, dass man direkt nachfühlen kann, wie er "2 gegen 1" in die Ecke gedrängt wurde.
Und auf das "Nazi"-Thema sprang Jens immer an, wie Jim Farmer(!) berichtet:
"Soering’s nationality sometimes was a burden as well, friends said, and he was the target of taunts about Nazi Germany and the Holocaust.
Jim Farmer, who lived in the same dorm with Soering during their freshman year at the University of Virginia, recalled that Soering and another student once argued heatedly about the Nazi extermination of the Jews. "Jens said the Germans were no longer like that, that racism is dead in Germany. The argument got to the shouting stage, he was so emotional."
Quelle: The Atlanta Constitution, Atlanta, Georgia, 03 Jun 1987, Page 10
https://www.newspapers.com/clip/43053988/slayings_i_eh_wartet_auf_ihren_prozess/ (Anfang des Artikels)
https://www.newspapers.com/clip/43053904/slayings_ii_ausfhrliche/ (Fortsetzung)
Vielleicht gab es für JS (Spekulation!) eine geistige Verbindungskette zwischen diesen Ereignissen. Die Haysoms hatten "Jens from nowhere -- a posing child of Hitler" (siehe EH-Weihnachtsbrief, S. 20) provoziert, bis er ausgerastet war. Vielleicht kam er für sich zur Überzeugung, er könnte es wieder gutmachen, indem er sich opfert, also quasi ein "guter Deutscher" sein könnte. Da würde sich für mich wieder der Kreis zu "Sophie's Choice" schließen.
Denn JS sagte immer wieder, er sehe EH als "das dritte Opfer". Ja, wenn sie das dritte Opfer ist, wer ist dann der Täter? (Und weil er sie liebte, hatte er nicht genug emotionale Distanz, um zu erkennen, dass sie ebenfalls Täterin war, genau wie er.)
JS spricht oben von "Mistakes", die er gemacht hat. Welche könnten das sein? Wer hat mehr/eindeutigere Spuren am Tatort hinterlassen? Er selbst. Er hatte das Blut an der Tür und die Sockenabdrücke hinterlassen und sie nicht mehr beseitigt.
Wer hatte dafür gesorgt, dass sie in London aufgeflogen sind? Eigentlich EH, weil sie seinen ausgeklügelten Plan, die Kaufhäuser nacheinander und nicht gleichzeitig aufzusuchen, einmal nicht ausgeführt hat (auch hier wieder: sie die Emotionale, er das Brain). Aber sie blieb danach bei der Vernehmung kühl wie Eis und ließ alles an sich abprallen. Er war es, der letztlich Beever/Wright die Erlaubnis gab, in die Wohnung zu gehen (und dort die falschen Ausweise, die Perücken, die Marks-und-Spencer-Tüten und die Briefe zu finden.)
In diesem Brief (das müsste der Anfang des Briefs sein, den der Blog zitiert, 1 Woche nach seinem Geständnis) kann man auch gut den Gegensatz zwischen ihnen erkennen: Erstens zerfließt JS schon wieder vor lauter "forgive me" und "sorry", aber zum zweiten beschreibt er sich selbst als endlich nicht mehr "suicidal" und sie als "stoic":
"auf dem Umschlag ist zu erkennen: June 14 86
Dear Sweetie,
Please forgive me for not writing ??? ...
been struggling all week with the letter to m[y]
parents. That's no excuse, and I did have ...
of time to write you, I don't really ??? ...
I did not. I am sorry.
The last days (since Monday [=9.6.1986]) have be[en?] ...
strange. I hope that you are doing be[tter?] ...
than I am, somehow, I think of yo[u?] ...
terribly stoic and doing allright. I may ...
getting used to it in a sense? I did no ...
this a month, or so ... anyway? ...
no longer feel suicidal. It was really ...
close a couple of ???? in Richmond [=engl. Polizeistation]
that is no longer something that I am ...
sicking(?) at all, so there is no reason f[or?] ...
worry on that count at least.
