Sind Nationalismus und Patriotismus noch zeitgemäß?
10.10.2018 um 19:55
Da beim Thema Nation und Patriotismus immer wieder von "Heimat" bramarbasiert wird, will ich noch kurz anhängen, was ich darunter verstehe, in Form eines Auszugs aus einer Erzählung von mir - kein Ort, sondern verlorene Zeit:
Natürlich hätte ich zurück in unser Kaff ziehen können, denn du kennst ja meine Heimatverbundenheit. Leider machte ich eine Erfahrung, die mir auf erschütternde Art klar machte, dass ich eine völlig falsche Vorstellung von Heimat hatte.
Du erinnerst dich sicherlich noch an unser überraschendes Treffen im September 1981, nachdem wir uns fast drei Jahre nicht mehr gesehen hatten. Drei Jahre sind nicht viel, aber niemals verändert man sich rein äußerlich so stark wie in der Jugend. Ich saß gerade in Heiners Kneipe an der Bar, es war glaub ich später Nachmittag, als mir das Paar auffiel, das gerade reinkam und sich nach einem freien Tisch umsah. Irgendwas kam mir an dem Mann bekannt vor – seine Bewegungen, das lange, an Stirn und Haupt schon zurückweichende, hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene glänzende schwarze Haar… Die Frau mit kastanienrotem langem Haar und den veilchenblauen Augen und ihre natürliche, heitere Art, war mir spontan sympathisch.
Du weißt, wie es weiterging. Als ihr euch an den Tisch gesetzt hattet, schautest du dich um nach der Bedienung, bemerktest auch mich, aber außer einem leichten Stirnrunzeln, einer flüchtigen Verunsicherung, hattest du offenbar nichts bemerkt, denn dein Blick wanderte suchend weiter. Ich nahm mein Glas und setzte mich zu euch an den Tisch: Hallo Pepsi. Offenbar war dein Erstaunen noch größer als meins, denn erst jetzt kanntest du den Grund für deine leichte Verunsicherung: Vera? Ich hatte dich erst gar nicht erkannt. Mann, hast du dich verändert. Warum hast du dir denn deine langen Haare abgeschnitten? Ich fand das viel schöner, die standen dir viel besser als dieses Kurzhaar.
Ich wollte dich nicht fragen, ob du die Frau an deiner Seite aus Heidelberg mitgebracht hattest, konnte es mir aber denken, denn sie sprach einen badischen Dialekt. Ihr wart gerade auf der Fahrt zu einer Landkommune bei Bielefeld und hattet einen kurzen Abstecher in 'unsere' Stadt gemacht, weil du kurz deine Eltern besuchen und anschließend noch hier reinschauen wolltest, was aus deinen Freunden und Bekannten hier geworden war, die du jahrelang nicht mehr gesehen hattest, und um noch schnell einen Imbiss einzunehmen vor der Weiterfahrt. Mir war aber klar, dass du mit der Frau, die dich begleitete, noch nicht geschlafen hattest. Für so etwas habe ich ein untrügliches Gespür.
Ich möchte dir noch zwei weitere Beispiele nennen, um dir zu veranschaulichen, worauf ich hinaus will und was ich meine.
Acht Jahre nach unserem Treffen – ich hatte mein Medizinstudium in Köln beendet und in München promoviert und fing gerade an dem Institut für Hirnforschung an – starben meine Eltern bei einem Autounfall. Nach dem Begräbnis und den Trauerfeierlichkeiten saß ich allein in dem großen Haus und fragte mich, wie es weitergehen sollte. Beim Gedanken an den Begriff 'Heimat' und 'Elternhaus' bekam ich eine Gänsehaut. Mir waren mit einem unangekündigten Ruck von einem Dämon die Wurzeln ausgerissen worden. Ich war plötzlich ganz allein und heimatlos, und dieses Gefühl des freien Falls ins Bodenlose wuchs an den Folgetagen ins Unerträgliche. Wie eine entweihte ehemalige Kirche, die in eine Disco umgewandelt ist, keine Kirche mehr ist, war mein Elternhaus, das ein Teil von mir selbst und meiner Eltern war, ein lebenslanger Erlebnisraum, in dem man aufgewachsen war, stets geborgen, stark und sicher wie ein Fels in der Brandung, auf einmal nur noch ein hohler, leerer Raum, in dem Geister und Erinnerungen herumwandelten, aber keine Menschen. Das gehörte jetzt zwar mir, aber ich würde niemals mehr darin wohnen können, weil mich die Geister um den Verstand brächten. Ich musste vor diesen Geistern fliehen. Ich hatte meine Heimat verloren; sie war mir herausgerissen worden. So wie dies nicht mehr mein Elternhaus war, war die Stadt nicht mehr meine Heimat, denn das war die Jugend, als wir rummachten und kifften und tanzten und ich abends oder besser gesagt spät in der Nacht trunken zurückkehrte in mein Elternhaus, in mein Zimmer, und am nächsten Morgen mit meinen Eltern frühstückte.
