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24.10.2022 um 13:22Original anzeigen (0,4 MB)
Die Autoren besuchten das Russische Schamanenfestival 2019, das von der 'Always Blue Sky' Shaman Association organisiert wird.https://www.hs.fi/kulttuuri/art-2000009140568.html
FOTO: DARIA KUZNETSOVA, MARKO NENONEN
Schamanen werben für den Krieg in Russland
In Russland werden sogar die Geister der Toten für den Krieg rekrutiert.
Marko Nenonen, Daria Kuznetsova
23.10. 2:00 | Aktualisiert 23.10. 13:34
In Russland hatte in den 1990er Jahren jeder Geschäftsmann, der etwas auf sich hielt, zwei Geliebte. Jetzt haben sie zwei Schamanen.
Dies schrieb die russischsprachige Ausgabe des Lifestyle-Magazins Tatler im November 2020. Schamanismus ist in Russland inzwischen zu einem Trend geworden.
Und jetzt halten Schamanen Trommelzeremonien ab, um die Geister der Toten zu wecken, um die Kriegsanstrengungen gegen die Ukraine zu unterstützen.
Wir begannen unsere Untersuchung der neoschamanistischen Bewegung in Russland vor der Coronapandemie. Die durch die Pandemie verursachten Einschränkungen hatten die Arbeit unterbrochen, aber durch eine Reihe von Wendungen konnten wir sie fortsetzen. Obwohl das Reisen fast unmöglich wurde, half uns die Tatsache, dass die Plattformen der sozialen Medien nicht verstummten.
Unsere Forschung gelangte in eine sehr seltsame Situation, als Russland im Februar 2022 einen Krieg gegen die Ukraine begann. Die Trommeln der schamanischen Sitzungen, die uns auf unseren Reisen mit den Geistern der Toten in Kontakt gebracht und die Heiligkeit der geistigen Kraft verkündet hatten, begannen nun in der Stimmung von militärischen Marschgesängen zu trommeln.
Ein bekanntes Beispiel lieferte der Leiter einer schamanischen Organisation, der sich als Krieger verkleidete und sich mit einem Sturmgewehr auf dem Schoß fotografieren ließ. Das Video wurde auf Telegram geteilt.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewann die schamanische Religion unter einigen der russischen Minderheiten schnell an Bedeutung. Der Schamanismus war früher Teil der Tradition dieser Völker, und wurde nach dem Sozialismus wieder Teil des Wiedererlangung ihrer Identität.
Auf unserer Reise nach Südsibirien im Jahr 2019 untersuchten wir den Schamanismus dreier Minderheitenvölker - der Tuwiner, der Chakassen und der Burjaten. Wir haben auch an dem mehrtägigen Schamanenfestival in Angarsk teilgenommen. Es soll das erste landesweite Schamanenfest in Russland gewesen sein.
Das Festival fand auf den weitläufigen Wiesen der Schamanen-Organisation 'Always Blue Sky' (Бечно Синее Небо) statt. Mehr als hundert Schamanen aus ganz Russland, zum Teil aus Tausenden von Kilometern Entfernung, nahmen an der Versammlung teil. Viele Schamanen kamen mit ihren Familien und sogar mit sehr kleinen Kindern zum Festival.
Vor Ort waren auch junge, lernwillige Schamanen. Die älteren Weisen waren in der Minderheit. Das Fest umfasste Reden, Kehlkopfgesang, traditionelle Tänze, Schamanenrituale und natürlich Essen. Es gab keinen Alkohol, auch nicht bei den langen abendlichen Zusammenkünften.
Während des Festes hielten die Schamanen auch eine spektakuläre Trommelzeremonie um das "heilige Feuer" ab, um den Wohlstand Russlands zu feiern.
Obwohl Patriotismus als etwas grundsätzlich Positives angesehen wird, ist die Durchführung einer solchen Zeremonie im Schamanismus umstritten.
Der Schamane war in erster Linie ein Helfer für seine Familie oder die Dorfgemeinschaft und ein über die eigenen Geister Wissender. An die Stelle der Familie ist nun der gesamte russische Staat getreten, für dessen Wohlstand die Trommeln geschlagen werden.
Als Russland seine Invasion in der Ukraine begann, wurde das Echo der Trommelzeremonien kriegerisch. Kurz nach Kriegsbeginn leitete der oberste Schamane des Landes, Dopchun-ool Kara-ool Tyulyushevich, eine Zeremonie in Kyzyl in der Republik Tuwa. Bei der Zeremonie wurde der Wunsch geäußert, dass jeder russische Soldat seinen Auftrag mit Ehre erfüllt und gesund nach Hause zurückkehrt.
Wie beabsichtigt, fand die Zeremonie landesweit Beachtung. Der russische Oberste Schamane postete das Ereignis in den sozialen Medien, und mehrere russische Medienhäuser berichteten darüber.
Seitdem haben solche Zeremonien Berichten zufolge in ganz Russland stattgefunden, auch in Moskau.
