@mae_thoranee mae_thoranee schrieb:dein link ist tot...bist du verfasserin dieses auszuges?
falls ja, vielleicht, kannst du mir bei dem abschnitt mal weiterhelfen. irgendwie erscheint es mir, als wenn etwas fehlen würde...oder hab ich da justamente verständnisprobleme.
Der Verfasser ist John Welwood, und ich nehme an, es handelt sich hier um einen Auszug aus einem seiner Bücher. Hier ist der ganze Text.
http://www.dharmaandpsyche.com/John%20Welwood%20Artikel.pdfS.1
...Tendenz zu spiritueller Umgehung — wenn spirituelle Ideen und Praktiken benutzt werden, um persönliche, emotional ungelöste Probleme („unfinished business“) zu vermeiden, um ein instabiles Selbstgefühl abzustützen oder Grundbedürfnisse, Gefühle und Entwicklungsaufgaben zu verharmlosen, alles im Namen der Erleuchtung. Und daher vermitteln sie Schülern oft Lehren vom Transzendieren des Selbst, die zuallererst einen Boden finden müssen, auf dem sie stehen können.
S.1....Ereignissen davongetragen, über die ich keine Kontrolle hatte. Es war klar, dass meine ganze spirituelle Praxis den Rest von mir nicht berührt hatte — alle die alten Ängste, Verwirrungen und unbewussten Muster, die mir ins Gesicht schlugen, als ich in den Westen zurückkehrte.“
S.1...
Spirituelle Umgehung
Zu spiritueller Praxis gehört Befreiung des Bewusstseins von seiner Verwicklung in Form, Materie, Emotionen, Persönlichkeit und soziale Konditionierung. In einer Gesellschaft wie der unsrigen, wo das ganze irdische Fundament überhaupt schwach ist, ist es eine Versuchung, Spiritualität als ein Mittel zu benutzen, sich über diesen unsicheren Boden zu erheben. So wird Spiritualität einfach zu einer anderen Weise, wie die eigene Erfahrung abgelehnt wird. Wenn Menschen spirituelle Praxis benutzen, um zu versuchen, niedriges Selbstwertgefühl, soziale Entfremdung oder emotionale Probleme zu kompensieren und auszugleichen, entstellen sie die wahre Natur spiritueller Praxis. Statt das manipulative Ego zu lockern, das versucht, seine Erfahrung zu kontrollieren, stärken sie es weiter.
Spirituelle Umgehung ist in Zeiten wie der unsrigen eine starke Versuchung, wenn zunehmend schwer zu erreichen und schwer zu fassen geworden ist, was einst gewöhnliche Orientierungspunkte der Entwicklung waren — Verdienen eines Lebensunterhalts durch würdige, sinnvolle Arbeit, Gründen einer Familie, Unterhalten einer langfristigen intimen Beziehung, Zugehörigkeit zu einer größeren sozialen Gemeinschaft. Aber wenn Menschen Spiritualität benutzen, um ihre Schwierigkeiten mit dem Funktionieren in der modernen Welt zu verdecken, bleibt ihre spirituelle Praxis in einem abgetrennten Abteil und wird nicht mit dem Rest ihres Lebens integriert.
S.2Wenn Spiritualität benutzt wird, um Versäumnisse oder Mängel der Individuation auszugleichen — sich psychisch von den Eltern abzulösen, Selbstrespekt zu kultivieren oder der eigenen Intelligenz als Quelle der Führung zu vertrauen -, führt das auch zu vielen der sogenannten Gefahren des Weges: zu spirituellem Materialismus (Benutzen von Spiritualität, um ein instabiles Ich abzustützen), Grandiosität und Inflation des Selbst, zu einer Mentalität des „wir gegen sie“, Gruppendenken, zu blindem Glauben an charismatische Lehrer und zu Verlust des Unterscheidungsvermögens. Spirituelle Gemeinschaften können zu einer Art Ersatzfamilie werden, bei der der Lehrer als der gute Elternteil betrachtet wird, während die Schüler danach streben, gute Jungen oder gute Mädchen zu sein, die sich der Parteilinie unterwerfen, dem Lehrer quasi als Eltern zu gefallen oder sich anzutreiben, die Leiter spirituellen Erfolgs zu erklimmen. Und die spirituelle Praxis wird von unbewussten Identitäten in Anspruch genommen und benutzt, um unbewusste Abwehrmechanismen zu verstärken.
Zum Beispiel benutzen Menschen, die sich hinter einer schizoiden Abwehr verbergen (zu Isolation und Rückzug Zuflucht nehmen, weil sich der zwischenmenschliche Bereich bedrohlich anfühlt), oft Lehren über Aufgeben von Anhaftung und Entsagung, um ihre Unnahbarkeit, unpersönliche Art und Distanziertheit zu rationalisieren, während sie sich eigentlich mehr verkörpern und mehr auf sich selbst, auf andere und auf das Leben einlassen müssten. Unglücklicherweise macht die Betonung unpersönlicher Realisierung, wie man sie in Asien kennt, es entfremdeten westlichen Schülern leicht, sich vorzustellen, dass das Persönliche im Vergleich mit der ungeheuren Weite des großen Jenseits von geringer Bedeutung ist. Solche Schüler sind oft von den Lehren über Selbstlosigkeit und letzte, eigentliche Zustände angezogen, die eine Begründung dafür zu bieten scheinen, sich nicht mit ihrer seelischen Verletztheit zu befassen. So benutzen sie östliche Lehren, um ihre Unfähigkeit im persönlichen und zwischenmenschlichen Bereich zu verschleiern.
Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstruktur, die versuchen, anderen zu gefallen, um Bestätigung und Sicherheit zu bekommen, dienen dem Lehrer oder der Gemeinschaft oft großzügig, um ihren Wert und um sich gebraucht zu fühlen. Sie verwechseln eine ko-abhängige Version der Selbstverleugnung mit wahrer Selbstlosigkeit. Spirituelles Engagement ist besonders heikel für Menschen, die sich hinter einer narzisstischen Abwehr verstecken, weil sie Spiritualität benutzen, um sich als etwas Besonderes und wichtig zu fühlen, während sie vorgeblich an der Befreiung von ihrem Selbst arbeiten.
Spirituelle Umgehung beruft sich oft auf eine rationale Begründung, die darauf beruht, dass absolute Wahrheit benutzt wird, um relative Wahrheit zu leugnen oder zu entwerten. Absolute Wahrheit ist das, was ewig, jetzt und immer, jenseits irgendeiner besonderen Sichtweise wahr ist. Wenn wir absolute Wahrheit nutzen, können wir die göttliche Schönheit oder größere Vollkommenheit erkennen, die im Ganzen der Realität wirksam ist. Zum Beispiel verringern aus dieser weiteren Perspektive die Morde, die in diesem Moment in Brooklyn verübt werden, nicht diese göttliche Vollkommenheit, denn das Absolute umfasst das ganze Panorama von Leben und Tod, in dem Sonne, Galaxien und Planeten ständig geboren werden und sterben. Von einem relativen Standpunkt aus gesehen aber - wenn man die Frau eines Mannes ist, der heute Nacht in Brooklyn ermordet wird —, wird man wahrscheinlich nicht von der Wahrheit der letzten Vollkommenheit berührt sein. Vielmehr wird man menschliche Trauer empfinden.
Es gibt zwei Weisen, wie absolute und relative Wahrheit verwechselt werden. Wenn man den Mord oder die Trauer benutzt, um das höhere Gesetz des Universums zu leugnen oder anzugreifen oder anzuklagen, begeht man den relativistischen Fehler. Man versucht, das, was auf der horizontalen Ebene des Werdens wahr ist, auf die vertikale Dimension reinen Seins anzuwenden. Wer eine spirituelle Hintertür benutzt, begeht den umgekehrten Kategorienfehler, den absolutistischen Fehler: Er benutzt absolute Wahrheit, um relative Wahrheit zu entwerten. Seine Logik könnte zu einer Schlussfolgerung wie dieser führen: Da alles letztlich im größeren kosmischen Spiel vollkommen ist, ist Trauern um einen Verlust von jemandem, den man liebt, ein Zeichen spiritueller Schwäche.
Psychologische Realitäten repräsentieren relative Wahrheit. Sie sind relativ zu bestimmten Individuen in bestimmten Umständen.
Auch wenn man vielleicht weiß, dass auf der absoluten, transhumanen Ebene letztlich kein individueller Tod wichtig ist, kann man dennoch tiefe Trauer und Bedauern über den Tod eines Freundes empfinden — auf der relativen, menschlichen Ebene. Weil wir auf diesen beiden Ebenen leben, ist in gewisser Weise auch das Gegenteil dessen, was wir aussagen, wahr. Jesus' Rat: „Liebe deine Feinde“ und „Halte die andere Wange hin“ haben ihn nicht davon abgehalten, gegenüber den Geldwechslern im Tempel oder gegenüber den scheinheiligen Pharisäern seinen Ärger auszudrücken.
Ähnlich kann es erscheinen, dass unsere Alltagserfahrungen oft im Widerspruch zu der höchsten Wahrheit stehen. Dies führt zu Unsicherheit und Ambivalenz. Für viele Menschen ist die Verschiedenheit dieser zwei Ebenen der Wahrheit verwirrend oder irritierend. Sie meinen, dass die Realität ganz das eine oder das andere sein sollte. Sie versuchen, alles mit einer einzigen Ordnung in Übereinstimmung zu bringen, und werden so zu blinden Optimisten des New Age oder zu bitteren Zynikern.
Weil wir als Menschen auf zwei Ebenen leben, können wir die Realität niemals auf eine einzige Dimension reduzieren. Wir sind nicht nur diese relativen Organismen mit Körper-Geist, wir sind auch absolutes Sein, Bewusstheit und Präsenz, was umfassender als unsere körperliche Form oder persönliche Geschichte ist. Aber wir sind auch nicht nur dieses größere, formlose Absolute, wir sind auch als dieses bestimmte Individuum inkarniert. Wenn wir uns total mit Form identifizieren — mit unserem Körper, unserem Geist oder unserer Persönlichkeit —, bleibt unser Leben auf bekannte, vertraute Strukturen beschränkt. Aber wenn wir versuchen, nur als reine Leere oder absolutes Sein zu leben, haben wir es möglicherweise schwer, uns ganz auf unser Menschsein einzulassen.
Auf der Ebene absoluter Wahrheit ist das persönliche Selbst letztlich nicht real, auf der relativen Ebene muss es respektiert werden. Wenn wir die Wahrheit des Nicht-Selbst (no-self) benutzen, um zu vermeiden, jemals gegenüber jemandem, den wir lieben, persönliche Aussagen machen zu müssen, wie „Ich möchte dich besser kennenlernen“, wäre dies eine Perversion.