Der Fall liegt jetzt so, dass ich überlegt habe, ob ich mir mal genauer ansehen soll, wie sich EbM definiert und welche Erwartungen oder Fragen man je nach dem an sie haben könnte, wenn man das hier weiterverfolgen will. Speziell, ob ich meinen Ansatz, das Thema mal unabhängig von der Abgrenzung zur Quacksalberei zu behandeln, hier sinnvoll weiterbringen kann.
Die Nachforschungen ergaben einerseits, dass das mit der Definition schon mal nicht so einfach ist. Aber diese Beschreibung der Methode macht schon mal deutlich, in welche Richtung das geht:
Wikipedia: Evidenzbasierte Medizin#MethodeDer behandelnde Arzt soll sich, vereinfacht gesagt, mehr mit der Forschung und Wissenschaft befassen. Okay ... dann mal viel Glück, siehe auch Ende dieses Beitrags
;)Andererseits zeigt die Frühgeschichte dieses Threads, dass der User/eher die Userin, die diesen Thread eröffnet hat, das mit der Evidenzbasiertheit nur im Thread-Titel verwendet. Im EP heißt es ganz platt "Schulmedizin". @~DoctrineDark~ ist übrigens mehr oder weniger noch unter uns. Hat es in diesem Thema aber von der Thread-Eröffnung bis 2006 auf ca. ein Dutzend Beiträge gebracht. Okay, was heißt das schon. Worum es urpsünglich mal ging - davon entfernen sich ja viele Threads im Laufe der Zeit. Und dieser Thread hat sich zur Besprechung von Homöopathie & Co. durchgesetzt, obwohl es andere gab und gibt.
Ganz platt ausgedrückt, ging mir durch den Kopf, ob man mit einer med. Intervention warten soll, bis die gewählte Methode 100% wasserdichte wissenschaftliche Evidenz der höchsten Kategorie vorweisen kann. Nein, so ist es nicht gemeint. Geht ja auch gar nicht. So kann gar nicht (mehr) mit Menschen experimentiert werden. Da besteht, allein schon, wenn man mal den verlinkten Abschnitt bei Wikipedia zugrunde legt, Stoff für Debatten und Reformansätze bis in alle Ewigkeit. Werden wir hier nicht lösen können.
Was mich aber wurmt ist, dass nicht nur gegenüber der Komplementärmedizin, sondern generell, die - ich will "Schulmedizin" vermeiden - sagen wir mal "wissenschaftliche Medizin", als eine reine, ehrbare und lautere Lehre dasteht. De facto aber ist die Medizin in weiten Teilen, wie die Wissenschaft generell, ziemlich korrupt. (Wohlgemerkt: Ich meine damit nicht die auf Bestechlichkeit reduzierte Bedeutung des Begriffs, die das Thema zudem auf eine kriminelle Ebene reduziert.) Auf dem hohen Ross sitzen hier also nicht nur edle Knights in Shining Armour. Was das alternative Komplementärwesen kein bisschen besser macht, wohlgemerkt.
Zurück zu dem Stichpunkt Evidenz und Wissenschaftlichkeit. Folgendes ist bekanntlich ein Steckenpferd von mir, aber der betrifft nun mal einen ganz zentralen Punkt in der Medizin. Den muss ich hier nicht ausdiskutieren, ich will nur eine tiefgreifende Problematik veranschaulichen: "Evidenz" oder wie auch immer man das nennen will, das man (als Feigenblatt) vorzeigen muss, um weitreichende Paradigmen, Doktrinen, Dogmen, am Ende Leitlinien, Standards und medizinische Ausbildung und Verfahren zu institutionalisieren, ist in zentralen Bereichen nicht wissenschaftlich-experimentell bewiesen, sondern wird beschlossen - und bezahlt. Was keine VT ist, sondern notorisch und nachweisbar, in weiten Teilen ja aufgrund bestehender Richtlinien sogar transparent einsehbar.
