Rao schrieb:Die Analphabetentheorie hängt sich vermutlich an die jahrhundertelang im Christentum verbreitete aber falsche Mär an, daß Jesus aus einfachsten Verhältnissen stammte, wegen des Stief(?)vaters Josef, der als Zimmermann arbeitete - dabei wird immer wieder erwähnt, daß Jesus aus königlichem jüdischem Geblüt von David her stammte, und bei den Mitgliedern der "königlichen Linie" wurde auf eine umfassende Bildung geachtet
Aus welcher Quelle hast Du denn das, daß die, die sich für Nachkommen Davids hielten, stets aufs Lesenlernen ihrer Kinder achteten und nicht in "einfachsten Verhältnissen" lebten?
Argus7 schrieb:Für mich immer wieder erstaunlich, was für ein verfälschtes Bild die gläubigen Christen von ihrem Jesus haben. Es ist nämlich schlichtweg falsch, dass Jesus "die heiligen Schriften in- und auswendig und bis auf Wort" gekannt hat.
Daß Jesus die heiligen Schriften seines Volkes in- und auswendig kannte, das kannst Du meinetwegen als ungesichert, in diesem Sinne sogar (an)haltlos bezeichnen. Aber für "schlichtweg falsch" brauchst Du schon mehr als nur das Fehlen gesicherter Belege pro Schriftkenntnis.
Ohnehin sieht die Forschung die Sache doch ein bisserl anders, was die Quellenlage für die Zeit und Gegend Jesu im allgemeinen betrifft sowie im speziellen, wie das NT als historische Quelle zu behandeln sei. Nehmen wir mal die Geschichte von der Heilung eines Gelähmten. Jesus kommt nach Kapernaum in Galiläa und predigt in einem Haus. Einige Leute tragen einen Gelähmten auf einer Liege herbei, kommen aber wegen der Menschenmassen nicht zu Jesus vor. Also steigen sie aufs Dach, decken es erst ab und brechen es dann auf, und lassen schließlich den Lahmen auf seiner Pritsche herunter. Historisch? Gut möglich, daß nicht. ABER: Die Ortschaft ist historisch, die gab es wirklich. Und in Galiläa baute man die Dächer mit Hölzern, Zweigen und Lehm und decktesie dann ab, sodaß man in sie Löcher brechen konnte. Das heißt, solche Geschichten geben durchaus das historische Lokalkolorit wieder. Eben auch so etwas, ob ein Mann wie Jesus lesen konnte oder die heiligen Schriften kannte.
Klingt verrückt, ist aber so: Die Leute glaubten eher, daß ein heiliger Mann Wunder vollbringen kann, als daß ein heiliger Mann ohne Ausbildung lesen könne. Entsprechend muß in dieser Geschichte nicht erklärt werden, wieso die Leute von Jesus Wunder erwarten, es reicht die Vorgeschichte, daß Jesus schon vorher Wunder getan haben soll und sich diese Kunde verbreitet hat. Aber wenn es heißt, er geht in eine Synagoge und liest dort vor, dann wäre dies eine zu erklärende Sache gewesen - wenn dies bei Wanderpredigern nicht generell als gegeben angenommen werden kann. Historisches Kolorit eben, Prediger können lesen (oder aus dem Gedächtnis rezitieren), haben also eine entsprechende Ausbildung.
Die Sache ist die. Egal, wie eingefärbt und tendenziös die Evangelien von Jesus berichten - war er ein Wanderprediger, kannte er die Schriften und konnte sicher auch lesen.
Argus7 schrieb:Da aber - wie bereits mehrfach erwähnt - keine von Jesus selbst geschriebenen Worte existieren, gehen einige Leute davon aus, dass er möglicherweise Analphabet gewesen sei. Eine zwar logische aber nicht zu beweisende Annahme.
Logisch wäre sie, wenn die Evangelientexte einen Erklärungsnotstand gehabt hätten, wenn sie ihm Kenntnis der Schriften, Lesen und sogar Schreiben andichten. Haben sie aber nicht, sie erwähnen das wie selbstverständlich.
So selbstverständlich wie in Grimms Märchen vom Glückskind, auch als Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren bekannt. Ein König versucht, ein Kind töten zu lassen, über das geweissagt war, daß es des Königs Tochter heiraten und selber König werden würde. Doch das Kind überlebt und wächst bei einem Müller auf. Der König findet es jahre später heraus und schickt den Jungen mit einem Brief zum Schloß, in dem stand, daß der Überbringer getötet werden solle. Auf dem Weg gerät der Junge unter die Räuber. DIe lesen den Brief, haben Mitleid und schreiben einen neuen Brief, wonach der Überbringer mit der Königstochter vermählt werden sollte. Nun war es in Deutschland vor ein paar Jahrhunderten durchaus sehr ungewöhnlich, daß einfache Leute lesen konnten. Wieso wurde da niemand stutzig, daß selbst dreckige Räuber im finstern Walde fernab der Zivilisation lesen konnten? - Nicht ohne Grund! Vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg fanden viele Söldner nicht ins zivile Leben zurück, hatten oft nichts anderes als das Waffenhandwerk gelernt. Um zu überleben verlegten sich ganze Einheiten aufs Räubern, weswegen man den Chef einer solchen Bande auch Räuber
hauptmann nannte. Daß Räuber mehr Bildung besaßen als das einfache Volk, war damals jedem klar, und daher in dem Märchen nicht erklärungsbedürftig.
