MokaEfti schrieb: Daher denke ich mir, dass Bedingungen wie in den USA durchaus eine Ueberlegung wert sind. Auch dort gibt es finanzielle Unterstuetzung (Miete, medizinische Grundversorgung...) Daneben eine breite Palette von humanitàren Organisationen, die einen mit Essen, Kleidung, sonstigem versorgen. Ohne Schikane.
Ich weiß nicht, wo du da deine Infos her hast. Ich habe das völlig anders erlebt: Wir hatten Bekannte in den USA, als sie an Krebs erkrankt ist, das aber in ihrer rudimentären Krankenversicherung nicht enthalten war - da wurde jede Chemo privat abgerechnet - am Ende hat sie die Behandlung abgebrochen, da sie wusste, dass es ihr Leben nur verlängern würde und sie ihrem Mann und ihren vier Kindern mehr Schulden aufhalst. Es war eine völlig pragmatische Entscheidung. Aus dem Grund ist sie dann auch daheim gestorben, obwohl ein Palliativzentrum sicher kein Fehler gewesen wäre. Auch das ist ein Gesicht der USA für dich.
Ein weiteres ist die Kündigung von Wohnraum - schuldest du Miete, kommt umgehend die "eviction". Im Boom, wenn auf dem Markt mehr Miete zu erzielen war, folgten die "no-fault evictions". Du bist in den USA schneller obdachlos, als du denkst - besonders betroffen sind die Armen - wen wundert es. Genauso das Einkaufen mit "food stamps". Eben oben beschriebene Bekannte bekam in einer Schieflage für die Food stamps genau zugeteilt, wie viel Milch, Käse etc. sie bekam. Da war nichts mit freier Entscheidung. Auch bei den Hilfsorganisationen herrschte große Willkür, nicht jeder bekam das gleiche, da der Lebensentwurf mit bewertet wurde.
Die USA sind viel, aber nicht gnädig zu den Leuten, die auf der falschen Seite des Lebens stehen ...
MokaEfti schrieb: Ich denke fuer mich, dass der Sozialstaat eh ausgedient hat.
Was schlägst du außerhalb des Sozialstaates vor? Ich persönlich finde den Sozialstaat eine der größten Errungenschaften, die dieses Land hat. Er hilft, einen bestimmten, wenngleich niedrigen, Lebensstandard zu sichern. Er bewahrt Menschen vor Hunger, Obdachlosigkeit, medizinischen Katastrophen.
Natürlich bist du finanziell eingeschränkt - ich habe drei Kinder und einen Mann, der im Eventbereich tätig ist (heißes Pflaster, mal finanziell der Himmel, dann monatelang die Hölle). Wir wurden vor ein paar Jahren wegen Eigenbedarf vor die Tür gesetzt und haben -mehr aus Verzweiflung- eine Immobilie gekauft - für die nächsten zwei Jahre wurde auch jeder Euro umgedreht, jede Klassenfahrt war eine neue finanzielle Herausforderung.
MokaEfti schrieb: Ich will darauf hinaus, dass man nicht jede Hoffnung, die meist mit intrinsischer Motivation verbunden ist, mit dem Verweis auf Alg II kaputt treten sollte. Mir ist bewusst, dass wir hier nicht zusammenkommen werden...
Was meinst du genau damit? Ich finde, intrinsische Motiviation kommt von innen und kann nicht erst mal nicht kaputt gemacht werden, wenn du ein klares Ziel hast.
Mein Lebensweg war auch nicht geradlinig. Ich bin mit 16 wegen einer sehr problematischen Familienkostellation von daheim ausgezogen und habe eine Ausbildung gemacht, aber immer vom Abi und einem Studium geträumt. Die Unterhaltspflicht meiner Eltern war mit der Ausbildung beendet, das wurde von ihnen auch klar kommuniziert und wir hatten fast ein Jahrzehnt kaum mehr Kontakt. Mein Vater hat mir das Kindergeld überwiesen. In manchen Monaten sehr spät, einfach, um ein Machtspielchen zu spielen. Ich mochte die Ausbildung nicht, habe sie aber trotzdem fertig gemacht, damit ich überhaupt was hatte, falls Plan B scheiterte. Mein Freund hat mich dann noch verlassen und ich war echt allein und beschloss - ich ziehe das nun irgendwie durch.
Während des Abis bzw. meiner Gymnasialzeit habe ich glücklicherweise elternunabhängiges Schülerbafög bezogen, es war Rezession, es gab keinen Mindestlohn - das Bafög hat knapp für alle laufenden Kosten gereicht (Miete, Strom) - ich bin morgens in die Schule gelaufen, weil ich keine finanzielle Möglichkeit für eine Schülerbusfahrkarte hatte und habe mich permenent beworben und auch temporäre Jobs bekommen, aber nichts so Festes oder Regelmäßiges. Es war so knapp, dass ich auch für Kleinigkeiten froh war - z.B. hatte ich jeden Samstagabend einen Babysitterjob bei einer reichen Familie, denen es wichtig war, dass ich mit den Kindern zusammen Abend aß, während sie sich fertigmachten. Das war Paradies - es war unglaublich, was die alles in ihrem Kühlschrank hatten.
Im Studium war es dann echt heftig, da ich finanziell auf mich alleine gestellt war - uns es war keine schöne Zeit. Semesterweise habe ich nur überlebt, indem ich nur einmal täglich was gegessen habe - als eine der Strategien. Licht am Ende des Tunnels war immer, dass ich mich nach Studienabschluss finanziell selbst an den Haaren aus dem Sumpf ziehen konnte. Das klappte glücklicherweise. Das war auch mein Ziel. Ich wusste, ich muss das ohne Umwege oder Urlaubssemester durchziehen.