Der Sachverhalt bei meinem Steckenpferd und Paradebeispiel:
Die Lipid-Hypothese, der zufolge, ganz stark verkürzt, LDL-Cholesterin der Auslöser von Artherosklerose ist. Die ist weder plausibel, noch in der unabhängigen Wissenschaft als evident anerkannt. Es gibt umfangreiches Material, das überzeugend dagegen spricht. So verhält es sich dann auch u. a. mit den Statinen, die als Standard-Lipidsenker in den Richtlinien stehen. Es würde wohl zu weit führen, hier die zugrundeliegenden Sachverhalte auszubreiten (Literatur liegt aber vor). Ich mach exemplarisch einen Vorgang, der damit verknüpft ist, und der umso simpler daherkommt (so einfach ist es, Evidenz zu beschließen), zum Exempel.
2019 haben die European Society of Cardiology (ESC) und die European Atherosclerosis Society (EAS) neue Leitlinien herausgegeben. Und die sind dann das, was Lehrmeinung und Doktrin wird. Eine dezidierte und äußerst scharfe Kritik daran wurde u. a. hier veröffentlicht:
Der Arzneimittelbrief 2019; 53: 73
Es lohnt sich wirklich, das mal ganz durchzulesen. Hier nur einige entscheidende Passagen (Hervorhebungen durch mich):
Zusammenfassung: Die neuen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis Society (EAS) erweitern erheblich den Kreis der medikamentös behandlungsbedürftigen Menschen mit Hyperlipidämien. Die Grenze zwischen Primär- und Sekundärprävention wird aufgehoben, und die LDL-Zielwerte werden nochmals stark herabgesetzt. Ezetimib und PCSK9-Hemmer erhalten eine Klasse-1-Empfehlung, ohne dass es neue und stichhaltige Belege für eine günstige Nutzen-Risiko-Relation oder Kosteneffektivität gibt. Die Zielvorgabe „as low as possible“ scheint aber nicht nur für das LDL-Cholesterin, sondern auch für das Evidenzniveau der Leitlinie zu gelten, denn diese ist in vielen formalen Punkten kritikwürdig, sodass sie nach unserer Einschätzung allenfalls als interessengeleitetes Positionspapier einer industrienahen Fachgesellschaft bezeichnet werden kann.
[...]
Kritik: Die Empfehlungen der Task Force erfüllen nicht die Kriterien einer S2- oder S3-Leitlinie. Das Gremium ist weder repräsentativ besetzt, noch wurden klinisch relevante Fragen (z. B. zu den LDL-Zielwerten) gestellt und durch eine systematische Recherche und Bewertung der Literatur beantwortet. Wahrscheinlich hat auch keine strukturierte Konsensfindung stattgefunden. Das kann aber nicht genau beurteilt werden, denn es liegt kein detaillierter Leitlinienreport vor – heute ein üblicher Qualitätsstandard jeder Leitlinie.
Auch werden die inhaltlichen Abweichungen von der qualitativ höher einzuschätzenden US-Leitlinie nicht begründet. Dem Konzept „the lower the better“ wird alles untergeordnet; Wirkstoffe wie Ezetimib und PUFA erhalten Grad-1- oder 2a-Empfehlungen ohne stichhaltige Belege dafür, dass sie eine günstige Nutzen-Risiko-Relation haben. In einer oberflächlichen Kosten-Nutzen-Analyse zur Anwendung von PCSK9-Hemmern kommen die Autoren außerdem zu einer für eine Leitlinie ungewöhnlichen Voraussage, dass diese Medikamente nach breiterer Anwendung wahrscheinlich im Preis sinken werden.
