Kulturgeschichte der Scheiße
Florian Werner schreibt über ein Tabu
Von Frauke Berndt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
„Die menschliche Kultur gründet auf der Scheiße“ – mit diesem an Klarheit nicht zu überbietenden Statement steigt Werner in deren Geschichte ein. In den zwölf essayistischen Kapiteln seines hinreißend klugen, kulturhistorisch hoch interessanten Buches verfolgt er die Spuren, die die menschlichen Exkremente in der westlichen Kultur hinterlassen haben – und zwar sowohl materialiter als auch symbolisch. Obwohl nämlich „die Scheiße unser Verständnis von Kultur, Gesellschaft, Gesundheit, Anstand, Humor und Identität“ prägt, verdrängen wir sie Tag für Tag ebenso hartnäckig wie erfolgreich.
Seine Spurensuche führt Werner – anknüpfend an die beschreibenden, und das heißt nicht zwischen hoch und niedrig, ernst und komisch, wertvoll und wertlos, heilig und profan, politisch korrekt und inkorrekt unterscheidenden Verfahren des New Historicism – von Platon zu South Park, von christlichen Traktaten zu medizinischen, biologischen und psychoanalytischen Lehrbüchern, von Kultur- zu Kunsttheorien, von Rabelais und Grimmelshausen zu Jonathan Franzen und Charlotte Roche, von Till Eulenspiegel zu Frank Zappa, vom mittelalterlichen Holzschnitt zu Marc Quinns „Shit Head“, von Dante zu Auschwitz, von Friedrich Nietzsches Ekel vor defäkierenden Frauen zum „Kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“.
Ausgangspunkt bilden die alltäglichen Umgangsformen mit unseren Fäkalien, die eine ganze Industrie der Verdrängung und Verleugnung in Gang halten. International treffen in unseren Badezimmern amerikanische Tiefspüler auf die japanische ‚Geräuschprinzessin‘ (Otohime), damit wir möglichst wenig von dem wahrnehmen müssen, dem wir doch eine nicht unerhebliche Zeit unseres Lebens widmen. Scham, Schuld und (Selbst-)Hass prägen diesen Umgang, den die Psychoanalyse seit Sigmund Freud ontogenetisch in den Entwicklungsstufen des Kindes auf dem Weg zu einer stabilen Ich-Identität begründet, für die es seinen Körper erkundet und beherrschen lernt. Dass dabei nicht immer alles ganz planmäßig läuft, dass ein Individuum der zweiten Phase verhaftet bleibt, prägt aber nicht nur den anal-retentiven Charakter, sondern vor allem sein Geiz legt in Werners scharfsinnigem Analogieverfahren die Wurzeln der westlich-kapitalistischen Ökonomie frei.
Später spielen Koprophilie sowie die streng(er) tabuisierte Koprophagie nur noch in sexuellen Perversionen eine Rolle. Das jedenfalls hat gegolten, bis Werner an die Demonstration absolutistisch begründeter Herrschaft in der Frühneuzeit erinnert, vor allem aber – und hier zeigt er uns die dunkle Kehrseiten der politischen Medaille – in der Erniedrigung, in der Folter. Diese politischen Dimensionen dokumentiert die hilflose Äußerungen des Nuklearphysikers J. Robert Oppenheimer – the atomic bomb is shit – mit der die Folgen ihres Abwurf am 6. und 9. August 1945 sicherlich nicht bewältigt werden können. Grauenerregend sind die Berichte aus den deutschen Konzentrationslagern, in denen die Entmenschlichung der Opfer deren Deprivation voraussetzt.
Mit ihrer Tabuisierung beziehungsweise mit der Energie, die nötig ist, um die Spannung zwischen den beiden Polen von Allgegenwärtigkeit und Tabuisierung zu neutralisieren, geht gewissermaßen eine kulturelle Logorrhoe einher. Unzählige Wörter für unsere Exkremente verdecken das paradoxe Verhältnis zur (Aus-)Sprache, die eigentlich nur schriflich das Paradox abbilden kann: „Scheiße“. Dabei beobachtet Werner den engen Zusammenhang dieser Wörter zum Lachen, das immer wieder für Entlastung sorgt, ja ganze literarische Gattungen wie beispielsweise das Fastnachtsspiel oder die Komödie beherrscht. Fäkalsprache und -humor prägen die Kommunikation im Sandkasten, im Klassenraum und natürlich am Stammtisch. In Figuren der Zirkulation oder der Substitution wird er in diesem Zusammenhang auch auf die „strukturelle[] Verwandtschaft zwischen Mund und Anus“ aufmerksam.
