Wolkenleserin schrieb:Der Anarchismus ist auch das Zeichen, junger rebellischer Aufständiger, die gerne selbst König wären. Und sobald es einmal einer der Anarchisten geschafft hat, kommen wir wieder zum totalitären System, wo einer mächtiger ist als die anderen. Anarchismus ist von dem her gesehen eigentlich nur der Wunsch nach dem totalitären unter der Führung der eigenen Macht.
Diese Wahrnehmung des Anarchismus als etwas rein infantiles und rebellisches, sowie die staendige Verwechslung von Anomie und Anarchie, hat schon anarchistischen Theoretikern Kopfzerbrechen bereitet. Der US-Amerikanische libertaere Sozialist Murray Bookchin (
Wikipedia: Murray Bookchin ) hat darueber ein Essay verfasst, in welchem er einen Unterschied macht zwischen
Lifestyle Anarchismus - dieser nihilistische, postmoderne, individualistische und theorie-arme Anti-Haltung gegen alles was "Establishment" sein soll und der zur Subkultur verkommen ist - und
Sozialem Anarchismus - der einen festen theoretischen Hintergrund und praezise Vorstellungen von einem alternativen Wirtschafts-und Gesellschaftssystem hat, basierend unter anderem auf den Theorien von Bakunin und Kropotkin.
Wikipedia: Social Anarchism or Lifestyle Anarchism: An Unbridgeable ChasmAber bezueglich Bookchin will ich noch auf etwas anderes hinaus. Der Mann hat eine interessante Entwicklung in der Arbeiterbewegung in den Staaten durchgemacht. Anfangs ein Kommunist durch und durch, war er in den 30ern zunaechst Stalinist, daraufhin Trotzkist und schliesslich war er voellig ernuechternd von den Erfahrungen die der Ostblock gemacht hat sodass es zum endgueltigen Bruch mit dem Marxismus-Leninismus kam. In einem weiteren Essay - "Listen, Marxist!" - hat er den Puritanismus des Marxismus bezueglich Klassenkampf und "Diktatur des Proletariats" scharf kritisiert.
Den Marxismus an sich hat er also auch als Theorie kritisiert und ist schliesslich Anarchist geworden, unter anderem weil ihm auffiel dass so etwas wie Klassenbewusstsein, anders als von Marx angenommen, nicht existent war. Im Gegenteil kann man laut Bookchin beobachten wie die Arbeiterbewegung zum Anhaengsel des Kapitalismus geworden ist und sich ihm angepasst hat - etwa die Gewerkschaften und die anfangs marxistisch orientierte Sozialdemokratie die mehr und mehr reformistisch geworden ist. Der Fokus auf soziale und oekonomische Umwaelzung ist voellig verloren gegangen. Desweiteren kann von Klassenbewusstsein und Klassenkampf gar nicht die Rede sein, da sich die Arbeitnehmer die hierarchische Mentalitaet kapitalistischen Wirtschaftens zu eigen gemacht haben. Assimilierung statt Klassenkampf. Darum beschaeftigt sich der Soziale Anarchismus nicht mit Klassen, wie das bei Marx der Fall ist, sondern darueber hinaus mit Hierarchien die die gesamte Gesellschaft durchziehen und fuer deren funktionieren eigentlich unnoetig sind. Und darin liegt auch die Krux hinter anarchistischem Wirtschaften im Gegensatz zu kapitalistischen und staatssozialistischen Denkansaetzen; Hierarchien in Gesellschaft und Wirtschaft muessen durch horizontale Netzwerke dezentralisierter und gleichzeitig gemeinschaftlicher Produktion ersetzt werden.
Murray Bookchin Interview
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Ironischerweise hat sich Bookchin im hohen Alter in den 90ern schliesslich auch von dem Label "Anarchismus" verabschiedet, weil mehr und mehr der Lifestyle Anarchismus ueber den sozialtheoretischen Ueberhand gewonnen hat. Seine neue freiheitlich sozialistische Ideologie hat er "Communalism" und "libertarian municipalism" genannt. Und da im Bezug zum Sozialismus und Kommunismus auf sowas:
cRAwler23 schrieb:Das war kein Sozialismus. Ich empfehle dir die letzten Seiten zu lesen.
staendig hingewiesen werden muss, muss man wohl auch den Kommunismus nun anders nennen.
;) Vielleicht hoert dann diese leidige Diskussion um Begrifflichkeiten und Schuldzuweisungen auf.