monstra schrieb:- Verletzungszeugen und Untersuchungen sind nötig, weil das Geständnis nicht mehr wie im Mittelalter allein begründend für eine Verurteilung ist. Schon um den wirklichen - und nicht den erzählten - Tatablauf rekonstruieren zu können.
Ich habe mir heute den Alibi-Teil sehr gründlich durchgelesen. Wright schreibt mehr als einmal, dass sie die Kinokarten vor ihrem Flug nach England niemals zu Gesicht bekommen haben und ihre Konstruktion der Ereignisse fast ausschließlich auf den Aussagen von JS und EH basiert!
Wright führt aus, dass die damaligen Ermittler die Alibi-Beweisstücke gar nicht zu Gesicht bekamen. Ihre Vermutung, wie der Mord ausgeführt worden war (insbesondere die Anzahl der Täter), konnten sie also zu diesem Zeitpunkt logischerweise nur aus den Spuren am Tatort (Luminol-Spuren, Verletzungsmuster, Anzahl der Messer, etc.) sowie dem verdächtigen Verhalten der beiden herleiten:
"As the murder enquiry continued the investigators began to be suspicious of Haysom and Soering. To support what they told the investigators the couple saved some documents. These supporting documents - movie tickets and hotel room service receipts - were never shown to the investigators."
(Quelle: Wright-Bericht, S. 200)
Gardner hatte sich sicherlich bereits Gedanken gemacht, wie die Tat abgelaufen sein könnte (immerhin waren JS und EH gemeinsam auf die Flucht gegangen), aber direkt am ersten Tag (Geständnis vom 5.6.1986) preschte JS vor und präsentierte die Einzeltäter-Theorie. Er wies sogar darauf hin, dass eventuelle Einlassungen Elizabeths zu ignorieren sind, weil sie vielleicht "den Helden spielen will":
"I made to of those slips which I’m deep impression that Elizabeth had come with me to Loose Chippings, she did in fact, not, ah, and I’m worried that she’s going to try to play the hero and in her statement
suggest that she did come with me to … so that she would then be sharing whatever burden there is …whatever punishment … more equally … and like I said, in fact, she did not come with me …ah, she stayed in
D.C., (...)"
(Quelle: Wright-Bericht, S. 224, seine Quelle: Geständnis vom 5.6.1986)
Wright führt weiter aus, dass die Unterlagen (Kino-Tickets) keinerlei Grundlage für die Untersuchung waren, an dem Wahrheitsgehalt des gemeinsamen Geständnisses zu zweifeln (für mich ein klarer Fall von Confirmation Bias):
"Do not be confused about what the alibi consists of. The alibi is not the movie tickets and the room service paperwork; they are just supporting documents. The real alibi was each of them saying they were together for the whole weekend when they were not. It was an agreement between the two of them to lie to investigators to avoid arrest."
(Quelle: Wright-Bericht, S. 201)
Ich hatte das bereits in einem anderen Posting schon einmal hervorgehoben und hole es noch einmal hervor:
1.) Elizabeth gestand probehalber: „I did it myself.“ und bekam als Antwort „Don’t be silly“.
Nächster Versuch: “I got off on it.” Antwort Beever: “Tell me the truth and look me in the face. You knew it was going to happen, and you were creating the alibi whilst he was committing the crime.”
(Quelle:
https://soeringguiltyascharged.com/2019/12/17/killing-for-love-and-the-doctored-audiotapes-part-2/)
Aus "Don't be silly", "Tell me the truth" und "you were creating the alibi" kann sie ableiten, in welche Richtung die Detektive denken (nämlich dass SIE nicht beteiligt war, außer am Schaffen des Alibis) und baut dann in der Richtung ihre Story weiter aus.
2.) Hier ist noch ein zweites Indiz für die Voreingenommenheit der Ermittler, die EH die Alibi-Geschichte unbedingt glauben wollten:
Haysom: “Because that’s not an alibi that sticks. That’s not an alibi at all. You know that, I know that. It’s nothing. So you said you went to the movie. Yeah. You bought two tickets. Wow. Yeah. Nobody believes that.”
Beever: “So why did you buy two tickets then?”