Während meines Studiums in Köln und besonders später, als ich nach München ging, wurden meine Besuche in unserer Stadt immer seltener und kürzer; ich gehörte einfach nicht mehr dazu. Die 'Szene' hatte sich verzogen – nur wohin? Die Kneipen waren doch noch die gleichen, auch die Disco war noch da, aber die Stadt sah bei jedem Besuch anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte, und das Publikum war ein ganz anderes. Das war jetzt eine völlig neue Generation, von der mich niemand mehr kannte, und die Leute von früher waren entweder weggezogen oder hatten sich zurückgezogen und eigene Familien gegründet, und in nicht allzu ferner Zeit würden die Leute, die dann hier in die Kneipen und die Disco gehen, die Kinder unserer Generation sein und wir die Alten, die da nix zu suchen haben.
Als ich in Heiners Kneipe so da saß, wurde es plötzlich laut und auch kalt, weil die Eingangstür lange aufblieb und die eisige Winterluft herein kam mit einer Horde mittelalter lauter Männer, wahrscheinlich Bauarbeiter, die in der Mittagspause hier kurz ein Bier trinken wollten; sie hatten irgendwas Primitives, Gröhlendes an sich, und besetzten die Bar wie ein Infanterieregiment. Einer von ihnen, vielleicht 33, 35, dem die Haare offenbar ziemlich ausgegangen waren, so dass er sich den Schädel kahl rasiert hatte bis auf einen blonden Zopf, der ihm irgendwo aus dem Hinterkopf herausragte wie eine Antenne und ihm Richtung Schulter fiel wie gekringelte Spagetti, kam mir irgendwie bekannt vor wie ein lauter Nachhall aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt, jedenfalls vom Profil mit der starken Kinnlade und dem kehligen Lachen. Barry… die große Liebe meiner Jugend… Sei mir nicht böse, Pepsi, aber du weißt es seit der Zeit, als du halb so alt warst wie jetzt, auch wenn du es nie für wahr haben wolltest, um weiter leben zu können; Barry…Leader of the pack. Und jetzt? Er erkannte mich nicht, sah über mich hinweg, versuchte mit den Teenies schräg gegenüber zu flirten, die fast seine Töchter sein könnten. Ja, so war er, und so würde er dahin segeln, polternd, aber immer schwächer, bis er hinter dem Horizont verschwunden war in einem bestenfalls Familiengrab.
Ich stand auf und ging hinaus. Alles war klar. Ich würde das Haus verkaufen und nie wieder diese Stadt betreten. Denn hier war ich eine Fremde, und die Stadt war mir verschlossen.
Heimat, das wusste ich nun mit der Unerbittlichkeit der Wahrheit, ist das Echo des Schiffs, das längst hinter dem Horizont verschwunden ist, des Lebensschiffs, in dem wir jung und laut und stark waren und nach den Sternen griffen. Heimat ist weniger ein Ort, sondern Zeit. Zeit, die man nur noch als Erinnerung in seinem Kopf mit sich trägt. Ich hatte Unrecht damals im Zug, weil ich Heimat mit Geborgenheit verwechselt hatte, die es aber nur in der frühen Jugend gibt, die man noch in seinem Elternhaus verbringt, und mit all den Freunden und Liebhabern von der Szene, aber sie alle werden aus dieser Heimat durch die Gnadenlosigkeit der Zeit, die uns älter macht und welken lässt, herausgerissen. Wenn man die Heimat einmal verloren hat, kann man sie niemals mehr wiederfinden. Man kann sich keine zweite Heimat aufbauen, allenfalls etwas, das für die eigenen Kinder mal Heimat ist.