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Visitenkarte des russischen Obersten Schamanen Kara-ool. FOTO: DARIA KUZNETSOVA, MARKO NENONEN
Sehr bald darauf war Tjuljuschewitsch wieder in den Schlagzeilen. Nach Angaben der russischen Yamal Media hatte er seine Vorfahren gefragt, wie lange die "Sonderoperation" in der Ukraine dauern würde. Die Botschaft des Geistes war nicht ganz eindeutig, da ihm nur die Zahl fünf genannt wurde. Tjuljuschewitsch interpretierte, dass der Krieg - den man in Russland vor allem zu dieser Zeit nicht als Krieg bezeichnen konnte - fünf Monate dauern würde.
Das setzt allerdings voraus, dass Russland die Operation in Ruhe durchführen kann. Aber der Krieg wird fünf Jahre dauern, wenn die NATO-Länder Russland angreifen.
Der burjatische Schamane Artur Tsibikov hat ebenfalls seine eigene Einschätzung über die Dauer der Sonderoperation abgegeben. Er ist Vorsitzender der Schamanenorganisation 'Always Blue Sky‘. Zibikow wurde von seinen Vorfahren im März 2022 mitgeteilt, dass die Sonderaktion 300 Tage dauern würde.
Die Vorfahren hatten auch darum gebeten, dass Zibikow nicht nur für die burjatischen Soldaten betet. Man solle für die Wiederherstellung der gesamten slawischen Welt beten. Dann würde die Operation so schnell wie möglich beendet und die Ukraine, Weißrussland und Russland wären als eine Familie vereint.
Schon damals war bekannt, dass sich unter den Männern, die in den Krieg geschickt wurden, zahlreiche aus dem Minderheitenvolk befanden. Zibikow zufolge erklärt sich die große Zahl der Burjaten durch ihre Loyalität gegenüber ihrem Land. Er erklärte, dass Ausdrücke wie "Putins Burjaten" und "kämpfende Schamanen", die ebenfalls in der Sprache bekannt sind, die Rolle der Burjaten beim Aufbau von Großrussland unterstreichen.
Die Schamanen haben die Aufgabe, für die Rückkehr der Burjaten zu beten, und viele der Männer seien auch zu ihren Familien zurückgekehrt, erklärte er.
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Das Russische Schamanenfestival 2019 bot spektakuläre Trommelzeremonien. FOTO: DARIA KUZNETSOVA UND MARKO NENONEN
Der Schamanismus in Russland ist nicht nur eine Lebensweise oder eine Philosophie. Schamanen bemühen sich um die Anerkennung ihrer Religion als fünftwichtigste offizielle Religion Russlands - und Putins Unterstützung könnte dabei hilfreich sein.
Die wichtigsten Religionen wurden in den 1990er Jahren im Gesetz über religiöse Organisationen definiert. Es sind das Christentum, der Islam, das Judentum und der Buddhismus. Die russisch-orthodoxe Kirche hat eine beherrschende Stellung.
Alle religiösen Organisationen im Land müssen sich registrieren lassen, unabhängig davon, ob sie die Hauptreligionen des Reiches sind oder nicht. Dies gilt auch für schamanische Organisationen. Andernfalls kann die Organisation keine religiösen Aktivitäten ausüben oder eine eigene Klinik eröffnen.
Um als Hauptreligion anerkannt zu werden, muss der Schamanismus auf nationaler Ebene organisiert sein. Es gibt bereits verschiedene Organisationen. Ihren Angaben zufolge waren im Jahr 2021 offiziell mehr als viertausend Schamanen in Russland tätig.
Die nationale Organisation erfordert auch eine offizielle Vertretung der schamanischen Organisationen. Auch hier sind Fortschritte zu verzeichnen. Im Jahr 2017 wählten die russischen Schamanen zum ersten Mal den obersten Schamanen Russlands, das nationale Oberhaupt. Die Amtszeit beträgt drei Jahre, aber wegen der Coronapandemie wurde die sich anschliessende Amtszeit ohne Zeremonie durchgeführt.
Eine besondere Schwierigkeit für die Schamanen besteht darin, den Status einer Hauptreligion zu erreichen. Eine solche Position erfordert eine Vereinheitlichung des Dogmas bzw. der Lehrinhalte. Es wird interessant sein zu sehen, wie dies erreicht werden kann. Selbst auf lokaler Ebene haben die Schamanen sehr unterschiedliche Ansichten darüber, was Schamanismus ist und wie Schamanen arbeiten.
Es gibt auch unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Schamanismus, der auf den Traditionen der eigenen Familie und des eigenen Volkes beruht, überhaupt eine landesweite und dogmatisch einheitliche Angelegenheit sein kann.
In jedem Fall erleichtert die Registrierung von schamanischen Organisationen den Behörden die Überwachung ihrer Aktivitäten. Sie bringt aber auch Vorteile für die Schamanen mit sich, da registrierte Organisationen finanzielle Unterstützung von den Gemeinden und andere Zuschüsse erhalten können.
