Menschenstrom Afrika
14.08.2015 um 19:11
Für alle "Besorgten" aus meinem persönlichen Threadarchiv exhumiert:
Ich bin in den sechziger Jahren in einem damals schon auf eine lange "multiethnische Tradition" zurück blickenden Stadtteil (Hamburg-St.Pauli) gross geworden. Da war es vollkommen normal, dass Nachbarn aus aller Herren Länder stammten. Kaum einer hatte Probleme damit. Man hatte Gemeinsamkeiten. Man war Malocher, man war arbeitslos, man war arm, man wohnte in beschissenen Verhältnissen, man war gelegenheitskriminell, man ging anschaffen. Da war es vollkommen egal, ob jemand schwarz, gelb oder blass war, de Vries, Müller, Smith, Hinterhuber, Li, Kim, Stanislawski, Ulutürk oder Wagadongo mit Nachnamen hiess. Bis 1945 hatte dieser Stadtteil sogar noch eine komplette "Chinatown", ganz, wie es sich für eine Welt- und Hafenstadt gehört.
Natürlich war Deutschland immer auch ein Durchzugs- und Einwanderungsland mit nationalen Minderheiten in bestimmten Regionen, wie Nord- und Ostfriesen an den westlichen Küsten, wendischen Sorben in der Lausitz und im Spreewald, Dänen an der Nordgrenze.
Darüber hinaus hat Deutschland immer wieder grosse Immigrationswellen erlebt.
Stichwort Völkerwanderung.
Jüdische Gemeinden lassen sich seit 321 urkundlich nachweisen. Im Mittelalter zog es Handwerker und Händler aus den Niederlanden, Frankreich, Polen etc. in die Grenzen des heutigen Deutschlands. "Gekommen um zu bleiben" - ebenso zog es natürlich auch Deutsche hinaus in die Welt. Bereits die Hanse sorgte für eine rege Durchmischung der Handel treibenden Völker. Später kamen Kolonisten aus den Niederlanden, um beispielsweise die Überschwemmungsgebiete der Elbe (Vier- und Marschlande) zu besiedeln, im 16. Jahrhundert war jeder 4. Hamburger ein niederländischer Migrant. Friedrichstadt an der Mündung der Treene in die Eider, eine niederländische Gründung, hatte nicht nur 200 Jahre lang ein niederländisches Sprachprivileg, sondern es galt auch ebenso lange niederländisches Recht*.
Im 17. Jahrhundert waren gut 1/4 der Einwohner des Grossraums Berlin französischer Herkunft. In Hamburg waren Portugiesen und Engländer stark vertreten, wie sich heute noch an Namen alter Familien erkennen lässt. Ebenso rege war der Zuzug von Schweden, schliesslich waren Teile der Ostseeküste einst schwedisch, oder von Dänen, die bis an die Elbe herrschten - und blieben.
Im 19. Jahrhundert kam es zu einem starken Zustrom von Arbeitsmigranten, meist aus Polen oder der Ukraine, nach Deutschland. In manchen Städten im Ruhrgebiet gab es um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mehr Polen als Deutsche. Nationalisten befürchteten eine "Verpolung" der deutsche Rüstungsschmiede im Ruhrpott.
Nach der russischen Revolution 1917 liessen sich viele zarentreue Flüchtlinge aus Russland und dem Baltikum in Deutschland nieder. Zuvor hatten schon Menschen aus den deutschen Kolonien sich in Deutschland niedergelassen.
Der Zweite Weltkrieg mischte die Völker Europas noch einmal nachhaltig durch, zahlreiche "displaced persons" aus allen Teilen Europas blieben freiwillig oder unfreiwillig in Deutschland hängen, ebenso wie ehemalige Besatzungssoldaten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen Arbeitsmigranten aus den Ländern rund ums Mittelmeer dazu, politische Flüchtlinge aus Diktaturen wie Griechenland, dem Iran oder Chile oder Asylbewerber aus allen Staaten der Erde, nicht zu vergessen die Communities ausländischer Geschäftsleute, wie der Japaner in Düsseldorf oder der iranischen Teppichhändler in Hamburg.
