@robernd:
robernd schrieb:Selbst wenn es gelingt, die Kernfusion dauerhaft in Gang zu bringen, sind die Probleme drumherum (Strahlenschutz, Baumaterial) heute kaum angedacht. Alle, die heute leben, werden Fusionsreaktoren ebenso wenig erleben wie Raumfahrt zu anderen Sonnensystemen.
Auch wenn es hier im Thread ein Randthema ist: Da möchte ich Dir massiv widersprechen. Ich verbringe in der Rubrik Wissenschaft selbst sehr viel Zeit damit, zu erläutern, warum dieses oder jenes Energie-Konzept
nicht funktionieren wird, aber in diesen Fällen ist das Problem die mangelnde
physikalische Umsetzbarkeit. Physikalisch ist die Machbarkeit kontrollierter Kernfusion jedoch keine Frage, das ist selbst für (gehobene) Hobbybastler
durchführbar. Das Problem ist die
technische Umsetzung mit Netto-Energie-Überschuss.
Die meisten Menschen liegen mit ihren Einschätzungen zum technischen Fortschritt falsch, weil sie linear denken. Technischer Fortschritt verläuft aber i.d.R. S-Kurven-förmig (ein ganz hervorragendes, wenn auch schon etwas älteres Buch zu diesem Thema ist
"Innovation: Die technologische Offensive" von Richard N. Foster). In der Anfangsphase ist sehr viel Aufwand für geringe Fortschritte erforderlich. Irgendwann sind aber die grundsätzlichen Probleme gelöst, und dann kommt die Phase der ganz grossen, oft exponentiell verlaufenden Fortschritte. Nach einiger Zeit ist aber natürlich auch diese Phase vorbei, und es folgt die Endphase, wo sich auch mit sehr viel Aufwand nur noch wenig Fortschritt erreichen lässt.
Es ist offensichtlich, dass sich die kontrollierte Kernfusion seit Längerem in der ersten Phase befindet. Daraus folgt aber nicht, dass es in diesem Tempo weitergeht. Auch das Internet spielte in den ersten Jahrzehnten nach den Anfängen in den 1960ern auf der Weltbühne keine nennenswerte Rolle. Bis dann in den 1990ern der grosse Durchbruch mit exponentiellem Wachstum kam. Es mehren sich die Indizien dafür, dass ein derartiger Durchbruch auch bei der kontrollierten Kernfusion in den nächsten Jahren bevorsteht. Neben den bekannten Grossprojekten wie
ITER gibt es inzwischen ca. ein halbes Dutzend seriöse, gut finanzierte kleinere Projekte, deren Investoren grösstenteils einen Erwartungshorizont < 10..15 Jahre haben dürften (siehe z.B. den folgenden Artikel:
"MIT and newly formed company launch novel approach to fusion power"). Fast jedes Jahr kommt ein neues Projekt dieser Art hinzu. Ein Teil dieser Projekte wird zweifellos scheitern, aber auch gescheiterte Projekte tragen zum Lernprozess der Menschheit insgesamt bei. Kernfusion profitiert auch erheblich von den Fortschritten in anderen Gebieten, insbesondere in der IT. Z.B. dürfte sich der Einsatz von KI (damit meine ich keine Singularitäts-Level-KI, sondern das, was absehbar in den nächsten Jahren zu erwarten ist) ziemlich gut für die Kernfusions-Forschung eignen, da die Abläufe einerseits sehr komplex, andererseits aber auch gut mess- und steuerbar sind. Das entscheidende ist, dass jeder Fortschritt den weiteren Fortschritt beschleunigt.
Ich verspreche mir von den erwähnten kleineren Projekten -- wie ich im
ITER-Thread schon ein paar Mal erläutert habe -- aufgrund der grösseren Flexibität einiges mehr als von ITER, und halte einen Durchbruch -- d.h. eine stabile Netto-Energieerzeugung -- innerhalb der nächsten 10 Jahre für durchaus realistisch. Das Gebiet ist aktuell so spannend, dass ich ernsthaft überlege, selbst einzusteigen.