bgeoweh schrieb:Das ist ziemlicher Unsinn. Das mag zu dem Zeitpunkt möglicherweise zutreffen, zu dem die Personen da reingewählt werden (muss aber natürlich nicht, außer man filtert Parteimitglieder von vorneherein hinaus), aber es hindert auch nichts die Gelosten daran hinterher Fraktionen zu bilden, immer gemeinsam abzustimmen, oder auch in eine Partei einzutreten und sich bezuschussen und helfen zu lassen, z.B. mit einer Geschäftsstelle und Personal. Zumindest ist das in diesem Modell nicht angelegt, und sowas wird passieren.
Dass sich bestimmte Meinungen herausbilden, ist durchaus möglich, aber doch nicht mit Fraktionen vergleichbar. Schließlich geht es ja um eine Sachfrage, in der man gestalten. Es geht nicht um unzählige Abstimmungen, wo man häufig sogar über Dinge abstimmt, die man gar nicht richtig versteht, weil es die Parteilinie ist.
Nehmen wir mal an, da wird jetzt die Frage diskutiert, wie man am schnellsten und gleichzeitig sozialverträglich den Heizungsaustausch über die Bühne bringen kann. Da diskutiert man dann gemeinsam und Lösungsorientiert und sicherlich kommt es da zu unterschiedlichen Meinungen, die man aber dann ja auch gemeinsam klären kann.
Nehmen wir weiter an, da gibt es jetzt zwei Konzepte und man einigt sich darauf, darüber abzustimmen, welches Konzept kommt. Welchen Impuls hat da jetzt jemand, nicht so abzustimmen, wie er das meint?
Bei Parteien macht das Sinn, sich zu einigen, immer in der Fraktion gleich abzustimmen, weil das die Macht der Partei stärkt. Aber wenn mir jetzt einer sagt "nein, pass auf, stimm du für das Konzept, das du schlechter findest, dann stimme ich auch einmal mit dir ab, wenn ich das eigentlich nicht will", dann ist das doch gar nicht attraktiv. Was habe ich denn groß davon? Wie die Stimmverteilung ist weiß ich vorher nicht (auch bei der Frage, wo er mir dann vielleicht helfen will) und wenn ich NICHT diesen Impuls "die Partei muss Macht haben" habe, dann habe ich doch wesentlich eher einen Grund, einfach so abzustimmen wie ich das richtig finde als dass ich irgendwelche Deals zu Detailfragen mache.
Als du müsstest du schon klarer umreißen, was da jetzt genau das Problem sein soll. Bei Parteien ist vollkommen klar, dass Parteiproporz und Parteiloyalität eine große Rolle spielen. Aber im Gesellschaftrat müsstest du mir da mal Beispiele nennen, wie das deiner Meinung nach ablaufen soll.
McMaso schrieb:Das mag zu Teilen stimmen, aber ganz so ist das nicht. Partei haben ja auch ein Programm, und da wird sich ja schon vorher drauf festgelegt, von daher nicht verwunderlich, dass viele Abstimmungen einstimmig sind.
Das stimmt komplett. Es gibt Fraktionszwang. Dass man sich vorher in der Partei einigt, was man gemeinsam wählt, ändert daran nichts. Da müssen dann auch Leute die für eine Vermögenssteuer sind dagegen abstimmen.
Hier mal ein Beispiel aus Hamburg:
https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Nach-Streit-um-U-Ausschuss-Gruenen-Politikerin-abgestraft,gruene1756.htmlDer Konflikt bei den Grünen reicht tief. Hintergrund war der Streit um die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zur Aufarbeitung des NSU-Mordes an dem Hamburger Gemüsehändler Süleyman Taşköprü 2001. Die Linksfraktion hatte in der vorvergangenen Woche einen entsprechenden Antrag gestellt, dem Block als einzige Grüne zugestimmt hatte, obwohl sich die Grünen mit ihrem Koalitionspartner SPD zuvor auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes anstelle eines PUA verständigt hatten.