I am not in Ashton, ..."
(Quelle: Lovers Leap,
https://www.youtube.com/ watch?v=gK8CmfP3S0U, 21:35)
Schon Ken Englade wundert sich anhand des Neil-Woodall-Briefes, dass JS überhaupt nicht über eine Verteidungsstrategie nachdenkt. Und vor allem, dass JS die Briefe nicht vernichtet hat:
"Curiously, the letter did not mention the status of the proceedings against him or Elizabeth, what he might be doing to prepare his defense, or if he was worried that police had by then read the letters that he knew they had recovered from the flat he had been sharing with Elizabeth. Elizabeth would say later that she did not know the letters still existed, that she thought they had long ago been destroyed. Jens, however, had to know they were there and what the results would be once the police read them. Perhaps in his arrogance he had convinced himself that the police would not find the letters, would not take the time to read them, or would not recognize their significance even if they did. Why he kept them at all is a mystery."
(Quelle: Ken Englade, Beyond Reason, Amazon Kindle-Edition, S. 169/375)
Warum hatten sie die Briefe aufgehoben? Offenbar waren sie ihnen wichtig, vielleicht als eine Art "schriftlicher Liebesbeweis" auf ihrem Weg der gegenseitigen Zerstörung. Vielleicht versicherten sich sich deswegen andauernd schriftlich tausendmal der gegenseitigen Liebe, weil sie tief im Inneren gar keine Liebe fühlten, weil da dieses riesige emotionale Loch war, das mit Beteuerungen von außen gefüllt werden musste. Ja, die Briefe enthielten Hinweise auf die Mordfantasien, aber sie waren auch gleichzeitig die Grundlage, sozusagen der materialisierte Beweis, ihrer gegenseitigen, einmaligen, unglaublich großen Liebe.
Später hat er sich dann eine "Deckungs-Legende" gebastelt. Er wollte sie retten (aber selber vor lauter Schuldgefühlen sterben, das konnte er natürlich später nie wieder sagen, weil er auch die Schuldgefühle weglügen muss, wenn er seine Tatbeteiligung weglügt). Da kommt dann er dann plötzlich mit der Aussage, er dachte, er hätte Immunität gehabt. Er dachte, er kriegt nur 10 Jahre Jugendknast in Deutschland. Man hätte EH bedroht und er hätte keinen Anwalt gehabt. Wahrscheinlich glaubt er das mittlerweile sogar selbst.
Seit ich neulich das Stichwort "Traumatherapie" hörte, glaube ich, dass JS sich auch selber schon mit dem Thema Transgenerationale Weitergabe von Traumata/Kriegsenkel beschäftigt hat. 2017 hat er nämlich in einem Interview gesagt:
"Und wenn ich der Polizei eine Lüge erzählen muss, um ein Leben zu retten - dann ist das meine moralische Pflicht! Unsere Großeltern hätten das mal im Dritten Reich tun sollen, die feigen Hunde (womit ich MEINE Großeltern meine, nicht Ihre)."
Quelle:
https://www.esslinger-zeitung.de/startseite_artikel,-geliebt-gelogen-lebenslaenglich-_arid,2126733.htmlhttps://www.docdroid.net/XCGMsit/brief-jens-soering.pdfAußerdem hat er sich auch mit dem Thema Kindheitsforschung beschäftigt, denn er hat 2016 einen Brief an den Blogbetreiber Sven Fuchs geschrieben:
http://kriegsursachen.blogspot.com/2016/01/basiswissen-fur-die-kriminologie-direkt.htmlIn diesem ganzen Thema "Prägung durch die Eltern" steckt so viel drin. Ich bin gerade nochmal dabei, einige Quellen durchzugehen. Aber mein Posting ist jetzt schon wieder so lang. Ich schicke das erstmal ab.