Argus7 schrieb:Schon wieder mal eine Verschwörungstheorie, die aber leicht zu widerlegen ist. Jesus stammte nicht aus königlichem jüdischem Geblüt, wie du uns glauben machen willst. Ein Zimmermann als Abkömmling eines königlichen Hauses!? Eine ziemlich weit her geholte Story, die man nur Leuten andrehen kann, die wirklich jeden Bockmist glauben!
Damit jedenfalls wird das nicht widerlegt. Wieso sollten Davididen zur Zeit Jesu nicht bettelarm gewesen sein dürfen? Daß die beiden Genealogien nachgereicht sein dürften, ist ebenfalls klar. Kaum ein Mensch kann seinen eigenen Stammbaum auf 1000 Jahre zurückführen, damals wird es nicht besser gewesen sein. Eher werden wir davon ausgehen müssen, daß zur Zeit Jesu
niemand mehr sicher sagen konnte, daß er ein Nachkomme Davids war. - Auf der anderen Seite hatte David genügend Kinder, speziell auch Söhne, ebenso auch alle weiteren Könige der Davidsdynastie, sodaß in dem kleinen Palästina wohl nahezu jeder Mensch David in seiner Ahnenlinie gehabt haben dürfte. Der Anspruch auf Davidssohnschaft, den Jesus sogar einmal für sich ausdrücklich ablehnte, ist ohnehin mehr ein politischer als ein biologischer.
Rao schrieb:Wenn anscheinend die Zeitgenossen von Jesus selbst seine Familienlinie auf David zurückführten
Nana, die Zeitgenossen Jesu hielten jeden für einen Davidssohn, von dem sie die Befreiung von der römischen Oberherrschaft und die Errichtung eines Friedensreiches erhofften. Bezeichnenderweise führen beide Genealogien des NT die Linie von (bzw. über) David auf Josef. Und beide Evangelien, die je eine Genealogie enthalten, verdeutlichen es auf je verschiedene Weise, daß Josef nicht der Vater Jesu ist, sondern Maria eine Jungfrau war bei der Geburt. Hier scheint also ursprünglich disparates Material miteinander verknüpft worden zu sein: zum einen die Vorstellung wundersamer Geburt, zum anderen die Vorstellung davidischer Abkunft über Josef als leiblichem Vater Jesu. Historisch kann nicht beides zutreffen. Viel eher wurden hier zwei verschiedene
Vorstellungen über Jesu "Ursprünge" miteinander verbunden. Die Evangelien berichten anderenorts ausdrücklich, daß es verschiedene Vorstellungen unter den Anhängern Jesu gab, wer oder was Jesus denn nun sei. Der Propheten einer, der Elia, der Täufer... Jesu Tod am Kreuz hat mancherlei Erwartungen und Vorstellungen der Jünger erschüttert, allen voran die Davidssohnschaftsvorstellung als Messias. Das NT weiß zu berichten, daß die Jünger verunsichert waren, sich versteckten, in ihre Heimat gingen und ihre alten Berufe wieder aufnahmen. Erst die Ostererfahrung brachte den Jüngern ein neues Verständnis für Jesus, wer und was er ist, warum er sterben mußte usw.
Jesus ist nicht "der Propheten einer", er ist es nur in gewisser Weise. Jesus ist nicht der Messias = Davidssohn, nur in gewisser Weise. Jesus ist ein stinknormaler Mensch, Kind menschlicher Eltern - aber selbst das nur in gewisser Weise. Diese "gewisse Weise", in neuem Licht, läßt jegliche traditionelle Erartung an Jesus falsch sein. Aber auf neue Weise richtig. Wenn Jesus der "wahre Messias" ist, dann ist die leibliche Davidssohnschaft unbedeutend. Sie ist allenfalls noch eine Chiffre, ein Bild, das auf seine Bedeutung verweist. Ebenso ist seine leibliche Vaterschaft irrelevant, da das Osterereignis seine "wahre Vaterschaft" zeigt. Die leibliche Vaterschaft "nicht Josef" mag weitererzählt werden, aber nicht um historischer Gegebenheiten willen, sondern als Chiffre, als Bild für den wahren Vater Jesu - für alle, die dem Ostergeschehen Glauben schenken.