Da waren große Moment des Zweifels dabei. Das Gefühl, nicht durchhalten zu können. Das Gefühl, dass ich es einfach nicht verdient habe, dazuzugehören. Der Frust, wenn man 8km im Regen nach Hause lief, weil man in der Unibibliothek der Partneruni ein Buch holen musste und kein Geld für die S-Bahn hatte, die im 30 Minutentakt fröhlich an einem vorbeifuhr. Der Frust, dass es Mitstudenten an nichts fehlte und die ein Auslandssemester in New York machten, während ich keine Möglichkeit hatte, eine S-Bahn Fahrt von 8km zu finanzieren. Ein kleines, 12qm Kellerzimmer neben dem Friedhof, neben der S-Bahn, die quietschte, in dem ich am Wochenende manchmal 24 Stunden saß, weil ich nirgends anders hinkonnte ... Es hätte viele Gründe gegeben, aufzuhören. Es gab viele schwarze Momente.
Ich kenne durchaus auch die Wut und die Verzweiflung, wenn man sich hilflos einen System unterordnen muss und das Gefühl hat, dass das System mit einem spielt. Ich habe mein Geld in einem Restaurant/Hotel verdient, das regelmäßig bei der Stundenabrechnung geschummelt hat und ich konnte mich nicht wehren, weil ich den Job gebraucht habe, er war meine lifeline und das wurde schamlos ausgenutzt. Er war Fluch (Betrug, niedriges Gehalt, da damals kein Stundenlohn) und Segen (Einkommensquelle, man bekam pro Schicht ein kostenfreies Essen).
Heute bin ich mir selbst dankbar, dass ich praktisch jede Chance, die ich bekommen habe, auch genutzt habe. Dieses Studium war meine Chance, mich beruflich so zu qualifizieren, dass ich heute in festen finanziellen Verhältnissen lebe. Es gab nur eine Chance. Ich musste da an mich selbst glauben. In dem Hotel, wo ich alles machte - von der Rezeption bis zum Zimmermädchen gab es niemanden, der mir sagte "hej, du bist für den Job überqualifiziert". Da gab es eine Vorarbeiterin, deren Job es war, die Quote einzuhalten. Was du in deiner Freizeit machtest, war ihr völlig egal. Dein Leben außerhalb des Jobs war ihr egal.
MokaEfti schrieb: Versucht doch stattdessen mal eure eigenen erfolgreichen Kaempfe zu geniessen und nicht reflexhaft auf andere zu uebertragen! Genau da setzt Empathie an.
Ja und nein. Ich finde, es ist einfacher vor sich selbst, wenn man die Verantwortung auf jemanden anders schiebt bzw. schieben kann. Ich hätte auch aufhören können, weil meine Gesamtumstände es gerechtfertigt hätten (die Finanzierung war so schräg, dass über Jahre war wirklich ein wahnsinniger Stressfaktor).
In meinen Unijahren habe ich festgestellt, dass man in seiner Bedürftigkeit übersehen wird. Ich kann mir vorstellen, dass das auch in anderen Bereichen so ist. Ich habe die Armut auch sehr gut versteckt. Die paar Male, wo ich versucht habe, Hilfe zu bekommen (z.B. bei einer Tafel) wurde ich abgewiesen, weil ich keine Sozialhilfe etc. bekam. Ich kann mich noch gut an die Szene erinnern - ich hatte mich durchgerungen und es hätte echt geholfen, wenn ich einmalig ein bisschen Reis und Gemüse bekommen hätte. Die Frau an der Essensausgabe schaute mich an und sagte "nö, fangen wir gar nicht an! Keine Sozialhilfe, keine Hilfe.". Fertig.
Ich war auf mich allein gestellt. Das tat weh und hat auch große Ängste ausgelöst. Ich hatte ja auch keine Eltern, die ich anrufen konnte und bitten, mal einen Hunderter rüberzuschieben. Jeder Cent musste vernünftig ausgegeben werden und immer war die große Angst da, dass Studiengebühren eingeführt werden, dass eine große Nachzahlung kommt, dass ein teures Buch angeschafft werden muss, dass mein Fahrrad wieder geklaut wird.
Mir war aber klar, dass das Studium eine einmalige Chance auf ein besseres Leben war. Alles Geld, was ich investierte, war für das Studium. Und nur für das Studium. Ich war in meiner Studienzeit ca. dreimal weg, nicht weil ich es nicht anders wollte, sondern, weil kein Budget da war. War ich extrem pleite und hungrig, hatte ich immer eine Packung Notfallspaghetti für 40 Cent im Schrank und machte von Frühling - Herbst mit dem Unkraut Giersch ein Pesto und aß das dann. Mitunter tagelang. Mein Mantra war, dass ich beschlossen hatte, nicht aufzugeben. Und es ging auch immer irgendwie weiter. Ich kann mich durchaus an Momente erinnern, wo ich wütend war: auf meine Eltern, die in einer finanziellen Position waren, dass sie mich hätten unterstützen können, es aber nicht machten, auf die Welt, in die ich hineingeboren wurde, auf meinen Hotelarbeitgeber, der mich so schamlos ausnutzte, weil er wusste, ich konnte mich nicht wehren. Ich kann das nachvollziehen.
Dennoch: Der Schlüssel liegt in einem selbst. Davon bin ich überzeugt. Es gibt in diesem Land Chancen für alle - für die einen mehr, für die anderen weniger. Aber es gibt Chancen.