Viele Schamanen glauben auch, dass die Registrierung die Kommerzialisierung und den Betrug eindämmen wird, die sich um den Schamanismus herum entwickelt haben. Wir haben zum Beispiel einen jungen Mann interviewt, der sich als Schamane ausgab, ein bemerkenswertes Outfit trug, aber nur durch einen Blick auf bestimmte Websites vom Thema wusste. Auf seiner eigenen Website verkaufte er alle Arten von Schmuckstücken als schamanische Gegenstände.
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Schamanische Klinik in der Hauptstadt von Adur Ere Tuva. FOTO: DARIA KUZNETSOVA UND MARKO NENONEN
Aber Fortschritte in der Entwicklung der schamanischen Glaubensdogmatik wurden nur dort gemacht, wo die religiösen Führer schon immer zuerst waren: bei der Verteidigung der Handlungen ihrer Herrscher und der Segnung von Kriegen. In der Geschichte ist es üblich, dass religiöse Rituale die Handlungen von Staatsoberhäuptern und sogar deren Kriege segnen. Es ist die übliche Allianz zwischen Politik und Religion.
In der Ukraine kämpfen außergewöhnlich viele Männer aus Minderheitenvölkern für Großrussland. Schon als im April 2022 die ersten Opfer zu beklagen waren, wurde deutlich, dass ein großer Teil der Toten Männer aus den russischen Aussenbezirken stammte. Von Trauernachrichten in der Region Moskau war nichts zu hören.
Seitdem hat es aber auch Opfer aus der Region Moskau gegeben, doch die Mehrheit der Toten stammt nach wie vor aus den Außenbezirken der Republiken.
In diesen Gebieten kann die Armee eine Lebensgrundlage bieten, die es anderswo nicht gibt. Die politische Führung Russlands hat es vermieden, Soldaten aus den großen verwestlichen Städten zu entsenden. Wenn der Krieg aus den Augen ist, muss Präsident Wladimir Putin die Unzufriedenheit der städtischen Mittelschicht nicht fürchten.
Es war bekannt, dass die Entsendung von Truppen aus St. Petersburg und Moskau die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen und die Unterstützung des Präsidenten schwächen könnte.
Dies war dann auch sofort der Fall, als die begrenzte Mobilmachung am 21. September beschlossen wurde. Passiver Widerstand ist einer der Gründe für das Scheitern der Mobilmachung.
Die Rekrutierung von Soldaten aus Minderheitenrepubliken stellt eine besondere Gefahr für die Minderheitenbevölkerung dar. Die politische Führung profitiert, wenn Männer aus Minderheiten sterben. Sie schwächt nämlich auch nationalistische Bewegungen.
Ob die Rekrutierung von Soldaten aus bestimmten Regionen auch ein bewusster Teil der Unterdrückung der Identität der Minderheitenvölker Großrusslands ist, wer weiss. Einige Vertreter von Minderheitenvölkern wie der Krimtataren-Vertreter Refat Tschubarow sprechen bereits von ethnischer Säuberung.
Sicher ist, dass sich die Anwerbung auf Minderheitengemeinschaften auswirkt. So gibt es zum Beispiel etwa Viertelmillion Tuwiner in ihrer Republik. Selbst eine relativ geringe Zahl von Opfern hat Auswirkungen auf die Demografie.
Die Ironie der Geschichte ist offensichtlich. Schamanen, die die Identität ihres eigenen Minderheitenvolkes betonen, werden nur dann zu politischen Akteuren auf nationaler Ebene, wenn sie sich einer Regierung anschließen, der seit Jahrzehnten vorgeworfen wird, Minderheitenvölker zu vernachlässigen oder gar zu verfolgen. Ob diese Komplizenschaft den Minderheitsvölkern oder gar der Anerkennung der Religion der Schamanen hilft, wissen nur die Geister - falls es sie gibt.
Auch in diesem Punkt sind sich die Schamanen nicht einig. Einige haben sich offen gegen die Staatsführung gestellt.
Im März 2019 begann beispielsweise der jakutische Schamane Alexander Gabyschew einen 8.000 Kilometer langen Fußmarsch von Sibirien nach Moskau mit der Absicht, Putin spirituell zu vertreiben und die Demokratie zu verteidigen.
Seine Demonstration fand in den sozialen Medien und in den Nachrichten große Beachtung. Bereits im Herbst 2019 wurde er wegen öffentlicher Aufstachelung zum Extremismus angeklagt. Seine Reise wurde wiederholt unterbrochen. Schließlich wurde er für psychisch krank erklärt und gegen seinen Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.
Schamane Aleksandr Gabyshev hatte keinen Erfolg. Aber der Versuch war sicherlich näher an der Essenz des Schamanismus als an militanter Kriegslust. Spiritualität und die Macht des Geistes sind uralte Werte des Schamanismus.
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Marko Nenonen und Daria Kuznetsova
Dos. Marko Nenonen ist Universitätslektor an der Universität von Tampere.
Daria Kuznetsova ist Master der Philosophie in Tampere.