Sprachmagie – genauer gesagt: Dass man sie nicht beim Namen nennen darf, begründet für Werner die göttliche und/oder teuflische Macht der Scheiße. Dabei ist sein Gott nicht tot, sondern Kot, wenn Werner auf der einen Seite nach den christlichen Körperbildern sucht und etwa die Selbstwidersprüche der Menschwerdung des Gottessohnes verfolgt. Milan Kundera hält die Scheiße sogar als ein „schwierigeres theologisches Problem als das Böse“. Dass wir es allerdings auch im religiösen Bereich mit einer Kippfigur zu tun haben, beweist die Tatsache, dass Exkremente selbst auch heilig sein können, wie nicht zuletzt Mr. Hanky – der Weihnachtskot – den Bewohnern von South Park offenbart: „ein sprechender, singender Scheißhaufen mit stark messianischen Zügen“. Auf der anderen Seite wird auch die Hölle mit einer Kloake verglichen – eine vertikale Verdammnis- und Heiltopografie, die Werner einerseits in der Anlage moderner Großstädte wiederfindet. Andererseits weist er darauf hin, dass wir den Teufel selbst in unseren Eingeweiden vermuten. Frei nach Slavoj Zizek heißt das: „Scheiße ist ein Alien, eine teuflische Besatzungsmacht, ein Dämon, der es sich in uns bequem gemacht hat“.
Gerade wegen ihrer Innerlichkeit ihrem Innewohnenden erweisen sich die Fäkalien indes als authentische Materie, deren Aura des Realen sie zum Werkstoff moderner Kunst – abject art – macht, ja sie gewissermaßen den Platz des Absoluten (in) der Kunst einnehmen lässt. Dass diese Kunst freilich mit der Lust an der Tabuverletzung einhergeht, zeigen die Arbeiten von Künstlern wie Dieter, Roth, Paul McCarthy, Mike Kelley, Wim Delvoy oder Chris Ofili. Dabei macht dieses Material nicht zuletzt in der notorisch-pubertären Bewirtschaftung der Vater-Sohn-Beziehung der (männlichen) 1968er-Generation Karriere, was nicht zuletzt wiederum selbst zu barer Münze wird, wenn sich der Wert von Piero Marzonis Dose mit der „Merda d’artista“ (1961) im vergangenen halben Jahrhundert vervielfacht hat.
Von der Kunst schlägt Werner schließlich den Bogen zur Kreativität – zu den Kopfgeburten. Freuds ‚Kloakentheorie‘ weiterdenkend (nach der das Kind glaubt, es sei durch den Darm geboren) widmet er sich den Fantasien autoerotischer Selbsterzeugung, bei dem „ein selbstgemachter Penis aus Exkrementen die Ersatz-Vagina, den Enddarm, von innen penetriert“. „Dass die Prozesse des Denkens und des Verdauens inniglich miteinander verbunden sind, würde wohl kaum ein Mediziner bestreiten“, ja die auffallende Ähnlichkeit der grauen Materie mit dem Dünndarm setzt ihrerseits imaginäre Energien frei. In selbstreferentieller Volte schließt Werner seine „Geschichte der Scheiße“ mit einer mise en abyme, sei doch das Schreiben ebenso wie das Denken und Sprechen exkrementaler Natur: Der Autor ‚scheißt‘ seine Bücher, der Leser frisst und verdaut sie, „so dass letzten Endes auch der Leser nicht umhinkommt, seinen Eingeweiden Luft zu verschaffen und sich von dem Druck in seinem Innersten zu befreien“ – und sei es dadurch, dass er beziehungsweise. sie Florian Werners „Dunkle Materie“ zu rezensieren hat.