Koalition sollte zusammengehalten werden
Ursprünglich waren die Grünen auch für einen Untersuchungsausschuss, der sich mit dem NSU-Mord in Hamburg beschäftigt. Die SPD hält diese Form der Aufarbeitung des mehr als 20 Jahre alten Falls aber für ungeeignet und lehnte den PUA mehrheitlich ab. Auch fast alle Grünen stimmten in der Bürgerschaft dagegen, um die Koalition zusammenzuhalten - alle außer Block.
Die Grünen haben sich im Wahlkampf für einen Untersuchungsausschuss stark gemacht. Danach haben sie, weil die SPD das nicht wollte und mit Koalitionsbruch gedroht hat, einfach zurückgenommen. Punkt. Das ist dann schon Punkt 1 bei Parteipolitik, warum da Entscheidungen fernab von Sinn und Gewissen getroffen werden, weil man Macht will.
Dann im zweiten Schritt gehorcht eine Grüne nicht und stimmt nach Ihrem Gewissen ab und dann wird sie dafür bestraft.
So funktioniert in Deutschland Parteipolitik und deshalb sind Entscheidungen in Landtagen und im bundestag natürlich nicht überparteilich, sondern immer von dieser nicht sachlich orientierten Ebene beeinflusst.
McMaso schrieb:Und 10000 Bürger, 10000 Meinungen, ohne Fraktionsbildung in so einen Rat, wäre es das Piratenchaos...
Das ist schon wieder eine "wie" Frage. Hier kannst du dir mal durchlesen, wie das Ganze bei einem Bürgerrat ablief (denn die gibt es ja):
https://www.buergerrat.de/haeufige-fragen/Bei Bürgerräten gibt keinen festen Maßstab für die Teinehmendenanzahl entsprechend der Größe der Gemeinde oder des Landes. Die Anzahl der Teilnehmenden hängt vom Ziel des Prozesses und den verfügbaren Ressourcen ab.
Die Gespräche zum jeweiligen Bürgerrat-Thema finden in moderierten Kleingruppen zu 7 - 8 Leuten statt. Je komplexer das Thema, desto mehr Zeit wird beansprucht. Bei einigen Fragestellungen kann bereits eine von 20 Teilnehmende abgebildete Vielfalt ausreichen, sodass keine zusätzliche Kosten für eine größere Teilnehmendenzahl samt Moderation entstehen.
Andere Fragen hingegen benötigen eine größere Teilnehmendenzahl, um die notwendige Perspektivenvielfalt zu repräsentieren und die gesellschaftliche Kontroverse zum Thema aufzeigen zu können. Eine höhere Teilnehmendenzahl kann auch die Akzeptanz des Verfahrens erhöhen.
Bürgerräte sind aufgrund ihrer möglichst hohen Repräsentativität für die Referenzbevölkerung grundsätzlich größer als Planungszellen, die gängigerweise nur aus 25 Personen bestehen. Nach oben hin ist die Größe durch Kosten und Handhabbarkeit begrenzt. Ein Bürgerrat mit 1.000 Teilnehmenden an einem Ort wäre z.B. sehr teuer und nur wenig praktikabel, wohingegen sich eine Größe von 100 Teilnehmenden auf (über-)regionaler Ebene etabliert hat.
Das ist nur ein Beispiel (auf der Seite), wie man solche Räte organisieren kann. Dass sich 100 Leute, die sich dann in Kleingruppen mit verschiedenen Aspekten des Themas beschäftigen, einig werden, das ist wohl durchaus möglich.
Die bisherige Versuche mit Bürgerräten hatten auch sehr positive Ergebnisse. Bürgerräte verleihen der letztendlichen Entscheidung außerdem eine hohe Legitimität, weil sich neutrale Bürger mit dem Thema beschäftigt haben und gemeinsam zu Entscheidungen kamen. Da kann niemand mehr vom Elfenbeinturm und "denen da oben" sprechen.
Es ist ja nicht so, als hätten wir dazu noch keine Beispiele. Es ist durchaus möglich, solche Räte durchzuführen, auch wenn man natürlich bei den spezifischen Details immer schauen muss, wie man es am besten umsetzt