Es handelt sich bei den Empfehlungen der ESC und EAS maximal um eine S1-Leitlinie, d. h. eine Handlungsempfehlung einer Expertengruppe in einem informellen Konsensverfahren. Der Wert dieser Empfehlungen wird auch dadurch in Frage gestellt, dass nur 2 der 21 Autor(inn)en keine Interessenkonflikte mit pharmazeutischen Unternehmern (pU) angeben – ein Autor gibt sogar Interessenkonflikte mit 48 pU an. Knapp 70 % der Autor(inn)en haben Interessenkonflikte mit den Herstellern der PCSK9-Hemmer. Die Task Force handelt also nicht unabhängig. Auch von den 86 Reviewern aus 51 mit der ESC assoziierten nationalen kardiologischen Gesellschaften geben nur 16 keine Interessenkonflikte an (18 %). Das verwundert nicht, denn die ESC selbst hat erhebliche Interessenkonflikte mit der Industrie. Laut dem Jahresbericht 2018 ist sie zwar eine „volunteer-led, not-for-profit
medical society“ (8), jedoch kommen 75,5 % ihrer jährlichen Gesamteinnahmen von 71,9 Mio. € direkt oder indirekt von der Industrie. Daher stellt sich ernsthaft die Frage, ob derartige Fachgesellschaften überhaupt Leitlinien erstellen sollten (vgl. 9)
Ich hatte an anderer Stelle schon mal etwas aufbereitet, das den oben verteilten starken Tobak illustriert. Hier erneut:
Die EAS hat Anfang 2020 folgendes Consensus Statement herausgegeben, das die Lipid-Hypothese und die o. g. Richtlinien zementiert:
https://academic.oup.com/eurheartj/article/41/24/2313/5735221?login=false#377963817Es ist nicht mehr als die von einem ausgewählten Personenkreis unterzeichnete Meinung zu diesem Thema. Welche Interessenskonflikte dieser Personenkreis hat, wird aber mitgeliefert. So sieht das aus, was oben so scharf kritisiert wird. Wenn irgendwer der Meinung istm dass bei diesem Consensus Panel etwas anderes herauskommen kann als das, was die Pharma-Industrie hier bezahlt, möge gerne mal plausibel machen, wie das vor sich gehen würde:
Conflict of interest: J.F.B. has received research grants from Regeneron and Ferring Pharmaceuticals and honoraria for consultancy from Novo Nordisk. C.J.B. has received honoraria for consultancy and lectures from Amgen and AOP Pharma. J.B. has received research grants from Amgen, AstraZeneca, NovoNordisk, Pfizer, and Regeneron/Sanofi and honoraria for consultancy and lectures from Amgen, AstraZeneca, Eli Lilly, Merck, Novo-Nordisk, Pfizer, and Regeneron/Sanofi. E.B. has received honoraria from AstraZeneca, Amgen, Genfit, MSD, Sanofi-Regeneron, Unilever, Danone, Aegerion, Chiesi, Rottapharm, Lilly, and Servier and research grants from Amgen, Danone, and Aegerion. A.L.C. has received grants from Pfizer, Sanofi, Regeneron, Merck, and Mediolanum; non-financial support from SigmaTau, Menarini, Kowa, Recordati, and Eli Lilly; and personal honoraria for lectures/speakers bureau or consultancy from AstraZeneca, Genzyme, Menarini, Kowa, Eli Lilly, Recordati, Pfizer, Sanofi, Mediolanum, Pfizer, Merck, Sanofi, Aegerion, and Amgen. M.J.C. has received grants from Amgen, Kowa Europe, and Pfizer; and personal honoraria for lectures/speaker’s bureau from Akcea, Alexion, Amarin, Amgen, AstraZeneca, Daiichi-Sankyo, Kowa Europe, Merck/MSD, Pfizer, Sanofi, Regeneron, and Unilever. M.J.D., L.L.D., G.P., M.