Sind Nationalismus und Patriotismus noch zeitgemäß?
25.07.2023 um 19:07
Warum sollte ich stolz sein auf "mein Land"? Mir gehören nur rd. 1,5 ha im nordfriesischen Outback davon.
Stolz sein kann ich nur auf etwas, das ich selbst gemacht bzw. geschafft habe. Nicht auf etwas, das andere gemacht haben - darauf können die meinethalben stolz sein.
Mich treibt allerdings immer wieder die Frage um, warum soviele Menschen, die sonst nichts haben, nichts können, nichts wollen, worauf sie berechtigterweise stolz sein könnten, tönen: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!
Vermutlich, weil das bei den Leuten, die solche Sprüche klopfen, die einzige Leistung ist, auf die sie stolz sein können.
Meine Oma hat immer gesagt: Dummheit und Stolz wachsen am selben Holz.
Meine Zugehörigkeit zu einer Nation ist so zufällig wie aufkündbar.
Stolz sein kann ich nur auf das, was ich selbst geleistet habe - nicht auf irgendwelche anderen und ihre Leistungen.
Patriotismus ist die Droge für die Doofen, die sich für Gott und Kaiser, Führer, Volk und Vaterland oder zumindest zur "Sicherung deutscher Handelswege", wie ex Ex-Präsi Köhler formulierte, den Arsch wegschiessen lassen. Kostet nichts. Höchstens Leben, wie die Geschichte lehrt.
Meine Beobachtung während diverser fussballinduzierter Flaggenparaden in Hamburg:
Je "schlechter" das Viertel, je niedriger das Einkommen, je höher die Hartz-IV-Quote, desto dichter das Fahnengewimmel. In den teuren Vierteln, in den Elbvororten, Harvestehude, Poppenbüttel: Keine Fahnen, keine Wimpel an der S-Klasse oder am Bentley.
Wer nix hat, hat wenigstens eine Fahne. Billiger China-Lappen und billiger Nationalstolz für's doofe Volk. Die Fahne ist mehr als der Tod, zumindest aber mehr als Hartz-IV. Danke, Deutschland.
"Deutschland" ist mir viel zu diffus, um gut oder böse zu sein. Was macht Deutschland aus? Geschichte? Kultur? Sprache? Ein bunter Lappen? Wer ist "deutsch"? Wie hat man dann zu sein?
Was verbindet mich mit einem bayrischen Bergbauern oder einem schwäbischen Konzernchef? Was haben die Krupps und die Krauses gemein? In welcher Welt leben Herr Albrecht und seine Putzfrau wirklich? Bin ich nicht mehr "deutsch", wenn ich Ire werde, Däne oder Chinese? Ist Herr Kryszmanski, dessen Vorfahren vor hundert Jahren aus Polen kamen, deutscher als Herr Öztürk, dessen Eltern vor fünfzig Jahren kamen? Sind sie polnisch? Sind sie türkisch? Sind sie "Deutschland"? Was verbindet sie? Was trennt sie? Was habe ich mit ihnen gemein?
So viele Fragen - da braucht es kein Vaterland, um den Kopf zu verlieren.
Wenn mein dänischer Nachbar seinen Danebrog hisst, dann mag er das tun. Meine erste Frau hatte eine palästinensische Fahne an der Wand. Ja, und ich gebe zu, ich habe oft genug rote Fahnen getragen. Wenn man's braucht...
Inzwischen sind mir Stofffahnen so egal wie Spritfahnen. So lange ich nicht mitsaufen bzw. -flaggen muss.
Sehe ich mich in Nordfriesland als Hamburger (dort wurde ich geboren und bin da aufgewachsen)? Nö. Ich lebe in Nordfriesland, also bin ich Nordfriese. Meine Frau sieht das etwas anders, die sieht sich in Deutschland als Deutsche, in Irland als Irin. Unsere beiden Kinder sehen sich nicht als Halbiren oder Halbdeutsche, sondern als Volldeutsche. Ich sie hingegen ab und an als Vollirre. Etwas komplexer wird es bei meiner Ältesten. Die hatte eine libanesisch-palästinensische Mutter, ist in Deutschland aufgewachsen und hat jetzt die dänische Staatsbürgerschaft angenommen. Würde ich sie fragen, würde sie sich wohl als Dänin sehen.
Staatsangehörigkeiten und Herkünfte erschienen mir schon immer als reine "Papiersache". Meine Heimat ist da, wo ich meinen Lebensmittelpunkt habe.
Wenn ich dem Beispiel meiner Tochter folgen würde und die dänische Staatsbürgerschaft annähme, wäre ich dann "Deutscher" oder "Däne". Hätte das irgendwelche spontanen Auswirkungen auf mich als Person? Würde ich mich ändern? Wäre ich gar nicht mehr ich selbst?
Den Geburtsort haben wir uns alle nicht aussuchen können, unsere Staatsangehörigkeit können wir wechseln - aber würde das unser Ich verändern?