Vermisstenfall Madeleine McCann
02.12.2020 um 03:57Coldcases schrieb:Ich schrieb es bereits, dass es in Deutschland Indizienprozesse gab, wo der Beschuldigte verurteilt worden ist, obwohl die Schuld nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Der Leitsatz "in duo pro reo" mag zwar in der deutschen Rechtsprechung verankert sein, würde aber bei einem Indizienprozess eine eher untergeordnete Rolle spielen, wenn eine StA Anklage erhebt und ein Richter davon überzeugt ist, dass Brückner beispielsweise schuldig wäre.Bevor das wieder eine seitenlange Diskussion auslöst, möchte ich das kurz ein wenig juristisch korrigieren. Du meinst das Richtige, aber es ist etwas missverständlich formuliert.
Da kann ein Anwalt auch noch so viel predigen und seine Laudatio vor Gericht halten. So einfach ist es dann doch nicht, mit einfach "raushauen", so wie du dir das gern vorstellst. Wenn das Gericht davon überzeugt ist, der Beschuldigte ist aufgrund von "Indzien" schuldig, kann der Advokat sich auf den Kopf stellen. Das ist oft genug schon vorgekommen...
Selbst die mögliche Strafe kann dann sogar höher ausfallen, als von der StA gefordert.
1. Verurteilt werden soll in Deutschland nur, wenn das Gericht überzeugt ist, der Angeklagte ist schuldig. Das Gericht muss am Ende der Verhandlung der Überzeugung sein, die Schuld ist nachgewiesen. Insofern gibt es keine Verurteilung ohne nachgewiesene Schuld. Es ist aber so, dass für Aussenstehende oder gar für die Verteidigung durchaus nicht nachvollziehbar sein kann, dass die Schuld nachgewiesen ist. Aber das spielt keine Rolle: wenn das Gericht überzeugt ist, dann gibt es eine Verurteilung.
2. Der juristische Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten, auf Latein in dubio pro reo" ist auf die Entscheidung des Gerichts anzuwenden, es ist sozusagen eine Handlungsanweisung für das Gericht: Wenn das Gericht Zweifel an der Schuld hat, dann muss es freisprechen, dann darf es nicht verurteilen.
Es gibt also kein: "Na ja, so ganz überzeugt bin ich nicht von der Schuld, aber die meisten Sachen überzeugen mich, also verurteile ich mal." - Auch hier ist freilich zu sagen, was ein Richter wirklich denkt, weiss man nicht. Hält er sich aber ganz ehrlich an den Grundsatz, dann müsste er hier freisprechen. Der Grundsatz wird also ganz falsch verstanden, wenn man sagt: wenn es irgendwo Zweifel gibt, muss freigesprochen werden.
Ausserdem gilt er nur für die Gesamtschau aller Dinge. An einzelnen Indizien kann man sehr wohl zweifeln, aber wenn alles zusammen die Schuld beweist, dann darf verurteilt werden, auch wenn das eine oder andere Detail zweifelhaft sind.
Der Grundsatz gilt nur für das Gericht, für die Richter selbst. Wie vorher schon gesagt: wie der Rest der Welt den Fall sieht ist irrelevant. Nur ein höheres Gericht kann manchmal (!) sagen: also wir wissen nicht, was der Richter hier geraucht hat, aber die Anklage kann einfach keinen vernünftigen Menschen überzeugen, daher heben wir die Verurteilung auf. Das kommt sehr sehr selten vor.
Ein letztes Wort noch zum "Indizienprozess:" Nahezu alle Prozesse sind Indizienprozesse. Ein Indiz ist ein Anzeichen, das zu einem Beweis führen kann. Beispiel: Tussi kommt laut schimpfend zur Tür hinein und ist pudelnass. Das Wasser tropft ihr aus den Haaren. Zenzi sieht das.
Später ist Zenzi als Zeugin vorgeladen und wird gefragt: wann kam Tussi nach Hause? Zenzi sagt: gerade als es in Strömen geregnet hat. Sie war klatschnass. - Ist es jetzt bewiesen, dass Tussi währed dem Regenschauer, der von 11 bis 11.15 Uhr dauerte nach Hause kam? Wenn Zenzi nicht aus dem Fenster geschaut hat und nur gesehen hat, dass Tussi klatschnass nach Hause gekommen ist, dann ist das ein Indiz dafür, dass sie während dem Regen nach Hause kam. Es könnte aber auch sein, dass Tussi eine Stunde vor dem Regen nach Hause kam, gerade als Nachbar Anton mit dem Gartenschlauch seine Hecke gegossen und aus Versehen Tussi mit einem vollen Strahl getroffen hat.
Dass Tussi klatschnass nach Hause kam, ist also erst einmal ein Indiz. Zum Beweis wird es erst, wenn andere Dinge dazukommen: zum Beispiel wenn Zenzi in dem Moment aus dem Fenster gesehen hätte und den Regen selbst gesehen hätte. Oder wenn Tussi gesagt hätte "oh, das schüttet gerade und ich hab natürlich meinen Schirm heute nicht mit gehabt" oder irgendsowas. Oder es verliert eben seine Beweiskraft ganz, wenn Tussi über Anton geschimpft hätte, als sie zur Tür hereinkam und so weiter.
Bleibt nun die Sache so, dass es ausser dem einen Indiz nichts anderes gibt, hier also ausser der Aussage von Zenzi nichts anderes existiert um die Aussage zu erhärten, dass Tussi während dem Regenschauer nach Hause kam, dann muss das Gericht dennoch das Indiz bewerten. Hier kommt jetzt die Glaubwürdigkeit und die allgemeine Lebenserfahrung ins Spiel: wie wahrscheinlich ist es, dass ein Anton die Tussi abgeduscht hat, verglichen mit der Wahrscheinlichkeit, dass sie doch während dem Regenschauer nach Hause kam, der belegbar ist?
Und hier schliesst sich jetzt der Kreis: wenn das Gericht von der Vernünftigkeit seiner eigenen Interpretation der Indizien überzeugt ist und schliesst, es muss geregnet haben, als Tussi nach Hause kam, dann bestehen eben keine "begründeten Zweifel," dann ist es juristisch "bewiesen" und das Gericht baut sein Urteil darauf auf.
Sorry für die kleine Vorlesung, aber ich denke man versteht jetzt besser die immer wiederkehrende Diskussion um Beweise, Indizien und in dubio pro reo.