-R.T., and B.v.d.S. have no conflict of interest to declare. S.F. discloses compensated consultant and advisory activities with Merck, Kowa, Sanofi, Amgen, Amarin, and Aegerion. B.A.F. has received research grants from Merck, Amgen, and Esperion Therapeutics; and received honoraria for lectures, consulting and/or advisory board membership from Merck, Amgen, Esperion, Ionis, and the American College of Cardiology. H.N.G. has received grants and personal honoraria for consultancy from Merck; grants from Sanofi-Regeneron, Amgen, and Medimmune/AstraZeneca; and personal honoraria for consultancy from Janssen, Sanofi, Regeneron, Kowa, Pfizer, and Resverlogix. I.G. has received speaker fees from MSD and Pfizer relating to cardiovascular risk estimation and lipid guidelines, and consultancy/speaker fee from Amgen. R.A.H. has received grants and personal honoraria for consultancy from Acasti and Akcea/Ionis; grants from Regeneron and Boston Heart Diagnostics; and personal honoraria for consultancy from Aegerion, Amgen, Gemphire, and Sanofi. J.D.H. reports honoraria for consultancy from Gilead, Pfizer, Regeneron, Sanofi Aventis, Merck, Gemphire, BioEnergenix, and stock options from Catabasis. R.M.K. has received research grants, consultancy honoraria, and non-financial support from Quest Diagnostics and is also co-inventor of a licensed patent for measurement of lipoprotein particles by ion mobility. U.L. has received honoraria for lectures and/or consulting from Amgen, Medicines Company, Astra Zeneca, Berlin Chemie, Bayer, Abbott, and Sanofi. U.L. has received honoraria for board membership, consultancy, and lectures from Amgen, MSD, Sanofi, and Servier. L.M. has received honoraria for consultancy and lectures from Amgen, Merck, Sanofi-Regeneron, Mylan, and Daiichi-Sankyo. S.J.N. has received research support from Amgen, AstraZeneca, Anthera, Cerenis, Novartis, Eli Lilly, Esperion, Resverlogix, Sanofi-Regeneron, InfraReDx, and LipoScience and is a consultant for Akcea, Amgen, AstraZeneca, Boehringer Ingelheim, CSL Behring, Eli Lilly, Merck, Takeda, Pfizer, Roche, Sanofi-Regeneron, Kowa, and Novartis. B.G.N. reports consultancies and honoraria for lectures from AstraZeneca, Sanofi, Regeneron, Amgen, Akcea, Kowa, Novartis, Novo Nordisk. C.J.P. has received research support from MSD and honoraria from Sanofi/Regeneron, Amgen, and Daiichi-Sankyo. F.J.R. has received personal honoraria for consultancy and non-financial support from Amgen, Sanofi/Regeneron, and The Medicines Company. K.K.R. has received grants and personal honoraria for consultancy, advisory boards and/or lectures from Amgen, Sanofi, Regeneron, MSD, and Pfizer personal honoraria for consultancy, advisory boards and/or lectures from Abbvie, AstraZeneca, The Medicines Company, Resverlogix, Akcea, Boehringer Ingelheim, Novo Nordisk, Takeda, Kowa, Algorithm, Cipla, Cerenis, Dr Reddys, Lilly, Zuellig Pharma, Silence Theapeutics, and Bayer. H.S. has received research grants from AstraZeneca and honoraria for speaker fees/consultancy from AstraZeneca, MSD, Amgen, Bayer Vital GmbH, Boehringer Ingelheim, Novartis, Servier, Daiichi Sankyo, Brahms, Bristol-Myers Squibb, Medtronic, Sanofi Aventis, and Synlab. L.T. has received personal honoraria for lectures/speakers bureau or consultancy from MSD, Sanofi, AMGEN, Abbott, Mylan, Bayer, Actelion, Novartis, Astra, Recordati, Pfizer, Servier, and Novo Nordisk. She is also the President, European Atherosclerosis Society (EAS) and an Editorial Board Member, European Heart Journal. G.F.W. has received research support from Sanofi, Regeneron, Arrowhead and Amgen, and honoraria for board membership from Sanofi, Regeneron, Amgen, Kowa, and Gemphire. O.W. has received honoraria for lectures or consultancy from Sanofi and Amgen.
Nun zum Abschluss dieses länglichen Beitrags:
Dies ist die Realität der Medizin in einem Themenkomplex, der nicht irgendwelche seltenen Symptome betrifft, an den wissenschaftlich getüftelt wird. Nein, das ist der Umgang mit Wissenschaftlichkeit und Evidenz in der Behandlung der Massen bei Volkskrankheiten. Also Vorsicht, wann immer man meint, Quacksalbern pauschal "wissenschaftliche Medizin" entgegensetzen zu können.