Anlässlich des 7. Jahrestags der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) vor wenigen Tagen hat der Journalist Tomas Lecorte (endlich) wieder mal einen sehr lesenswerten Artikel dazu veröffentlicht:
NSU – offene Fragen, offene AntwortenEin Plädoyer für gründliche Recherchen statt spektakulärer HypothesenFast sieben Jahre sind vergangen seit der Aufdeckung des NSU im November 2011, mehr als elf Jahre seit dem – soweit bekannt – letzten Mordanschlag der Gruppe 2007, dennoch ist dieses besonders dunkle Kapitel des deutschen Rechtsradikalismus weit davon entfernt, geschlossen zu werden.
Das liegt vielleicht auch daran, dass sich vor allem in der linken Debatte der „Fall NSU“ kaum trennen lässt vom Thema gesamtgesellschaftlicher Rassismus und/oder Fremdenfeindlichkeit. Vor allem aber gibt es rund um die Kerngeschichte des NSU-Trios ein breites Feld bekannter, vermuteter oder auch rein spekulativer Strukturen und Beziehungen, deren Personal von Neonazis bis hin zu staatlichen Akteuren reicht. Die Annahme, es müsse um mehr gehen als um drei Fanatiker, die jahrelang eine isolierte Terrorkampagne durchziehen, ist praktisch common sense in allen Milieus, die sich mit dem Thema beschäftigen, seien es Linke, Rechte, Migrant*innen, oder auch Mitglieder von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen.
Die Bandbreite der verschiedenen Deutungen und Theorien sprengt den Rahmen eines kurzen Artikels.
In den vergangenen Jahren waren es auch zumeist nicht die langen und gründlich recherchierten Beiträge, die die größte Wirkung erzielten, sondern eher diejenigen, die kurze und spektakuläre Hypothesen in den Raum stellten. Es gibt verschiedene psychologische und kollektiv-emotionale Dynamiken, die bewirken, dass der NSU größer und mächtiger gezeichnet wird als er wirklich war. Es soll hier deshalb gar nicht erst der Versuch gemacht werden, die großen Verschwörungsideen zu besprechen – denn Glaube und Gefühl lassen sich nicht mit Argumenten widerlegen.Eine Untersuchung der kommunikativen Mechanismen, die bei der öffentlichen Be- und Verarbeitung des NSU-Falles wirksam waren, wären eine echte Bereicherung dieser Debatte.
Zwei Hälften der Wahrheit: Das Leben ist voller WidersprücheDie meisten, die mehr oder weniger viel über den NSU gelesen und gehört haben, sind der Meinung, es gebe sehr viel ungeklärtes und rätselhaftes an diesem Fall.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich gibt es wenige Fälle in der deutschen Kriminalgeschichte, die gründlicher durchleuchtet wurden. Es gibt zehntausende Seiten an Material: Dokumente, Aussagen, auch Material des NSU selbst. Der Sammelwahn der Neonazi-Terroristen war geradezu absurd, und der Versuch Beate Zschäpes 2011, das Material durch Brandlegung zu vernichten, war dilettantisch ausgeführt.Hinzu kommen umfangreiche Nachermittlungen nahezu aller Sicherheitsbehörden, und schließlich – vor allem dank der Untersuchungsausschüsse – massenhaft Informationen über die rechtsradikale Szene in Deutschland und über die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes. Nie zuvor war so viel Wissen in diesem Bereich frei verfügbar, so dass sich sagen lässt, die Sorgen des Bundesamtes für Verfassungsschutz vor Publizität, die ab November 2011 zu einigen Datenvernichtungsaktionen führten, waren vollkommen berechtigt, inklusive der Furcht vor der Enttarnung von V-Leuten.Dass sich komplexe „Lebenssachverhalte“ (wie es im Juristendeutsch heißt) nie restlos widerspruchsfrei und objektiv darstellen lassen, dass Fragen unbeantwortet bleiben und nicht alles logisch erscheint – das ist immer so, nur wird es normalerweise nicht so kritisch hinterfragt wie in Sachen NSU. In jedem Kriminallfall machen Polizei und Justiz viele Fehler. Im alltäglichen Leben wird überall fortwährend gelogen, falsch erinnert und ungenau erzählt. Die ungeklärten und rätselhaften Aspekte im Fall NSU sind nicht besorgniserregend zahlreich, sie werden nur ungewöhnlich gründlich öffentlich diskutiertViele „offenen Fragen“ zum NSU sind längst beantwortet…Nachdem im Sommer 2018 sowohl der Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht als auch die Arbeit der meisten Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern ein vorläufiges Ende gefunden haben, bleiben sicherlich einige Fragen unbeantwortet. Aus diesen lässt sich aber wenig für große Verdachtsgebäude à la „tiefer Staat“ ableiten, außer von denen, die ohnehin nur nach Futter für bereits vorgefertigte Verschwörungsideen suchen. Die „großen“ Fragen sind durch die Akten und die weiteren Untersuchungen hinreichend geklärt:
– Das Trio wurde 1998 nicht in den Untergrund „eskortiert“, sondern es gab über mehrere Jahre eine intensive, allerdings handwerklich oft erschreckend schlechte Fahndung durch Polizei und Verfassungsschutz nach den „Bombenbastlern von Jena“.
