Retter des Vaterlandes
Die Türkei und der Völkermord an den Armeniern
Von Taner Akcam
Dass der Völkermord an den Armeniern tabuisiert wurde, hat auch damit zu tun, dass zwischen den Massakern und der Gründung der Republik ein Zusammenhang besteht.
Führende Politiker der neuen Republik haben sich unverblümt zu dieser Frage geäußert. So erklärte etwa Halil Mentese, ein populärer Vertreter der Partei Ittihad ve Terakki: "Ohne die Säuberung Ostanatoliens von den armenischen Milizen, die mit den Russen kollaborierten, wäre die Entstehung unserer nationalen Republik nicht möglich gewesen."
Und im ersten Parlament der türkischen Republik gab es sehr aufschlussreiche Debatten mit Beiträgen wie diesen: "Um das Vaterland zu retten, haben wir es auf uns genommen, als Mörder verschrien zu werden."
Oder: "Die Frage der Deportationen hat bekanntlich weltweit Aufsehen erregt und uns alle zu Mördern gestempelt. Wir wussten, bevor wir diesenEntschluss trafen, dass wir uns den Zorn und den Hass der gesamten christlichen Welt zuziehen würden. Warum also haben wir unseren Namen beflecken und uns Mörder schimpfen lassen? Warum haben wir uns dieser ebenso wichtigen wie schwierigen Aufgabe gestellt? Allein, weil das Nötige getan werden musste, um den Glanz und die Zukunft unseres Vaterlands zu bewahren, das uns heiliger und kostbarer ist als unser eigenes Leben."
Mit der Zeit wurden solche Erklärungen, die relativ kühn und offen den Standpunkt verteidigten, dass der Genozid für die Gründung der Republik unverzichtbar gewesen sei, durch die offizielle Geschichtsschreibung ersetzt. Für die taugten nur der Antiimperialismus und die Verehrung und Achtung der Kuvva-i Milliye (der ersten Widerstandsverbände im Unabhängigkeitskrieg) als Grundlagen der nationalen Identität. Noch in den 1960er-Jahren war für die junge revolutionäre Generation der Kampfgeist der Kuvva-i Milliye ein zentraler Bezugspunkt ihrerantiimperialistischen Haltung.
Auch die Furcht, solche Gewissheiten zu verlieren, spielt eine wichtige Rolle bei der Weigerung der Türkei, sich mit der armenischen Frage auseinander zu setzen.
Doch die vertrauten Erklärungsmuster, die bislang das öffentliche Selbstbild der Türkei bestimmten, müssten über Bord geworfen werden, damit eine Diskussion über den Völkermord zu der Einsicht führen könnte, dass der Staat nicht nur aus dem Kampf gegen die imperialistischen Mächte hervorgegangen ist, sondern auch aus einem Krieg gegen einheimische Minderheiten - die Griechen und Armenier. Auch deutet einiges darauf hin, dass es unter den Truppen der Kuvva-i Milliye, die unbestritten als Helden gelten, nicht wenige gab, die am Genozid unmittelbar beteiligt waren oder sich bei den Plünderungen in den Armeniergebieten bereicherten.
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