Outis schrieb:ich glaube kaum das ein Analphabet sehr überzeugend daherkäme wenn er sich
auf ein "es steht geschrieben" berufen würde.
ALso hier schlagen ständig welche auf, die erklären "Im Mittelalter dachten die Menschen, die Erde wäre ne Scheibe", oder "Die Wissenschaft hat Evolution schon bewiesen" oder "Kolumbus, Galilei und Schliemann wurden verlacht" und und und. Alles nur Hörensagen, nix davon durch Quellenstudium - wie auch! Nee, Du, es wird so viel geglaubt, weil man es so oft schon gehört hat. Heute, und ganz gewiß auch damals.
Ich für meinen Teil habe jedenfalls keine Zweifel, wenn ich zu ner Lesung gehe und höre, was der Typ mit dem Buch in der Hand so alles erzählt, während er da reinschaut: daß er das auch tatsächlich vorliest. Klar könnte der mich auch veräppeln, aber davon geh ich schlicht nicht aus.
Outis schrieb:Der Vollständigkeit wegen trotzdem noch ein paar Beispiele zum Thema lesen:
Matthäus 19 Vers 4: Habt ihr nicht gelesen.......
Markus 2 Vers 25: Habt ihr noch nie gelesen.......
Lukas 10 Vers 26: Was steht denn im Gesetz Gottes? Was liest Du dort?.......
Markus 12 Vers 10: Habt ihr nicht die folgende Schriftstelle gelesen.......
Markus 12 Vers 26: Habt ihr nicht bei Mose gelesen.......
In der Lukasstelle sagt Jesus das zu einem Gesetzesgelehrten (Vers 25). In der Matthäusstelle wie in der ersten Markusstelle spricht Jesus zu Pharisäern (ebenfalls direkt im Vorvers). Markus 12,10 ist Teil eines Streitgespräches von 11,27-12,12. Jesus diskutiert im Tempel mit den Hohepriestern, Schriftgelehrten und Ältesten (11,27). Und Markus12,26 ist Teil eines anschließenden Gesprächs mit den Sadduzäern (Vers 18) in Markus12,18-27. Der Vollständigkeit halber gabs dazwischen noch einen Disput mit den Pharisäern und Herodianern, und zum Schluß noch ein Gespräch mit einem einzelnen Schriftgelehrten. Alles im Tempel, den er erst in Kapitel 13 verläßt.
Alle diese Personen bzw. Gruppen, alle diese können lesen und schreiben.
Und genau dieser Befund ist so aussagekräftig. Zu erwiesenermaßen schriftkundigen Personen bzw. Gruppen spricht Jesus auch davon, daß sie gelesen haben. Doch spricht er zu einer indefiniten Menschengruppe oder zu konkreten Einzelgestalten, die nicht (bzw. nicht alle bzw. nicht bekannt) zu diesen Gruppen mit gesicherter Lesekenntnis gehören, dann kommt nie ein "habt gelesen", sondern allenfalls ein "habt gehört". Gerade dieser Befund zeigt deutlich, daß es damals allgemein bekannt war, welche Gruppen garantiert lesen konnten, sowie daß ansonsten die Fähigkeit zum Lesen nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden konnte. Dazu muß keine der Geschichten historisch sein.
Selbst in einem Roman wird niemand von der Reeperbahn in München oder dem Brandenburger Tor mit der Quadriga in Hamburg oder dem Hofbräuhaus in Berlin schreiben. Weil jeder es besser weiß, der Romanautor wie seine erhoffte Leserschaft. Und genau aus diesem Grund sind die Evangelien für einen Historiker, der sie inhaltlich für Märchen halten mag, dennoch
ein veritables historisches Dokument für z.B. die Frage, welche Gruppierungen gesichert des Lesens mächtig waren in Judäa, und sogar für die Frage, ob Lesen in der Bevölkerung Judäas ein Allgemeingut war.