Heute gilt Berlin als grösste "polnische", "russische" oder "türkische" Stadt ausserhalb der jeweiligen genannten Länder. Etwa 20.000 junge Israelis leben in Berlin - mehr als irgendwo sonst ausserhalb Israels. Hamburg ist die grösste "afghanische" Stadt und die grösste "ghanaische", so weit ich weiss. Ein "Portugiesenviertel" am Hafen gibt's übrigens auch noch, sowie einige skandinavische Kirchengemeinden.
Wahrscheinlich habe ich noch allerlei Völkerscharen vergessen.
So viel zum Thema "Vielvölkerstaat"!
*Was würde passieren, würden, auf Wunsch der Regierung, muslimische Glaubensverfolgte, meinetwegen Schiiten aus dem Irak oder Sunniten aus dem Iran, in der BRD eine Stadt gründen, in der sie 200 Jahre lang ausschliesslich ihre Heimatsprache und ihr Heimatrecht (Scharia!) ausüben dürften?
Ich arbeitete (und tue es gelegentlich noch) beruflich mit Menschen aller Hautfarben, Geschlechter, Religionen, "Kulturen" weltweit zusammen. Egal, ob hier oder dort, ob von Angesicht zu Angesicht oder virtuell.
Hobbies, Interessen und Freizeitgestaltung verbinden mich mit Menschen aus vielen Ländern. Die Firma, für die ich lange Jahre tätig war, gehörte zeitweilig Schweden, mein Auto kommt auch daher, selbst wenn's inzwischen Chinesen gehört, meine Lebensmittel, meine Kleidung, ja, selbst meine "Kulturgüter" kommen von rund um den Globus.
Wer sind eigentlich "diese Ausländer"?
Meine Frau ist Irin, ihre Freundin Französin, meine Putzfrau ist Russin, meine Nachbarn Dänen, mein Bäcker Friese, mein Gemüsemann Türke, mein Gastwirt Italiener, Grieche oder Chinese. Der Mensch, der unseren Oldtimer wartete kommt aus England, mein Ex-Chef aus den USA, meine frühere Backoffice-Leiterin aus dem Iran, meine erste Frau war Palästinenserin, usw. usw.
Bis jetzt hat sich mir noch nicht erschlossen, wer von denen eine potenzielle Gefahr für mich sein soll.
Kann mich mal jemand aufklären?
Was die freiwillige Ghettobildung angeht: Es ist wohl nicht so ungewöhnlich, dass sich Menschen gern mit "Ihresgleichen" umgeben. Man denke an die deutschen Dörfer und Städte in Ungarn, Rumänien, der ehemaligen UdSSR - oder an deutsche Ansiedlungen in Namibia, in Südamerika oder auf Malle. Selbst die USA hatten, zumindest bis zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg, fast rein deutschstämmige Stadtteile, Städte und Gemeinden. Mit deutschen Schulen, deutschen Zeitungen und deutschen Festivitäten. Selbst Kaisers Geburtstag oder der Sedantag wurden dort gefeiert. Ein Wiederaufleben ergab sich (ohne Feiern) durch die Menschen, die vor dem Faschismus aus Deutschland flüchten mussten. Froh konnte von den Flüchtlingen der sein, der ein deutschsprachiges Netzwerk für Bürokratie, Unterkunft, Arbeit vorfinden konnte.
Geschäfte und Restaurants, in denen deutschstämmige Migranten heimische Speisen und Getränke vorfinden, gibt es wohl weltweit - von der Bierbar in Shanghai oder Thailand bis zum Currywurststand in Spanien oder "Feinkost"-Läden in New York.
Warum sollen andere Menschen also nicht die gleichen Ansprüche ans Leben stellen wie unsere (ehemaligen) Landsleute?