(Quelle:
https://soeringguiltyascharged.com/2019/12/17/killing-for-love-and-the-doctored-audiotapes-part-2/)
Dazu kommt die "gefälschte" Unterschrift auf dem Room-Service-Zettel, der laut Aussage von Englade vernichtet wurde:
"When the room service order arrived, she exited from the bathroom with a towel wrapped around her. Asking the waiter to hold on, she went back into the bathroom as though to get Jens’s signature on the bill. Once inside, she closed the door, forged his name to the ticket, and returned it to the waiter. That ticket was later destroyed in a routine purge of the motel’s records; it could not be produced to substantiate either Elizabeth’s or Jens’s claims."
(Quelle: Beyond Reason, Kapitel 55, Cloud Reader, S. 362/375)
JS sagt, er habe unterschrieben.
EH sagt, sie habe die Unterschrift gefälscht.
Wright sieht in diesem Fall nur bei JS einen Grund zu lügen, denn JS ist die Person, die ihre Anwesenheit verschleiern will (Confirmation bias):
"If a person is present at a location, and that person wants to give the appearance that another person is there with them, when they are not, whose name would they need on any documents? Logically, they would want any documents to bear the name of the person who is not present. In this case the room service receipt was in the name of Soering."
(Quelle: Wright-Bericht, Seite 202)
Es gibt aber noch zwei weitere Aspekte, die Wright ausblendet:
a) Auch EH hat während ihrer späteren Aussage ein starkes Motiv, ihre Anwesenheit in Washington um 21 Uhr zu bestätigen (damit scheidet sie als Mörderin aus).
b) JS kann tatsächlich um 21 Uhr unterschrieben haben, wenn man annimmt, dass er zu dieser Zeit bereits aus Loose Chipping zurück war.
Die Unterschrift wurde nie untersucht und es wäre auch sehr schwierig festzustellen, ob sie echt oder gefälscht war, siehe Wright:
"It is also unlikely that handwriting analysis of the signature (if it can be found) on the room service receipt would be conclusive as to who wrote the signature."
(Quelle: Wright-Bericht, S. 202)
JS und EH versuchen beide, diese Unterschrift zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Da aber aus praktischen Gründen nur EINE Person unterschreiben kann, braucht die zweite Person ebenfalls ein Alibi für genau diese Zeit (21 Uhr)! Da schließt sich dann der Kreis zum Anruf.
Wright erkennt das sogar: Die Tickets und die Zimmerservice-Belege beweisen, dass beide zur relevanten Zeit in Washington waren:
"Because the movie tickets and room service receipts were intended to show that Haysom and Soering were both present at the relevant times, they are of little use when trying to establish which of the two was not present."
(Quelle: Wright-Bericht, S. 207)
Aber weil er voreingenommen ist, dass "the relevant times" zur Dinner-Zeit und im Dunkeln war (wer würde eine solche Wahnsinnstat am hellen Nachmittag verüben?), kann er nicht anders denken, als dass es nur der eine oder der andere gewesen sein kann, weil sonst das Kinokarten-Alibi unerklärbar wird.
Der genaue Todeszeitpunkt konnte nämlich NICHT bestimmt werden. Allein aufgrund der Aussagen von EH und JS wurde der Zeitpunkt auf den 30.03. gelegt:
"Several days elapsed between when the Haysoms were last seen alive and when their dead bodies were found. The exact date and time of their deaths can only be estimated. Considering what Haysom has said, and all the versions
given by Soering, it is generally accepted that the Haysoms were murdered on Saturday, March 30, 1985."
(Quelle: Wright-Bericht, S. 236)
So stelle ich mir professionelle Ermittlungen eigentlich nicht vor, aber was nützt das jetzt noch?
Übrigens habe ich alle diese Schlüsse aus den von Wright präsentierten Protokollen gezogen und nichts dazugedichtet. Es steht alles da und wenn man die Teile anders zusammensetzt, ergibt alles einen Sinn.
Aber Venice hat recht, es geht nur darum nachzuweisen, dass JS schuldig (und nicht unschuldig) ist. Der Wunsch nach einer wahrheitsgemäßen Aufklärung muss dann leider hinter das Ziel, JS als Einzeltäter zu präsentieren, zurücktreten.