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Die Aktivitäten des NSU, das jahrelange Leben in der Illegalität, die Banküberfälle und Mordanschläge – all das ist plausibel nachvollziehbar, finanziell und logistisch möglich gewesen ohne „schützende Hände“.– Die rassistische Ideologie des „führerlosen Widerstands“ und die Eigendynamik von Radikalisierung und Illegalität erklären die Handlungen des NSU.
– Mundlos und Böhnhardt haben am 4. November 2011 im Wohnmobil in Eisenach Doppelselbstmord begangen.
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Die große NSU-Verschwörung bleibt ein PhantasmaIn den vergangenen sieben Jahren hat es keinen stichhaltigen Hinweis auf eine größere, gar von staatlichen Stellen planvoll inszenierte Verschwörung gegeben. Weder die Akten noch die Untersuchungsausschüsse, weder investigative Journalist*innen noch politische Gruppen haben bisher mehr geliefert als „es könnte doch sein, dass“. Solche Spekulationen beruhen stets auf vereinfachten und aus dem Rückblick verkürzten Betrachtungen der Ereignisse, sie schreiben die Geschichte auf das vorher festgelegte Ende hin, sind also ahistorisch. Ihr festes Gerüst ist das „cui bono“ (wem nützt es), das als Motivation der Verschwörer*innen unterstellt wird und alle faktischen Widersprüche überspült.
Doch nicht einmal dieses Argument funktioniert, denn was soll der übergeordnete politische Sinn einer rassistischen Mordkampagne gewesen sein, von der praktisch niemand wusste, dass sie rassistisch gemeint war (und so war es tatsächlich bis etwa 2007)? Welche politischen Widerstände etwa gegen seine Migrationspolitik hätte ein Staatsapparat bekämpfen wollen, der eben diese Politik seit Jahren fast ohne hörbare Opposition durchsetzte?
Der radikale Flügel der Linken hat leider in den vergangenen sieben Jahren die Aufklärung in Sachen NSU weitgehend den parlamentarischen
Untersuchungsausschüssen und den Medien überlassen. Stattdessen wurde der einfache Weg der polemischen Übertreibung und Verkürzung gewählt („Staat und NSU Hand in Hand“).
Dadurch wurde zwar dazu beigetragen, den politischen Druck gegen Vertuschungen und den „Übergang zur Tagesordnung“ zu erhöhen.
Das geht aber auf Kosten von Aufklärung und emanzipativem Denken. Mystifizierungen und Ressentiments gegen unklar definierte Mächte, die lügen und manipulieren, sind der Stoff, aus dem auch die neurechte Massenbewegung schöpft. Davon sollten wir die Finger lassen und uns die Mühe des genauen Hinschauens und Hinhörens machen.http://www.lecorte.de/2018/11/nsu-offene-fragen-offene-antworten/#more-1319
Wieder einmal zeigt sich schön deutlich zusammengefasst das diese ganzen Verschwörungskonstrukte rund um den NSU nichts weiter als blanke Hirngespinste sind! Sieben Jahre sind mittlerweile seit der Selbstenttarnung vergangen und es gibt bis zum heutigen Tage nichts aber auch gar nichts was diesem verschwörungstheoretischem Bullshit auch nur ansatzweise untermauern würde. Das trifft besonders auf diese oft kolportierte "Netzwerkthese" zu welche leider auch von den juristischen Opfervertretern, antifaschistischen Initiativen wie auch den Medien leider viel zu undbedacht verbreitet wird. Daran zeigt sich das ein wesentlich faktenbasierender Umgang mit dem Thema weitaus notwendiger ist als auch wünschenswerter wäre!